Gute Besserung

Das Ende von Kuren auf Krankenschein bescherte Bädern und Kurorten eine Krise. Seit die Vertreter ganz unterschiedlicher Bereiche zum eigenen und dem Wohl des Menschen kooperieren, ist der "Heilgarten Deutschlands" auf dem Weg zu einer florierenden Gesundheitsindustrie.




Erinnert sich noch jemand an "Morgens Fango, abends Tango"? An die goldenen Zeiten der fröhlichen Badekur mit abendlichem Schwof? Und daran, wie Mitte der neunziger Jahre plötzlich eine ganze Branche in die Depression taumelte und so mancher Kurstadt- Bürgermeister schon Kulissen wie aus düsteren englischen Arbeiterfilmen vor Augen hatte: Schaufenster, mit Brettern vernagelt. Jugendliche ohne Job, die nachts im Schatten verfallender Kliniken Autos abfackeln.

Es war ein böses Erwachen, gerade für den "Heilgarten Deutschlands". Fünf große Heilbäder, ein Kneipp-Heilbad und 15 Luft- und Kneipp-Kurorte hatten jahrzehntelang auskömmlich vom staatlich alimentierten Kurbetrieb gelebt. Die Bedingungen waren ja auch günstig: die Sommer nicht zu heiß, die Winter nicht zu kalt, die Landschaft spaziergängergerecht sanft geschwungen. Dann machte Horst Seehofers Gesundheitsreform Schluss mit den freigiebig verordneten Heilurlauben auf Krankenschein; in den Kurorten der Region blieben Betten und Theken leer. Allein die Landkreise Minden-Lübbecke, Herford und Lippe mussten zwischen 1995 und 2005 Übernachtungsrückgänge bis zu 36 Prozent verkraften.

Vor Ort sind die Nachwirkungen des "Seehofer-Schocks" noch heute zu spüren. Zwar blieb Bad Salzuflen oder Bad Driburg das Schicksal niedergehender Städte wie Bradford oder Sheffield erspart, aber auf dem langen Weg zwischen Einbruch und Aufbruch sind längst nicht alle Kurorte gleich gut vorangekommen. Die Pioniere liegen gut in der Zeit: Sie haben den Zwang zum Strukturwandel als Chance genutzt, warfen den alten Kurballast ab und positionier-ten sich neu. Die einen reüssieren seitdem als Spezial-Anbieter hochwertiger Rehabilitation, etwa in den Bereichen Orthopädie, Kardiologie oder Neurologie, andere haben ihre medizinische Kompetenz auf Allergien, Tinnitus- Erkrankungen oder Frauengesundheit konzentriert, wieder andere sehen ihre Zukunft im Segment gehobener Wellness-Angebote jenseits von Sauna und Aqua-Gymnastik. Zu Recht: Zwar kommen heute weniger, dafür aber zahlungskräftigere Gäste als in den kurseligen Siebzigern und Achtzigern.

Für die Masse der Institutionen gilt die Entwarnung noch nicht. Ein knappes Jahrzehnt nach der Reform nennt der Report "Gesundheitswirtschaft in Ostwestfalen-Lippe" die Wirkungskraft so mancher Maßnahme "eher enttäuschend". Das Papier kritisiert viele Bemühungen vor Ort als "nicht zielscharf und kundenorientiert", die Aktivitäten würden "nicht ausdauernd genug verfolgt". Eine gemeinsame Vermarktungsstrategie der Kurorte gebe es nach wie vor nicht. Der Heilgarten OWL, sei ­ zumindest stellenweise ­ eine "Marketing-Diaspora".

Glücklicherweise hat Ostwestfalen-Lippe in puncto Gesundheit weit mehr zu bieten als nur die Hälfte aller Bäder und Kurorte in Nordrhein-Westfalen. Die Region ist ein weit verästeltes Cluster mit starken Zentren. Hochleistungsmedizinische Spezialkliniken wie das Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen oder das größte deutsche Epilepsiezentrum im Evangelischen Krankenhaus Bielefeld haben das Standortprofil erweitert und neue Kompetenzfelder jenseits der Kur erschlossen. Von ihnen profitieren wiederum zahlreiche Hersteller von Medizintechnik.

Jedes zweite deutsche Krankenhausbett wird in der Region gefertigt; von hier kommen Rollstühle, Treppenlifte und komplexe Lichtlösungen für Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Auch ehemals "fachfremde" Firmen aus dem starken Maschinenbau oder der Kunststoff verarbeitenden Industrie produzieren inzwischen medizintechnische Produkte. An der Universität Bielefeld findet sich Deutschlands einzige Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Und das Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst des Landes NRW baut mit dem Deutschen Zentrum für Public Health Genomics an der Fachhochschule der Stadt ein Netzwerk zum Gesundheitsfaktor Genom auf. Die Ergebnisse der Kooperation sollen als gesundheitspolitische Gestaltungsempfehlungen für die EU-Kommission dienen.

Ob Klinik oder Handwerk, Praxis oder Wissenschaft, alle liefern Impulse für das Wachstum der Region ­ und bilden mit Blick auf die Arbeitsplätze schon heute die stärkste ostwestfälische Industrie. Zwischen Versmold und Höxter arbeiten rund 117000 Menschen in und für die Gesundheit, kein anderer Bereich bietet mehr Arbeitsplätze, keiner entfaltet eine ähnliche Dynamik: Während zwischen 1999 und 2005 insgesamt 30000 Arbeitsplätze verloren gingen, legte die Gesundheitswirtschaft um 7000 Stellen zu. Vollzeitarbeitsplätze ­ der Anteil von Mini-Jobs, Ein-Euro-Jobs und anderen "geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen" ist mit 12,7 Prozent nicht sonderlich hoch.

In Zukunft dürfte der Job-Motor erst richtig auf Touren kommen ­ die Indus-trie zählt zu den expansivsten Wirtschaftsbereichen des Landes. Die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young schätzt, dass sich das Umsatzvolumen in der Gesundheitswirtschaft deutschlandweit von derzeit 240 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 auf rund 500 Milliarden mehr als verdoppeln wird. Davon profitieren erfahrungsgemäß besonders Standorte, die bereits gut aufgestellt sind und über funktionierende Netzwerke verfügen.

Gut für OWL, denn in puncto Zusammenarbeit macht der Branche vor Ort so leicht keine andere Industrie etwas vor. Wichtige Akteure haben die Weichen für ein größeres Ganzes gestellt ­ in den vergangenen Jahren wurden eine Reihe von Einzelprofilen zu Kompetenz- netzwerken verwoben.

Marktplatz für Kooperations-Kontakte ist das Zentrum für Innovation in der Gesundheitswirtschaft (ZIG). Die 1999 von mehr als 30 Partnern aus Kliniken, Firmen und Hochschulen gegründete Netzwerkagentur organisiert Foren, pro- filiert OWL nach außen als kraftstrotzende Gesundheitsregion und regt ständig neue Wege der Zusammenarbeit an. Schon seit geraumer Zeit verzahnen Akutkrankenhäuser und Reha-Kliniken ihre Behandlungsstrategien; jetzt holen sie auch die niedergelassenen Ärzte mit ins Boot. Moderne Klinikverbünde und Gesundheitszentren entstehen, Krankenhäuser und Medizintechnikhersteller arbeiten gemeinsam an technischen Innovationen für den Klinikbetrieb. Das ZIG initiierte auch das Europäische Zentrum für universitäre Studien der Senioren Ostwestfalen-Lippe, Deutschlands erste "Senioren-Uni".

Gemeinsam soll OWL gesund werden und wachsen, so lautet das ehrgeizige Ziel. Wie das vor Ort konkret aussehen kann, zeigt eine Stippvisite bei ausgewählten Netzwerkern der Gesundheitsindustrie.

DER MEDIZINTEMPEL

Das weltweit größte Herz- und Diabeteszentrum HDZ NRW in Bad Oeynhausen gehört zu den Leuchttürmen der Hochleistungsmedizin. Der Komplex aus vier Spezialkliniken nimmt eine internationale Spitzenposition in Sachen Kunstherzen ein; viele Herzimplantate, darunter das vollständig künstliche sowie ein schlagendes Herz, wurden hier weltweit erstmals eingesetzt. Jahr für Jahr absolvieren die Chirurgen rund 4500 Eingriffe ­ bei Patienten aus aller Welt. Neun von zehn Kranken kommen von außerhalb der Region.

Anfang der achtziger Jahre, als das Klinik-Ensemble zur wirtschaftlichen Stabilisierung des staatlichen Kurbades Oeynhausen in die Abgeschiedenheit der Provinz gewürfelt wurde, hatte man große Sorge, ob wohl genug gute Ärzte in die medizinische Diaspora fänden. Heute reagiert HDZ-Geschäftsführer Professor Otto Foit ausgesprochen entspannt und selbstbewusst auf die Frage nach der Attraktivität als Arbeitgeber. "Wir haben viele Oberärzte bei uns, die kein Problem gehabt hätten, anderswo Chefarzt zu werden", sagt er. "Sie sind trotzdem zu uns gekommen. Und sie sind hier geblieben."

Im vergangenen Jahr, erzählt Foit, sei ein kommunales Krankenhaus aus der Region an ihn herangetreten. Ein Konkurrent des HDZ, so erfuhr er, wollte der Klinik einen Herzkatheterplatz spen- dieren. Foit wusste, dass die Kollegen keine kardiologische Abteilung hatten und deshalb mit dem teuren Großgerät allein nicht allzu viel anfangen könnten. Er machte einen besseren Vorschlag: "Kaufen Sie sich die Herzkathetereinrichtung selbst, dann sorgen wir dafür, dass Sie telemedizinisch bei uns angebunden und fachlich trainiert werden." Von dem Arrangement profitieren inzwischen alle Beteiligten: Die kommunale Klinik zieht neue Patienten an, das HDZ als Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum wächst und steigert erneut seine Attraktivität ­ und die Kranken freuen sich über eine verbesserte Behandlungsqualität, weil die Mediziner aus beiden Häusern per Datenleitung jeden Patientenfall, sei es bei der Untersuchung oder im Operationssaal, im Konsil angehen.

Auf Unterstützung modernster Datenübertragungstechnologie setzt das HDZ schon seit Jahren: Das Institut für angewandte Telemedizin (IFAT), ein medizinisches Servicecenter, bringt den kleineren Allround-Kliniken der Region seit 2003 die Kompetenz eines kardiologischen Spezialzentrums ins Haus; das Kardiologische Callcenter trägt Spitzenmedizin in die Breite. "Wenn die Kollegen vor Ort nicht weiterwissen oder eine Meinung einholen wollen", erklärt Professor Dieter Horstkotte, Direktor der Kardiologischen Klinik am HDZ, "haben sie rund um die Uhr Zugriff auf unsere Spezialisten, die ihnen den Patienten notfalls abnehmen können."

Was als Einzel-Kooperation begann, wächst inzwischen zu einem telemedizin-basierten Kardiologie-Netzwerk unter Krankenhäusern und Ärzten der Region heran. Mit fünf Kliniken hat das IFAT bereits Kooperationsverträge abgeschlossen, die auch den Austausch von Assistenzärzten umfassen. Weitere Kliniken stehen auf der Bewerberliste. Mittlerweile hat das IFAT auch mehr als 100 niedergelassene Arztpraxen unter Vertrag, die ihre kardiologische Diagnostik über das HDZ abwickeln. Die Oeynhauser Telemediziner organisieren für sie den Transfer von Patientendaten, EKG oder Laborwerten zu den Experten im HDZ.

Der "lange Arm" der Telemedizin reicht heute sogar bis zu den Patienten nach Hause. Übers IFAT werden sie ­ etwa nach einem Infarkt oder einer Herzoperation ­ daheim als Patienten weitergeführt, online beraten und überwacht. Mit den entsprechenden Gerätschaften versehen, können sie EKG, Puls, Blutdruck und andere Daten direkt an die Ärzte nach Bad Oeynhausen übermitteln ­ theoretisch sogar von einer Himalaya-Expedition, vorausgesetzt dort funktioniert ein Handynetz. Das "House Monitoring" hilft, Kosten zu sparen, steigert die Lebensqualität des Patienten, der sich trotz Erkrankung frei bewegt ­ und optimiert die Behandlungsqualität: Wer rund um die Uhr telemedizinisch versorgt ist, ist auch nonstop überwacht und wird von den Medizinern schon mal an die Rehabili- tationsziele erinnert, falls man ihn bei nachlässigem Heim-Training ertappt.

DIE BETTENSCHMIEDE

Kostenoptimiertes Betten-Management ist ein etwas sperriger Begriff für eine einfache Sache. Aus Sicht eines Klinikdirektors ist jedes Krankenhausbett ein Investitionsgut; es kostet im Schnitt 2000 Euro und "verdient" nur so lange Geld, wie ein Patient darin liegt. Während Betriebswirte in den Kliniken landauf, landab an diversen Stellschrauben zur Optimierung der Auslastung drehen, arbeitet die Joh. Stiegelmeyer Gruppe aus Herford am Grundsatzproblem: Die meisten Häuser kennen nicht einmal ihren Bettenbestand.

"Sie wissen nicht, wie viele Betten sie haben, in welchem Zustand sie sich befinden und wo sie gerade stehen", sagt Lars Schröder, Produktmanager bei Stiegelmeyer, dem Marktführer bei Betten für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Weil es am Überblick fehlt, werden meist sämtliche Betten aufwendig gereinigt und desinfiziert, unabhängig davon, welcher Patient mit welcher Diagnose zuvor darin lag. Die Komplettreinigung eines Bettes aber ist teuer ­ und beispielsweise völlig unnötig für den Fall, dass es ein Kranker mit einem verstauchten Fuß einige Minuten lang belegt. "Oft läuft so ein Bett weit häufiger als nötig komplett durch die Waschanlage", sagt Schröder. "Das fällt aber niemandem auf, weil es nirgends dokumentiert wird."

Eine Kooperation aus Medizintechnik, IT-Dienstleistern und Krankenhaus verspricht jetzt Transparenz in der Bettenfrage ­ und leistet damit einen Beitrag zu den Spar-Anstrengungen, an denen heute keine Klinik vorbeikommt. In Zusammenarbeit mit Siemens Business Services und der Mindener Software-Firma Midland IT testet Stiegelmeyer in den Städtischen Kliniken Bielefeld zurzeit ein neues System, mit dem sich der Weg jedes Bettes per Funkerkennung lückenlos durch das Krankenhaus nachvollziehen lässt. Dabei funkt ein ins Bett integrierter Chip an den Ein- und Ausgängen der Stationen und in der zentralen Bettenaufbereitung seine Informationen an eine zentrale Datenbank.

Beim Passieren des Lesegeräts erkennt das System, wie lange das Bett nicht mehr gereinigt wurde ­ und gibt automatisch eine Anweisung über die erforderliche Aufbereitung. War das Bett nur einen Tag auf der Station, reicht eine einfache Reinigung aller Flächen, mit denen der Patient Kontakt hatte. Nach drei Tagen ist in jedem Fall eine Rundum-Desinfektion fällig.

Auch nötige Reparaturen und Wartungs- intervalle sind in der Software hinterlegt. Sie werden bei der Ankunft des Bettes in der Aufbereitung automatisch angezeigt ­ wie bei Autos die fällige In-spektion auf dem Armaturenbrett. Das System verschafft der Klinik jederzeit Überblick über Zahl und Zustand der Betten im Haus und gibt Antwort auf kostenrelevante Fragen: Ist der Bestand überhaupt angemessen? Haben wir womöglich zu viele Betten? Läuft der Trans- port von der Station zur Aufbereitung und retour optimal? Wie steht es um die Beschaffung: Welche Ersatzteile müs- sen dringend bestellt werden?

Auf der Kurzzeitpflegestation des Bielefelder Test-Krankenhauses hat sich das System bewährt. Jetzt wird der Versuch auf zwei große Stationen ausgeweitet. Stiegelmeyer-Geschäftsführer Ralf Wiedemann verspricht den Kliniken schon jetzt erhebliches Einsparpotenzial. "Dass Betten wochenlang im Keller oder auf den Gängen herumstehen, wird es mit unserem System nicht mehr geben. Wir rechnen mit eindeutigen Ergebnissen beim Return on Investment."

DIE SIEDLUNGSNETZWERKER

Wie sieht die Antwort des Wohnungsbaus auf den demografischen Wandel aus? Spielplätze und Schulen abreißen und an ihrer Stelle Altenheime und Seniorentreffs bauen? "Nur das nicht", wehrt Michael Seibt ab. "So entstehen Quartiere, in denen nur noch Rentner wohnen. Das wollen nicht mal die Alten." Seibt, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei der Bielefelder Baugenossenschaft Freie Scholle, hat die passende Statistik parat: 80 Prozent der über 50-Jährigen wollen nicht ausschließlich Senioren als Nachbarn haben.

Die Antwort der Freien Scholle heißt "lebensgerechtes Wohnen" ­ Alte und Junge, Singles und Paare, Wohngemeinschaften und Familien, Gesunde und Hilfsbedürftige zusammen in einer Siedlung. Über Konzepte wie diese wird viel nachgedacht ­ sie werden vermutlich nirgendwo sonst im Land so konsequent verfolgt wie in Bielefeld. In der Stadt, in der sich die einzige deutsche Demografiebeauftragte offiziell Gedanken über Leben und Alter macht, realisieren Baugenossenschaft und andere Wohnungsbauträger wie die Bielefelder Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft oder auch das Johanneswerk im Stadtteil die Idee des generationenübergreifenden Wohnens.

Wenn die Freie Scholle eine neue Siedlung baut oder ein Wohngebiet modernisiert, schafft sie nicht nur Angebote für Bingo, Fußpflege und Nachmittagskaffee, sondern sorgt stets auch für Kinderspielplätze und gute Erreichbarkeit von Kitas. In einem Fall sogar dafür, dass das Büro der Hebammenzentrale im Nachbarschaftszentrum unterkommt. "Wir ermöglichen es unseren Genossenschaftsmitgliedern, ihr ganzes Leben in der gleichen Siedlung zu wohnen, wenn sie wollen", erklärt Michael Seibt, "auch wenn sie gebrechlich und pflegebedürftig werden, müssen sie nicht umziehen." Dann wird eben die Wohnung angepasst, mit Rampen, breiteren Türen oder ebenerdigen Eingängen und Duschen.

Das Siedlungsgebiet Spindelstraße mit 560 Quartieren gilt als beispielhaft für die Umsetzung des lebensgerechten Wohnens, als Modellprojekt für funktionierende Netzwerke in der Nachbarschaft. Hier finden sich alten- und familiengerechte Einheiten in derselben Siedlung, im selben Haus, Tür an Tür. Vor 20 Jahren verströmte das Schlichtwohnungsrevier aus den Fünfzigern den pittoresken Charme von Kohleöfen und frei stehenden Badewannen. Damals zog jährlich fast ein Drittel der Bewohner aus. Die Freie Scholle legte einen Großteil der Klein- und Kleinstunterkünfte zu familiengerechten Wohnungen zusammen, aus dem Rest entstanden barrierefreie Einheiten für ältere Genossenschaftsmitglieder mit Handicap, samt neuer Bäder, Küchen und Balkone. Heute liegt die jährliche Fluktuation unter zehn Prozent.

Weil die gute Nachbarschaft mit alten, pflegebedürftigen Menschen mehr erfordert als ein waches Auge der jüngeren Generation, gibt es vor Ort organisierte Hilfe. Wer Unterstützung braucht, bekommt sie von Zivildienstleistenden oder von Service-Mitarbeitern der Freien Scholle, die selbst in der Siedlung wohnen. Sie helfen beim Wäschewaschen, Einkaufen oder bei Fahrdiensten zum Arzt oder Friedhof. "Wir wollen aber keine Überversorgung wie im Altersheim", sagt Michael Seibt. "Jeder soll möglichst selbst erledigen, was er ohne Mühe schafft." Und wenn er sich mal nicht gut fühlt? "Dann ist beim Einkaufen eben auch mal die Nachbarin gefragt, die besser zu Fuß ist."

DER BLAUBLÜTIGE SANIERER

Der Ruf des Vaters, er möge doch nach Hause kommen, erreichte den Grafen in Mailand. Nach Hause, das war Bad Driburg. Dort wachte der damals 70-jährige Caspar Graf von Oeynhausen-Sierstorpff in siebter Generation über die Bade- und Brunnenbetriebe, ein Unternehmensverbund aus drei Kurkliniken, Mineralwasserbrunnen und Kurhotel. Marcus Graf von Oeynhausen-Sierstorpff war damals 34 und leitete für den Whirlpool-Konzern den europäischen Vertrieb. 1995 kam er zurück und übernahm die Regie über den Familienbetrieb. "Ich war kaum hier, da brach alles zusammen", sagt er heute. Das elterliche Unternehmen, weitgehend auf den klassischen Kurbetrieb ausgerichtet, litt schwer unter den Folgen der Seehofer'schen Gesundheitsreform, die Kuren auf Krankenschein einschränkte. Innerhalb von nur drei Monaten kündigten die umliegenden Kliniken alle seit Jahrzehnten bestehenden Belegungsverträge mit dem Kurhotel. Der junge Chef stand plötzlich mit 185 statt mit 65 Zimmern da. Die meisten blieben leer.

Von Oeynhausen-Sierstorpff leitete ein umfassendes Sanierungsprogramm ein, die Tage von "Morgens Fango, abends Tango" waren gezählt. Als Erstes baute er die drei Kliniken um und verschaffte ihnen ein markantes Profil: "Die Patienten wurden ja nicht mehr wie früher zu uns geschickt, wir mussten auf einmal um jeden Gast werben." Der Graf setzte auf Rehabilitation in Spitzenqualität. "Wir haben uns von allem, was kurmäßig aufgestellt war, getrennt und die Häuser in Fachkliniken umgewandelt." Heute sind die ehemaligen Kurkliniken erste Adressen für Rehabilitation in den Bereichen Kardiologie, Orthopädie, Neu- rologie und Schwerstverbrennungen ­ und Bad Driburg gilt als Musterbeispiel für den Turnaround eines verschlafenen Kurstandortes. Wenn das ZIG heute "deutliche Erfolge bei den Modernisierungsanstrengungen der Heilbäder" verbucht, "die vor allem im Bereich der Spezialisierung und Gewinnung neuer Zielgruppen, auch im Bereich des Selbstzahlermarktes liegen", ist damit primär Bad Driburg gemeint.

Vor gut anderthalb Jahren kaufte von Oeynhausen-Sierstorpff, dessen Unternehmensgruppe mittlerweile mehr als 1000 Mitarbeiter beschäftigt, eine ehemalige Kurklinik im benachbarten Bad Hermannsborn hinzu. Die will er jetzt zum ersten verkehrsmedizinischen Kom- petenzzentrum in Deutschland umbauen. Das Konzept steht, auch für die ergänzende Infrastruktur ist gesorgt: Mit dem Bilster Berg, einem ehemaligen Munitionsdepot der britischen Armee nur wenige Minuten von Hermannsborn entfernt, verfügt der Unternehmer seit vorigem Jahr über eine 4,3 Kilometer lange Test- und Präsentationsstrecke abseits des öffentlichen Straßenverkehrs. In Kooperation mit der Hermannsborner Klinik und anderen Reha-Einrichtungen der Region sollen hier nach den Plänen des Grafen unter anderem Schwerstverletzte und Unfalltraumatisierte in geschützter Umgebung allmählich wieder an den Straßenverkehr herangeführt werden.

Als Herr über ein wachsendes Reha-Imperium registriert Graf Oeynhausen naturgemäß mit Sorge, dass dem Land nach wie vor zu viele Patienten verloren gehen. Jährlich "exportiert" Nordrhein-Westfalen etwa 115000 Reha-Fälle in andere Bundesländer, vor allem nach Bayern. Thomas Brand, Chefarzt der Neurologie in der zur Unternehmensgruppe zählenden Marcus-Klinik in Bad Driburg, brachte das auf die Idee für das Projekt "Brückenschläge", an dem sich jetzt schon mehr als zehn Klinikträger aus OWL beteiligen.

Dahinter verbirgt sich das Ziel, die bisher höchst sporadische Kooperation zwischen den Heilbädern der Region und der stationären und ambulanten medizinischen Versorgung im Ruhrgebiet zu intensivieren. "Zwischen Duisburg und Dortmund gibt es so viele Krankenhausbetten wie nirgends sonst in der Republik", erklärt Brand, "und hier bei uns haben wir hoch leistungsfähige Reha-Kliniken in einmaliger Dichte. Beides wollen wir zusammenführen." Dem Grafen schwebt derweil schon die nächste Vernetzungsstufe vor: eine "in sich geschlossene medizinische Wertschöpfungskette" ­ von der Akutversorgung in den Ruhrgebiets-Krankenhäusern zu den Reha-Kliniken in OWL und von dort zurück zum Hausarzt am Wohnort des Patienten.

DER ERNÄHRUNGSPAPST

Professor Diethelm Tschöpe braucht nicht viele Worte, um zu erklären, welch schweren Stand er als Ernährungsmediziner mitunter hat. Manchmal reichen dem Direktor des Diabeteszentrums am Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen schon zwei Fotos, die er mit dem Beamer an eine Wand projiziert. Die mit der Hähnchenbrust zum Beispiel.

Zu sehen ist jeweils ein Teller mit einer fertig angerichteten Mahlzeit: Hähnchen-brustfilet mit Kartoffeln und Möhrengemüse. Die erste Aufnahme präsentiert das Fleisch ausgesprochen appetitanregend in knusprig-goldener Panade, die Kartoffeln sind wunderbar kross gebraten und glänzen vor Fett. Leider strotzt das Gericht auch vor schädlichen Glykierungs-Endprodukten (AGE). Nach der Mahlzeit verengen sich die Adern, die Durchblutung verschlechtert sich, auf Dauer können sich gefährliche Ablagerungen bilden.

Dann zeigt Tschöpe das zweite Foto, auf dem die gleichen Zutaten zu einem AGE-armen Schonkost-Ensemble aus blässlich gedünsteten Fleischlappen und einem traurigen Häuflein Salzkartoffeln zusammengefügt sind. Man sieht's, hört die Worte Tschöpes, der die Vorzüge des Kochens und Dünstens preist und denkt unwillkürlich an "Diät" und "Krankenhaus". "So ist das mit der Ernährungsmedizin", sekundiert der Experte dann leise seufzend, "die hat immer so eine leicht säuerliche Anmutung."

Wie kann der Patient von der medizinischen Expertise profitieren ­ und wie die Industrie, die an ihm verdienen will?, fragt sich der Diabetes-Forscher, der 2003 von Düsseldorf in die Region kam, ständig. Gibt es Projekte, die man mit Nahrungsmittelherstellern in Angriff nehmen kann? Lassen sich gemeinsam Märkte schaffen, entdecken, erschließen ­ und dabei zugleich die Gesundheit und das Wohlbefinden fördern? Tschöpe denkt da zum Beispiel, aber längst nicht nur an die steigende Zahl alter Menschen, die durchweg kleinere Portionen und eine andere Zusammensetzung der Mahlzeiten benötigen.

Im Supermarkt fand er kein entsprechendes Angebot, obwohl die Regale heute voll sind mit kalorienarmen, fettreduzierten Fertiggerichten ­ weniger Zucker, weniger Fett und weniger Cholesterin heißt eben noch lange nicht gesundheitsfördernd. Zwar ist die Industrie in puncto seniorengerechter Kost inzwischen durchaus vorangegangen ­ allerdings nur bei Portionsschälchen für greise Hunde und Katzen.

Tschöpe versuchte es deshalb bei Unternehmen aus der Region ­ und stieß auf eine Reihe von Vorbehalten. Unterm Strich befürchteten die Hersteller wohl, dass sich gesundheitsfördernde Produkte nicht verkaufen. "Sie sehen es auch nicht unbedingt als ihre Aufgabe an, das Bewusstsein ihrer Kunden in diese Richtung zu lenken", hat der Diabetologe und Gesundheitsökonom gelernt.

Bei der Teutoburger Ölmühle aus Ibben- büren fand der Mediziner inzwischen Gehör. Das Resultat der ersten regionalen Kooperation zwischen Ernährungsmedizin und Ernährungswirtschaft heißt "Dr. Raß's Omega-Öl 3-6-9", ist reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren und damit besonders geeignet zur Vorbeugung von Gefäßkrankheiten, Übergewicht und Diabetes. Tschöpe hofft jetzt auf einen Synergieeffekt in der Nahrungsmittelwirtschaft, auf Nachahmer, vielleicht auch unter den Großen der Branche. Dr. Oetker, Wiesenhof und der Feinkostspezialist Kühlmann sitzen in der Region, zum Beispiel.

Immerhin: Für die Zubereitung und Pro- duktion entsprechender Portionsgrößen ist er schon mit Melitta und Miele im Gespräch. Das, was sie füllen soll, ist das Problem. Der Forscher wird weiter daran arbeiten, keine Frage. Aber Diethelm Tschöpe ist auch Realist ­ und der weiß: Beim Thema gesunde Ernährung unterscheiden sich Hersteller und Patienten wenig: "Wenn Sie in diesem Bereich etwas bewegen wollen, brauchen Sie einen sehr langen Atem."