Justizvollzugsanstalt Herford

Nachts in der Zelle, tagsüber bei der Arbeit. In Nordrhein-Westfalen geht das. Im bevölkerungsreichsten Bundesland der Republik hat fast jeder vierte verurteilte Straftäter eine Beschäftigung. Einer hat die Chance des offenen Vollzugs sogar genutzt, um sich während der Haftzeit ein Restaurant aufzubauen. Zu Gast in Herford.




Wer das Restaurant "Quartier Lounge" am Herforder Gänsemarkt betritt, entdeckt ihn vielleicht nicht sofort. Doch spätestens beim Hinausgehen fällt er ins Auge, der seltsame Wandschmuck neben der Eingangstür. Ein Paar Handschellen hängt da, in Miniaturausführung, mit einem kleinen Nagel ist daran ein hölzerner Kochlöffel befestigt, an dessen Stiel ein Zettel baumelt. Darauf steht: "Schön, dass Du diese Zeit nun an den Nagel hängen kannst. Petra und Peter."

"Die haben mir Hauptwachtmeister Bubig und seine Frau zur Entlassung geschenkt", erzählt Restaurantchef René Christofferson. Ein Polizist bastelt also einem verurteilten Straftäter ein liebevolles Präsent, als Glückwunsch zur wiedergewonnenen Freiheit ­ das ist kurios und insofern schon wieder fast normal in der kuriosen Geschichte der Quartier Lounge, seiner Gäste, vor allem aber der ihres Besitzers, den alle nur René nennen.

Es ist eine Geschichte über Toleranz. Darüber, dass jemand eine Chance bekommt und sie nutzt. Und ein Erfolgsbeispiel offenen Strafvollzugs. Denn René Christofferson hat sein kleines Restaurant aus der Haft heraus aufgebaut, als Freigänger der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne, Außenstelle Beckum. Er hat sich tagsüber eine Fan-Gemeinde erkocht, wie sie treuer nicht sein könnte, und ist nachts zurückgekehrt in seine Zelle. Seit seiner vorzeitigen Entlassung im November vergangenen Jahres betreibt er sein Geschäft als freier Mann.

Man könnte das eine durch und durch positive Geschichte nennen, stünde nicht an ihrem Anfang eine Tragödie. Sie ereignet sich am 4. Mai 2003, im Sportpark Waldfrieden in Herfords Südosten. René Christofferson führt dort seit einigen Jahren das Clubrestaurant des Tennisvereins TC Herford. Nicht alle wissen, dass der Mann in der Sterne-Gastronomie gearbeitet hat, im "Schiffchen" in Düsseldorf, im "Tantris" in München. Aber sie wissen, dass es schmeckt bei ihm. Manche kommen auch nur auf ein Bierchen an der Theke, weil sie die lockere Art des Wirtes schätzen, der vom Niederrhein stammt. So ist der Laden Treffpunkt für viele, die mit Tennis gar nichts am Hut haben.

Einer, der regelmäßig auftaucht, allerdings nicht zu Renés Lieblingsgästen zählt, ist an diesem Abend auch da. Der Mann ist Anfang vierzig, trinkt zu viel, wird schon mal ausfallend. René kennt ihn und seine Frau schon länger ­ und weiß manchmal nicht, wer ihm mehr leidtun soll: der Typ oder seine Partnerin. Irgendwann, so gegen 22 Uhr, will René schließen. Doch der besagte Gast, der schon am Nachmittag gekommen war und nun der letzte und ziemlich betrunken ist, weigert sich zu gehen. Unter der Bedingung, dass danach Schluss ist, gibt ihm René noch einen Ramazzotti aus und setzt sich zu ihm an den Tisch. Währenddessen ruft er die Frau seines Gastes an, sie möge ihn abholen, versucht es auch bei einem gemeinsamen Bekannten ­ aber keiner mag kommen. Als René schließlich für sich selbst ein Taxi ruft, es also ernst wird mit dem Rausschmiss, fallen beim Gast die letzten Hemmungen: Er pinkelt dem Wirt unterm Tisch ans Bein. Der springt auf, packt den Mann, zerrt ihn zur Tür und befördert ihn nach draußen, indem er ihm mit dem Knie einen heftigen Stoß ins Hinterteil versetzt. Der Betrunkene stürzt, der Wirt hört ihn noch "Bring mich doch um!" schreien, da fährt bereits das Taxi vor. René steigt ein und lässt sich in die Innenstadt bringen.

Am nächsten Morgen, nur wenige Hundert Meter vom Clubrestaurant entfernt, findet der Platzwart einen Toten. Der Mann liegt mit bloßem Oberkörper direkt unter einem der Wasserhähne für das Sprengen der Aschenplätze. Es handelt sich um René Christoffersons letzten Gast vom Vorabend.

So schildert es René. So habe er es damals auch der Richterin am Landgericht Bielefeld geschildert, sagt der 44-Jährige. "Aber die kam gar nicht auf die Idee, dass irgendetwas davon stimmen könnte. Für die war ich schuldig, von Anfang an. Ich würde auch niemals behaupten, dass ich unschuldig bin, denn ich habe Gewalt angewendet. Aber ich habe niemanden umgebracht, das weiß ich."

Er selbst sei es doch gewesen, betont er, der zur Polizei gegangen sei, um zu erzählen, was passiert war ­ woraus dann ein achtstündiges Verhör wurde. Er habe nicht mal einen Anwalt haben wollen zu Anfang. Als es dann zur Verhandlung kam, ließ er sich von einem Bekannten vertreten, der Erfahrung in Scheidungs- und Familienrecht hatte. Erst für die Revision nahm sich René Christofferson einen ausgewiesenen Strafrechtler. Zu spät, das Urteil wurde rechtskräftig: gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge. Vier Jahre, neun Monate.

Nun könnte diese Geschichte traurig weitergehen, eine typische Talfahrt beschreiben, mit einem Leben hinter Mauern, dem Verlust jeder beruflichen wie privaten Perspektive. Tatsächlich wird René vom Betreiber der Tennisanlage wenige Tage nach der Tat fristlos gekündigt. Und er hat wahnsinnige Schuldgefühle wegen seiner sechsjährigen Tochter. Doch er weiß, dass er sich auf seine Freundin Brigitte verlassen kann, die selbst drei Kinder in die Patchwork-Familie mitbringt und zu ihm stehen will. Beide beginnen, sich mit dem Thema Haft zu beschäftigen, und eine Hoffnung keimt auf, bei aller Verzweiflung. Sie heißt: offener Vollzug.

Die Aussicht eines Verurteilten auf ein Gefängnis ohne Gitter, mit freier Bewegung innerhalb des Gebäudes und der Möglichkeit, außerhalb der Anstaltsmauern einer Arbeit nachzugehen, soziale Bindungen zu pflegen, ist neben Berlin nirgendwo so hoch wie in Nordrhein-Westfalen. Fast ein Viertel der Gefangenen hier befindet sich im offenen Vollzug. In Bayern sind es nur knapp acht von hundert. Strafvollzug ist Ländersache. Wie streng oder locker er gehandhabt wird, ist abhängig von Tradition, jeweiliger politischer Führung und aktueller Stimmungslage, wie die Diskussion um das Jugendstrafrecht gerade wieder gezeigt hat.

Bundesweit betrachtet, geht der Trend in den vergangenen Jahren zurück zum geschlossenen Vollzug, NRW aber hält an seiner liberalen Handhabung fest. "Der offene ist bei uns laut Gesetz Regelvollzug, sollte also eigentlich die Regel sein, nur ist leider nicht jeder dafür geeignet", sagt Rolf-Joachim Roth, Leiter der Justiz- vollzugsanstalt (JVA) Bielefeld-Senne. Der 64-jährige Jurist meint das "leider" ganz ernst, Roth nennt sich "Überzeugungstäter", er arbeitet seit Beginn der achtziger Jahre im offenen Vollzug. Was aus seiner Sicht dafür spricht? "Alles!" Auch wenn jede Straftat, die während des offenen Vollzugs begangen werde, eine zu viel sei, auch wenn er bei jedem Missbrauch unter Rechtfertigungszwang stehe ­ diese Vollzugsform sei die beste, um den gesetzlichen Resozialisierungsauftrag zu verwirklichen: "Die Gefangenen können Kontakt zur ihren Familien halten, was enorm wichtig ist. Und sie können Arbeitsverhältnisse eingehen. Sie bleiben im Leben."

Für jemanden wie Roth kann es keine erstrebenswertere Station für den letzten Berufsabschnitt geben als Bielefeld-Senne. Die JVA nimmt nicht nur in Nordrhein-Westfalen eine herausragende Stellung ein, wo sie mit 1358 Plätzen weit mehr als ein Drittel aller landesweiten Haftplätze im offenen Vollzug stellt (bezogen auf männliche Erwachsene); es gebe weltweit kein Beispiel, sagt Roth, wo in so großem Stil und mit so langer Tradition auf diese Vollzugsform gesetzt wird.

100 Jahre Praxis ­ und 1000 beteiligte Betriebe

Dabei bilden nicht etwa liberale Ideen den Ursprung. Entstanden ist die Praxis aus der Not. Ende des 19. Jahrhunderts galt es, in der Region große Flächen Ödland zu kultivieren, um den Hunger der Menschen zu stillen. Moore trockenlegen, Heidelandschaften umpflügen ­ die Bauern schafften das nicht allein. Und so richtete am 1. April 1898 der Landrat des Kreises Wiedenbrück die Bitte an das Zuchthaus Münster, man möge ihm Gefangene als Hilfskräfte zur Verfügung stellen ­ doch Münster lehnte das ungewöhnliche Anliegen ab.

Beim nächsten Versuch zwei Jahre später klappte es. Münster schickte 20 Inhaftierte, kurz danach kommandierte die Strafanstalt Herford rund 30 Häftlinge ab. Die Arbeit war hart, aber die Männer bewährten sich, und so begann man, bei den Landwirten dauerhafte Unterkünfte für die Gefangenen einzurichten, zunächst auf dem Hof von Bauer Meierkord in Lintel und dem Gut des Ökonomierats Beckmann in Röckinghausen. Als acht weitere Arbeitsstellen hinzukommen, stellt das Preußische Justizministerium zum 1. Juni 1907 in Rheda zwei Inspektionsbeamte ab, die den Betrieb organisieren sollen. "Das war in verwaltungsmäßiger Hinsicht die Geburtsstunde der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne", sagt Roth.

Heute, ein Jahr nach ihrem hundertjährigen Jubiläum, ist die Anstalt ein über die Grenzen Ostwestfalens hinaus verzweigtes Geflecht von kleinen offenen Gefängnissen. Neben dem Haupthaus in Senne gibt es insgesamt 16 Außenstellen. Von außen wirken die meisten wie normale Mietshäuser. Aber drinnen sorgt Wachpersonal dafür, dass die Regeln eingehalten werden: kein Alkohol, Nachtruhe, pünktliches Erscheinen zum Dienst, pünktliche Rückkehr. Bei Nichteinhaltung droht den Insassen sofortige Verlegung in den geschlossenen Vollzug.

Die Zahl der Firmen, zu denen die Häftlinge ausrücken, ist auf rund 1000 gewachsen. Das Gros bilden mittelständische Betriebe, vornehmlich aus Holzverarbeitung, Maschinenbau, Garten- und Landschaftspflege. Mit Namen hält sich die Anstaltsleitung bedeckt, aber wer ein bisschen herumtelefoniert in der Gegend, wird fündig und ist erstaunt, wie unbefangen die Arbeitgeber mit dem Thema umgehen. Zum Beispiel Roswitha Franzsander, die zusammen mit ihrem Mann Berthold in Delbrück einen der größten Biogeflügel-Höfe Deutschlands betreibt. Sie habe schon als Kind mit Häftlingen zusammen am Mittagstisch gesessen, erzählt sie, weil bereits ihre Eltern regelmäßig auf Arbeitskräfte aus der JVA zurückgegriffen hätten. "Mit denen hat man die dollsten Schoten erlebt, aber es waren immer auch gute dabei." Als Chefin hat sie nun auch schon 13 Jahre Erfahrung mit den ungewöhnlichen Arbeitskräften, sie beschäftigt bis zu drei Männer pro Saison. Ein Mitarbeiter holt die Häftlinge morgens um sieben mit dem Auto vom "Hotel" ab, wie Roswitha Franzsander die Außenstelle Nordhagen scherzhaft nennt, und bringt sie abends um fünf wieder zurück. Vor zwei Jahren hat sie einen 43-Jährigen, der wegen eines Steuerdeliktes gesessen hatte, nach der Haftzeit fest übernommen. "Dem ist die Freiheit anfangs nicht gut bekommen, er hat mich einmal ziemlich enttäuscht." Der Mann zählt trotzdem bis heute zur Belegschaft.

Auch Thomas Rüsse, Geschäftsführer bei RT-Lasertechnik in Rheda-Wiedenbrück, kennt das Thema Justizvollzug schon aus dem Elternhaus. Sein Vater hat geschlossene Anstalten in Essen und Dortmund geleitet. Im Betrieb des Sohnes schneiden Häftlinge Bleche für Landmaschinen oder die Automobilindustrie. Rüsse rekrutiert die Arbeitskräfte aus der JVA seit gut einem Jahr, das Personalmanagement ist geprägt von Kommen und Gehen. "Die haben manchmal kaum hier angefangen, da werden sie schon wieder verlegt oder aus der Haft entlassen." Die Verweildauer eines Häftlings in der JVA-Bielefeld-Senne beträgt im Schnitt nur vier Monate ­ entsprechend hoch ist die Fluktuation bei den Betrieben. Auch im Arbeitsalltag gebe es immer wieder mal Probleme, sagt Rüsse, insgesamt, das müsse er sagen, seien seine Erfahrungen nicht sehr positiv, "das sind schließlich nicht alles nur harmlose Gesellen." Warum will er sie dann weiter beschäftigen? Da muss Rüsse keine Sekunde überlegen: "Weil sie eine Chance verdient haben!"

Bei der Baumschule Wittkopp in Bielefeld denkt man genauso, obwohl auch dieser Familienbetrieb schon so einiges mit den Gefangenen erlebt hat. "Wir hatten mal einen Zuhälter, das war die faulste Socke, die ich je gesehen habe", berichtet Seniorchefin Gerlinde Wittkopp. "Von mir als Frau hat der sich schon mal gar nichts sagen lassen." Im Moment allerdings habe sie einen, der tadellos seine Arbeit mache, vom Heckenschneiden über das Ausheben von Pflanzlöchern bis zum Verlegen von Platten. "Der ist wirklich super: korrekt und sehr bemüht."

Auch wenn das so klingen mag: Der offene Vollzug ist nicht nur Resozialisierungsmaßnahme. Er ist auch ein Wirtschaftsfaktor: für die Betriebe, die je nach Auftragslage sehr schnell Arbeitskräfte anfordern und wieder abstoßen können. Für die Anstalt, die mit den Einnahmen ein Viertel ihrer Personalkosten deckt, fünf Millionen Euro pro Jahr. Und natürlich für die Gefangenen, die Geld für ein Leben in Freiheit ansparen können. Ihr Anteil am erarbeiteten Lohn ist allerdings gering. Je nach beruflicher Qualifikation werden die Gefangenen in fünf Vergütungsgruppen eingeteilt, sie verdienen zwischen 8,05 Euro und 13,42 Euro ­ pro Tag. Davon darf der Häftling drei Siebtel ausgeben, vier Siebtel müssen gespart werden, als Überbrückungsgeld nach der Entlassung. Die Betriebe zahlen pro Häftling und geleisteter Arbeitsstunde zwischen 6,20 Euro und 13,17 Euro an die JVA ­ und machen dabei dennoch ein gutes Geschäft, weil sie flexibel disponieren und außerdem die Sozialabgaben einsparen können.

Auch René Christofferson war Teil dieses Systems, die meiste Zeit allerdings in einer exotischen Rolle. Zunächst ein Jahr in Beckum als Anstaltskoch eingesetzt, war die anschließende Gründung seines Restaurants nur möglich, weil man ihm ein sogenanntes Freies Beschäftigungsverhältnis gewährte. Ein solcher FB-Status ist quasi die höchste Stufe, die ein Häftling im offenen Vollzug erreichen kann. Der Gefangene wird nicht vom Arbeitgeber zum Dienst abgeholt, sondern darf die Anstalt selbstständig verlassen. Er erhält einen normalen Arbeitsvertrag, mit voller Entlohnung und Sozialabgaben. Er darf sämtliche Einkünfte behalten, zahlt jedoch für seinen Haftplatz ­ 167,02 Euro monatlich in der Einzelzelle, 49,12 Euro, wenn er sich die Zelle mit drei oder mehr Gefangenen teilt. Für seine Verpflegung sorgt er selbst. René kombinierte den FB-Status mit Selbstständigkeit, das Restaurant lief von Anfang an auf seinen Namen. JVA, Finanzamt, Ordnungsamt, Gewerbeaufsicht ­ niemand legte ihm Steine in den Weg. "Solche Fälle gibt es", sagt Anstaltsleiter Roth, "aber die Zahl ist verschwindend gering. So etwas geht nur, wenn man sehr, sehr hohes Vertrauen in eine Person setzt."

Stammkundschaft, Kultstatus ­ und lieb gewonnene Freiheiten

Zum Hökerfest 2005, Herfords großem Stadtfest im August, konnte es losgehen. Der Raum war angemietet, ein paar Terrassenplätze waren genehmigt. Renés Freundin Brigitte, die am Gänsemarkt zwei Einrichtungsgeschäfte betreibt, hatte schöne Holztische besorgt, er selbst vier Gaskocher vom Campingbedarf gekauft. Dazu ein paar Kerzen, und die Quartier Lounge strahlte die improvisierte Gemütlichkeit aus, von der sie sich bis heute ein Stück erhalten hat.

Die mediterrane Küche kommt gut an, auch das enge Zusammenhocken gefällt den Leuten. Und so wird aus dem Experiment ein täglicher Rhythmus: René verlässt morgens um kurz nach sieben die Anstalt, nimmt erst ein Taxi, dann den Zug um 7.31 Uhr, um 8.07 Uhr ist er in Herford. Im Restaurant trifft er sich mit seiner Mut- ter. Die 63-Jährige ist von Grevenbroich nach Herford gezogen, um ihren Sohn zu unterstützen. Während sie den Einkauf erledigt, bereitet René vor. Um Punkt zwölf schließt er auf, dann kommen die Mittagsgäste. Am Abend ist bis 21.30 Uhr geöffnet, aber Küche gibt es nur bis acht, damit der Koch um 20.51 Uhr wieder im Zug sitzen kann ­ und pünktlich um Viertel vor zehn in der Zelle.

Natürlich ist der Wirt aus dem Knast das Gesprächsthema am Gänsemarkt. "Es gibt welche, die sagen, bei einem Mörder esse ich nicht, die meiden auch meine Läden, aber das sind ganz wenige", erzählt Brigitte. Die meisten sehen in René selbst ein Opfer, diskutieren im Restaurant immer wieder die Ungereimtheiten des Falls, fragen sich, wie er als nicht Vorbestrafter so lange ins Gefängnis gehen konnte. Für wieder andere ist das alles überhaupt kein Thema. Sie kommen, um gut zu essen. Die Geschäftskontenabteilung der örtlichen Sparkasse beispielsweise, die bei René ihre Weihnachtsfeier abhält. Die alten Freunde von früher. Es kommt sogar, ab und zu, die Frau des Opfers.

Irgendwann genießen René und sein Restaurant das, was man Kultstatus nennt. Am Wochenende ist der Laden so voll, dass ohne Reservierung kaum was geht. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Es gibt keine Karte. Aber die Möglichkeit, sich etwas zu wünschen. Siegfried Stecker zum Beispiel, Privatier und zuvor viele Jahre für IBM tätig, versetzt sich hier regelmäßig zurück in seine Kindheit. "René", erzählt der 65-Jährige, "macht mir einen Gurkensalat, der exakt so schmeckt wie der meiner Mutter."

Ja, es ist gut ausgegangen, das kann man wohl so sagen. Und jetzt, wo er frei ist, was wird sich verändern? Auch das ist Teil der kuriosen Geschichte der Quartier Lounge: Für das Restaurant und seine Gäste wird sich nichts ändern. Natürlich könnte der Chef seinen Laden nun länger auflassen, aber er nimmt sich die Freiheit, das nicht zu tun. Er verbringt diese Zeit lieber mit den Menschen, deren Fotos und selbst gemalte Bilder an seiner Zellenwand hingen ­ mit Brigitte und den Kindern. René sagt das auf seine Art: "Jetzt hab' ich mir meine Gäste so weit erzogen, dass sie wissen, sie können bei mir nicht bis in die Puppen sitzen. Da wäre ich doch bescheuert, wenn ich denen das wieder abgewöhnen würde."