Bellersen

Noch vor wenigen Jahren drohte Bellersen das Schicksal vieler Dörfer: Landflucht und Langeweile. Dann trafen sich Geld und der Sinn für Gemeinschaft. Nun schmückt der Ort gleich eine ganze Region.




Man muss sich nur auf die Straße stel- len und sie länger ansehen ­ genau so hat man sich eine Dorfschönheit vorgestellt: naturverbunden, zunächst etwas verschlossen, aber grundsätzlich offen. Lebendig, aufgeräumt, eher konservativ, und wenn die Sonne auf sie scheint, fast lieblich. Gut, nicht mehr die Jüngste, aber für ihr Alter hat sie sich gut gehalten. Doch, man muss wirklich sagen: Bellersen ist ein schönes Dorf!

Bellersen, etwa 700 Einwohner, liegt im Kreis Höxter, einem der äußersten Winkel Ostwestfalens, dort, wo der wahre Reichtum Platz heißt. Die am dünnsten besiedelte Stelle einer dünn besiedelten Gegend. Nicht einmal 130 Menschen teilen sich hier im Schnitt einen Quadratkilometer Land ­ nirgends in Nordrhein-Westfalen sind es weniger. Eine unaufgeregte Region, sanft gewellt, mit viel Wald und leuchtenden Feldern, die sich im Sommer wie riesige Teppiche um das Dorf legen. Heraus stechen dann nur der Kirchturm und die auf einem Hügel stehenden Windräder, deren Flügel vergeblich versuchen, vorüberziehende Wolken zu zerteilen.

Selbsthilfe ­ aus Tradition

Über die B 252 ist Bellersen leicht zu erreichen, von Ortsunkundigen allerdings genauso schnell zu verfehlen. Denn wer den Fuß nicht vom Gaspedal nimmt, wo das Autoradio nur noch verrauschte Nachrichten und Phil Collins empfängt, übersieht leicht Schild und Ausfahrt und lässt das Dorf links liegen. Das waren die Bellerser gewohnt. Über Jahrzehnte hinweg und nicht nur von Autofahrern. Auch die Politiker sorgten sich lange mehr um Städte als um Dörfer. So half man sich selbst ­ aus Tradition.

Viele Familien sind es, die bereits seit Generationen im Dorf leben. So wie die von Dachdecker Gustav Schonlau. Er sitzt in seinem Haus vor dem gemalten Stammbaum und dem gerahmten Meis-terbrief und will mit fester Stimme vom Aufstieg des Dorfes in den vergangenen Jahren erzählen, muss dafür aber zunächst beschreiben, wie es davor bergab ging.

Das sei natürlich eine lange Geschichte, sagt Schonlau und legt sicherheitshalber die Chronik "975 Jahre Bellersen" auf den Tisch. Die bleibt dann aber unberührt, weil der 71-Jährige im Gedächtnis weniger nach Fakten als nach Erinnerungen sucht. Die klingen nicht wehmütig, aber doch ein bisschen wie Heile-Welt-Panoramen aus einem Kinderbuch. Als das Wasser noch aus Brunnen kommt, weil Leitungen in Bellersen erst Anfang der fünfziger Jahre in selbst geschaufelte Gräben verlegt werden und es im Ort 20 Maurer gibt, mehrere Dachdeckerbetriebe und einen Schmied. Ein intaktes System von Selbsthilfe, in das die Außenwelt oft nur in Form von Post einbricht. Die bringt der Landbriefträger, sogar noch mit 73 Jahren ­ Schonlaus Großvater.

So vergehen Jahrzehnte. Noch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bauen die Bellerser in Eigenleistung eine Mehrzweckhalle, die zuständige Stadt Brakel zahlt nur das Material. Aber die Schule ist schon ge- schlossen, Bauern geben ihre Höfe auf, Handwerker ziehen fort. Die Gemeinschaft droht zu zerfallen, genau wie das Dorfbild: Hausbesitzer verbauen die pflegeintensiven Fachwerke, und im Dorfkern stehen gleich mehrere Häuser einer neuen Straße im Weg. Was Jahre später zum Schatz westfälischer Dörfer werden wird, reißt man in Bellersen daher kurzerhand auseinander.

"Das war eine ziemlich heikle Zeit", sagt Schonlau nachdenklich und nestelt mit kräftigen Handwerkerfingern am geklöppelten Rand der Tischdecke. Aber Anfang der neunziger Jahre erhält er den nicht nur vermutlich längsten, sondern auch wichtigsten Titel im Dorf: Schonlau wird Bezirksverwaltungsstellenleiter, eine Art ehrenamtlicher Bürgermeister. Mit seinem guten Riecher für Fördertöpfe spürt der neue Mann im Amt schon bald einen besonders großen Topf auf, denn das Land Nordrhein-Westfalen sucht für einen Modellversuch ein "Tourismus-Musterdorf". Der Gewinner bekommt rund achteinhalb Millionen Mark. Die soll das Dorf investieren, um herauszufinden, ob Tourismus auf dem Land eine Perspektive sein kann, wenn alle anderen Grundlagen langsam wegbrechen. Der Sieger steht offenbar schon fest, Bellersen reicht dennoch ein Konzept ein. Im Portugal-Urlaub liest Schonlau dann in der Bild-Zeitung, dass sich der Favorit das Preisgeld mit einem anderen Dorf teilen muss: 4,2 Millionen Mark gehen an Bellersen. Da lacht der Dachdeckermeister noch heute und streicht die Tischdecke wieder glatt.

Etwas mehr als 15 Jahre liegt das jetzt zurück. Aber in dieser Zeit, glaubt Schonlau, sei mehr geschehen als in den 200 Jahren davor. Mit einer Mischung aus Stolz und Erleichterung sagt er das. Schließlich war da immer die Angst, dass man ihn nach Jahren fragen würde: "Mensch, wo ist eigentlich das ganze Geld geblieben?"

Nun, es steckt in stilvollen Laternen, die bei Dunkelheit auf gepflasterte Wege leuchten, in den Rundwanderwegen, dem Wohnmobilhafen mit 23 Stellplätzen, dem "Erfahrungsweg der Sinne" entlang des kleinen Flusses. Von jährlich 1500 auf 15000 sind die Übernachtungszahlen im ersten Jahrzehnt in die Höhe geschossen: Urlauber, die nun im Kötterhaus Töpferkurse belegen oder bei Spaziergängen auf dem fast vier Kilometer langen Tier-Erlebnispfad von einer der größten Bio-Imkereien Deutschlands bis zum Düppeler Weideschwein anschauen können, was man sonst oft nur aus Einmachgläsern kennt.

Nicht in allen Projekten steckt Fördergeld. Aber wer privat investieren wollte, den hat die Aufbruchstimmung im Dorf offenbar zuversichtlich gestimmt. Das Feriendorf am Ortseingang etwa ist ein familiär geführtes Millionenprojekt, genauso wie das "Café Hinkelstein", das erst vor wenigen Monaten in einem aus Hessen herbeigeschafften Fachwerk- haus eröffnet wurde. Kaum ein Platz ist dort an schönen Tagen zu finden, wenn Wanderer und Radfahrer von auswärts vor großen Tortenstücken sitzen und die Einheimischen zur Bedienung rufen: "Anita, machst du noch mal 'ne Runde Obstbrand?" Über Jahre hinweg sind mittlerweile Delegationen aus ganz Deutschland nach Bellersen gereist. Viele aus dem Osten und immer mit derselben Frage: Woran liegt es, dass dieser Ort zu leben scheint, während die mit etlichen Millionen Euro sanierten eigenen Dörfer oft menschenleeren Freilichtmuseen gleichen?

"Was in Bellersen besser funktioniert als in anderen Dörfern?", wiederholt Heinz Düsenberg die Frage, blickt im Bistro des Feriendorfs auf den Teller mit getrocknetem Schinken und tut so, als müsse er überlegen. Dabei hat der Vorsitzende des Heimat- und Verkehrsvereins die Antwort schon ungezählte Male gegeben. Bürgermeistern, Journalisten, Urlaubern. Denn fürs Dorf engagiert sich Bankkaufmann Düsenberg, seit er denken kann. Also ganz schön lange, wenn man wie er 59 Jahre alt ist. "Hier war schon immer alles Teamwork", sagt er schließlich.

Zum Anpacken finden sich in Bellersen offenbar mehr Freiwillige als anderswo. Menschen, die Heimat als Hobby und Lust auf Dorf haben. Auf Projekte wie die von der EU geförderte Edelobstbrennerei, für die auch ein Dutzend Bellerser jeweils 2500 Euro Kredit gegeben haben.

Wird es Herbst, sammeln die Jugendlichen die Äpfel von den zuvor ungenutzten Streuobstwiesen, ehrenamtliche Brennmeister verwandeln sie anschließend im Anbau des Landgasthofs Mühlenkrug in "Bellerser Apfelbrand". 2500 Flaschen in etwa 30 Brenntagen. Vergangenes Jahr gab es dafür sogar den "Goldenen Preis" der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft ­ und für jeden Kreditgeber den üblichen Zinssatz: sechs Flaschen Schnaps.

Na also, scheint doch alles ganz einfach zu sein. Da widerspricht Heinz Düsenberg nicht, sondern setzt nur ein Schmunzeln auf. Etwas kokett ist das gemeint. Denn auch diese Gemeinschaft, soll das Schmunzeln bedeuten, kommt nur schwer ohne Menschen aus, die unermüdlich vorschlagen, motivieren, schlichten. Menschen wie ihn.

Vor etwas mehr als zehn Jahren, zum Beispiel, da drohten die Folgen des Fördergeldes die Einwohner sogar zu entzweien. Es gab zu viel Arbeit für zu wenige Freiwillige. Schließlich hatte Düsenberg den entscheidenden Einfall: Angeführt vom Heimat- und Verkehrsverein schlossen sich die 16 Vereine des Dorfes zum "Bündnis Bellersen" zusammen, das fortan alle Aufgaben als dauerhafte Patenschaften vergibt.

Seitdem wuchten die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr die Bänke ins Winterquartier, wo sie von den Männern des Gesangsvereins gestrichen werden. Die Katholische Frauengemeinschaft kümmert sich um Kuchen bei Dorffesten, und sollten einmal die Hinweisschilder am Ortseingang nicht ordentlich lesbar sein, sind zweifelsfrei die Schützen schuld.

Das System hat Ruhe gebracht; noch dieses Jahr will sich das "Bündnis Bellersen" dafür selbst ein Denkmal setzen. Mal wieder ein Grund zum Feiern. Von denen gab es nicht wenige in den vergangenen Jahren, in denen der Ort wie eine rastlose Schönheitskönigin Titel um Titel gewann: Dorf der Zukunft, Landesgolddorf, Bundessilberdorf. Düsenberg wird die chronische Skepsis trotzdem nicht los. "Touristisch ging's ja immer nach oben", sagt er. "Aber wir haben bundesweit 6000 Konkurrenten. Da ist es zu wenig, wenn alle nur sagen: Wir sind doch zufrieden."

Aber das sagen nicht alle, es ziehen ja viele Einwohner mit. Leute wie Horst- Dieter Krus, auch wenn der findet, dass ein bisschen Zufriedenheit nicht schadet. Immerhin besitze das Dorf noch einen kleinen Laden, einen Bäcker, eine Bankfiliale und drei Gaststätten. Mehr als viele andere Orte mit vergleichbarer Einwohnerzahl. Im nahe gelegenen Rheder, nur mal als Beispiel, sagt Krus, "da haben die 'ne Brauerei, aber keine Kneipe. Nur 'ne Frittenbude. Und hätten sie keine Bundesstraße, gäb's die Bude bald auch nicht mehr."

Leicht in den Sessel gerutscht, sitzt Krus umgeben von Büchern, Ordnern und Akten in seinem Wohnzimmer, die Beine ausgestreckt, die Hände in die Taschen der Cordhose geschoben. Genau 40 Jahre ist es jetzt her, dass der Kreisarchivar mit einem geschmückten Weihnachtsbaum unterm Arm aus einem Nachbardorf nach Bellersen gezogen ist. Inzwischen besitzt er so viele Funktionen, Ämter und Mitgliedschaften, dass ihm selbst mitunter der Überblick fehlt. Dass er Mitglied im Sportverein ist, bemerkte Krus erst, als er kürzlich per Post eine Nadel für 25-jährige Vereinszugehörigkeit erhielt. Dorfhistoriker ist er zudem und Leiter des kleinen Heimatmuseums, in dem der 59-Jährige in char- manter Unprofessionalität zusammengetragen hat, wie man in Bellersen über Jahrhunderte lebte ­ und starb. Die historischen Preziosen reichen vom abgebrochenen Armbrustbolzen über "Original Bauschutt von 1794" bis zur Hülse der Patrone, die gleich zwei Wild- schweine in einem Flug erlegte.

"Die Herausforderung ist ja, das Dorf dauerhaft attraktiv zu machen", sagt Krus. "Waschbetonkübel mit 'ner Geranie drin, damit konnte man vielleicht in den Sechzigern noch Golddorf werden." Heute müsse sich ein Ort ganz anders darstellen. Professionell, schon im Detail. Ein wie mit dickem Filzstift geschriebenes "B." hat er daher vor einiger Zeit für das Dorf entworfen und gleich beim Patentamt schützen lassen. Benutzen darf es jeder Einwohner gratis. B. wie Bellersen. Oder B. wie "das Dorf B.". So hatte die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in der "Judenbuche" den Heimatort des Mörders abgekürzt und Bellersen zu etwas fragwürdigem literarischem Ruhm verholfen. Nur wusste man damit im Ort lange nichts anzufangen. "So ein Mörder taugt zur Werbung natürlich wenig", sagt Krus mit leichtem Bedauern. "Kann man nicht mal eine Straße nach benennen." Beim Wettbewerb "Deutschland ­ Land der Ideen" reichte er dann als Vorschlag eine Exkursion zu den Schauplätzen der Novelle ein. Was daraus geworden ist? Krus zieht aus einem Stapel Bücher den Katalog zum Wettbewerb. "Samstag, 11.2.2006", steht da, "Ort des Tages: Bellersen. B. ­ Ein Dorf sucht einen Mörder."

Aktiv ­ aus Überzeugung

Vielleicht ist es diese Umtriebigkeit seiner Bewohner, die das Dorf von anderen unterscheidet. Auch wenn nicht jede Idee den Erfolg hat, den sich Aktionis-ten wie Krus erhoffen. Die Sache mit dem Busen hat zum Beispiel nicht geklappt. Da hatte er den Werbezettel für den "Bellerser Apfelbrand" mit einer nackten Frauenbrust und einem paradiesroten Apfel gestaltet. Daran stießen sich dann einige Einwohner, und Krus hatte schon die Schlagzeile der Bild vor Augen: "Busen spaltet Dorf!" Mit den Zeigefingern zeichnet er ein Rechteck in die Luft. "So groß hätten die das gebracht!" Eine bessere Werbung könne es doch nicht geben. Der Busen-Coup scheiterte schließlich daran, dass sich niemand finden ließ, der sich öffentlich aufregen wollte. Nicht einmal künstlich. "Dabei habe ich jedem gesagt: Ich schreib' dir auch auf, worüber du dich ärgerst!"

Nein, alles machen sie dann doch nicht mit, die Bellerser. Auch der Wet-T-Shirt-Contest auf dem Erlebnismarkt musste ausfallen, weil sich keine Teilnehmerin fand. Auch nicht unter den Stammgästen vom Wohnmobilhafen, die sonst bei fast jeder Veranstaltung im Dorf dabei sind. Gäste wie der ehemalige Buchbinder Peter Milse, der 2007 etwa 40 Wochenenden auf einem Stellplatz in Bellersen verbrachte und schon zum inoffiziellen Ehrenbürger des Dorfes ernannt wurde. Der schon mal mithilft, die Kopfweiden am Bach zu schneiden und vor lauter Plaudern für den Brötchenkauf im genossenschaftlich geführten Dorfladen eine Stunde braucht. Oder Pensionär Erich Krüpp, der etwas angeschlagen unter seiner Baseballkappe hervorblickt, weil er gestern Nacht bis zwei im Vorzelt mit einem der Brennmeister gefeiert hat. Oder Harald Kuhlmann, der Hitachi-Bildschirm-Vetreter, der vergangenes Jahr für 80 Übernachtungen zwischen Bad Salzuflen im Nachbarkreis und Bellersen pendelte, zumindest gefühlt auf jeden Geburtstag im Dorf eingeladen wird und sich als "völlig eingemeindet" empfindet. Der sich, kaum ist der Freitagnachmittag gekommen, ans Steuer seines mehr als 140000 Euro teuren und achteinhalb Meter langen Reisemobils "Concorde Charisma" setzt und schnellstmöglich die B 252 entlangschießt, Gattin Dagmar im Maserati hinterher.

"Dieser Ort ist meine Reset-Taste", sagt Kuhlmann und blickt dabei ernst über die Lesebrille, als würde man es ihm sonst nicht glauben. Er habe sogar schon überlegt, ob er sich ein Ferienhaus kaufen soll, nur wenige Meter vom historischen Backhaus entfernt, das die Bellerser vor wenigen Jahren in mehr als 1000 freiwilligen Arbeitsstunden in einem anderen Dorf ab- und im eigenen wieder aufgebaut haben.

"Aber dann ist man natürlich kein normaler Gast mehr", sagt Kuhlmann nachdenklich. "Und ich sehe ja auch, wie die im Herbst mit Schweiß auf der Stirn die Bänke reinholen. Und das Verrückte ist: Das machen die alles ehrenamtlich."