Wunder gibt es immer wieder

Jährlich besuchen fast eine Million Menschen den Wallfahrtsort Kevelaer. Die meisten erhoffen sich von der Mutter Gottes Heilung oder Kraft für die Bewältigung des Alltags. Doch die Stadt will mehr sein als ein Zentrum der Marienverehrung ­ weltliche Gäste sind willkommen. Ebenso wie ihr Geld.




Jetzt strömen die Tränen. Ottomar Nöhrhoff hat sich das mit Efeu und getrockneten Rosen geschmückte Holzkreuz auf die Schulter geladen. Er steht in der ersten Reihe der Andachtsbänke, vor ihm ein Beet mit gelb leuchtenden Chrysanthemen, dahinter die Kapelle, darin, im Schrein, klein wie eine Postkarte, vergilbt bis zur Verschwommenheit, das Schwarz-Weiß-Bildchen. Er erkennt darauf nichts. Er ist zu weit weg, aber er weiß sowieso, wie sie aussieht, die Mutter Gottes, die "Trösterin der Betrübten", eine Kopie ist immer in seinem Geldbeutel. Ihm tobt jetzt durch den Kopf, wie schlecht es ihm vor zehn Jahren ging; der Darmkrebs, sein Nervenzusammenbruch, das mühsame Wieder-sprechen-Lernen, und wie gesund er sich heute fühlt. Er spürt sein Herz pochen, es kommt ihm vor, als pochte es: "Dang-dang, dan-ke, dang-dang, dan-ke." Als die anderen aus der Fußpilgergruppe Grevenbroich, diesmal 21 Leute, die Jüngste 38, die Älteste 73 Jahre alt, anfangen, den Rosenkranz zu beten, stimmt Nöhrhoff sofort ein. "Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen ...": Das ist kein stilles Gebet. Das ist bei ihm mit tränenverschleierter Stimme laut herausgerufener, felsenfester Glaube.

Ottomar Nöhrhoff hat den Weg zur Mutter Gottes gefunden, und er geht ihn mindestens einmal im Monat. Zeitpunkt egal, Ziel ebenso; es können gern auch die Wallfahrtsorte Banneux oder Medjugorje oder Altötting sein, Hauptsache, Maria ist nah. Doch Kevelaer zählt für ihn zu den schönsten Plätzen, weil es hier immer noch Nischen der Stille gibt, in einer der Kapellen. Der pensionierte Maschinensteller aus Neuss handelt nach der Devise: "Wenn die heilige Mutter mich ruft, dann komme ich" ­ diesmal hat sie sich via Pfarrei Grevenbroich bemerkbar gemacht, die Ottomar Nöhrhoff einlud, die 85 Kilometer mitzupilgern.

Er holte die Wanderschuhe aus dem Schrank und den Rucksack. Er band sich das hellblaue Halstuch mit der Aufschrift "Komm und sieh ­ Kevelaer" um, und schon war sie unterwegs, eine der letzten von etwa 1300 Pilgergruppen in diesem Jahr, die zu der Kapelle in Kevelaers Ortsmitte streben. Manche Gruppen kommen seit Jahrzehnten, manche sind wochenlang unterwegs. Wer den Weg zu Fuß geht, hat die besseren Chancen, erhört zu werden, das gilt unter Pilgern als Gesetz.

Auf dem drei Tage dauernden Marsch von Grevenbroich nach Kevelaer sind alle per Du, es herrscht ein ständiges Gebetsgemurmel und ein Gute-Taten-Verrichten ganz im Sinne der Bibel, bis man Einzug hält in die Wallfahrtsoase des Niederrheins, vom Kreuzweg beim Friedhof kommend, die Hauptstraße hinunter zum Kapellenplatz. Wer das Kreuz, das sie die ganze Strecke dabeihatten, nicht mehr schleppen konnte, dem nahm es bereitwillig sofort ein anderer ab, immer nach dem Motto "Einer trage des anderen Last". Und auch der kategorisch christliche Imperativ "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" wurde mit Vergnügen und so oft wie möglich befolgt ­ und sei es nur, indem man die geschundenen Füße der Mitwanderer salbte und pflasterte, genauso wie die eigenen. Alle finden: So etwas kann nicht ohne Wirkung bleiben, so etwas geht nicht in ein, zwei Stunden im Auto oder im Bus.

Im Büro der Wirtschaftsförderin Ruth Keuken spricht man von 800000 bis einer Million Besuchern, die 2007 kamen. Eine Schätzung, denn die vielen Tagestouristen hat bislang niemand genau gezählt. Fest steht: 118000 Übernachtungsgäste waren es im vergangenen Jahr ­ acht Prozent mehr als 2006.

Ruth Keuken ist eine moderne Frau, 44, Liza-Minelli-Frisur. Sie gehört zu dem Zirkel, der dafür sorgt, dass die 29000-Einwohner-Stadt immer noch ein bisschen attraktiver wird, sich behauptet neben Deutschlands viel bekannterem und älterem Wallfahrtsort Altötting, der seine Besucherzahl mit "über eine Million" angibt. Keukens Rechnung: Ein Tagestourist gibt 20 bis 23 Euro aus, ein Übernachtungsgast zusätzlich 25 bis 30 Euro. Vor allem die Konkurrenz der anderen Wallfahrtsorte ist ein Problem, denn ansonsten verhält es sich mit Pilgern praktischerweise so: Sie kommen in schlechten Zeiten, weil sie auf Besserung hoffen. In guten Zeiten kommen sie auch ­ um vorzubeugen, falls es wieder bergab geht. Zwar sind hier, in Kevelaer, Großbetriebe angesiedelt, die Topfpflanzen oder Hundefutter herstellen, aber die meisten Arbeitsplätze haben mit Touristen zu tun: In diesem Bereich gibt es zwischen 1500 und 2000 sozialversicherungspflichtige Jobs, dazu kommen Saisonkräfte. Meist handelt es sich bei den Devotionalienhändlern, den Gastwirten, Glasmalern und Goldschmieden um Familienbetriebe in der x-ten Generation, deren Existenz direkt vom Zustrom der Pilger abhängt.

Anfang der neunziger Jahre hat man in Kevelaer beschlossen, sich eine neue Corporate Identity zuzulegen, mit einem Slogan. Die Wahl fiel auf "Unverwechselbar Kevelaer". Im Gespräch war damals auch "Wunderbar Kevelaer", auf den ersten Blick durchaus ein cleveres Wortspiel. "Um Gottes willen!", ruft Ruth Keuken, als sie daran zurückdenkt, "ich war sofort dagegen." Auf keinen Fall dürfe der Ort sich den Stempel aufdrücken, ein Schwerpunkt fürs Spirituelle zu sein. Man setze auf das Image "interessante Stadt". Die mehr bietet als geheimnisvolle Geschichten um einen verwitterten Kupferstich. Wer nach Kevelaer kommt, sagt die Marketingspezialistin, kann kritisch sein, evangelisch; ach, von ihr aus auch Atheist. Der kann ins Museum gehen und sich die Friedrich-Stummel-Glasfenster in der neugotischen Marien-Basilika ansehen, ein Konzert auf der phänomenalen Seifert-Orgel hören, durch die Goldschmiedeläden bummeln, niederrheinisch essen, Grünkohl mit Mettwurst und Senf etwa, dazu ein, zwei Altbier. Natürlich, sagt sie, der Trumpf der Stadt sei die spezielle Nähe zur Mutter Gottes, aber dieser Trumpf steche nur, wenn man ihn nicht ständig zücke. Glaubt Ruth Keuken selbst an Wunder? Sie windet sich ein wenig: "Ich bin auf keinen Fall abergläubisch. Aber es ereignen sich hier Dinge, die mit normalem Verstand nicht zu erklären sind."

Es ist diese kleine Geschichte, die seit 367 Jahren die Menschen beeindruckt: Um die Weihnachtszeit des Jahres 1641 will der Handelsmann Hendrick Busmann dreimal den geheimnisvollen Aufruf gehört haben: "An dieser Stelle sollst du mir ein Kapellchen bauen!" Es geschah, als er auf dem Weg von Weeze nach Geldern vor einem Hagelkreuz betete, an einer Weggabelung nahe Kevelaer. Wenig später soll Busmanns Frau nachts ein großes, glänzendes Licht, ein Heiligenhäuschen und in diesem ein Bildchen mit der Jungfrau Maria samt Jesuskind gesehen haben ­ das Bild kaufte sie einen Tag später Soldaten ab. Es wurde in den Bildstock eingesetzt, den der Gatte aufgestellt hatte. Später wurde eine Kapelle darumgebaut.

Der Papstbesuch war der Ritterschlag für Kevelaer

Es dauerte nicht lange, bis Pilger kamen. Bis sich herumsprach, dass hier Wunder geschähen. Zehn hat die katholische Kirche im Laufe der Jahre offiziell anerkannt. Die Pilger strömten. 1987 reiste Papst Johannes Paul II. an ­ der erste und bisher einzige Papstbesuch. Er segnete das Heiligenbild. Er rief: "Kehrt um, und glaubt an das Evangelium" und "Ich ermutige euch zu einer innigeren Verehrung der Gottesmutter!" Es war, als hätte Kevelaer ein Gütesiegel erhalten. Und natürlich kamen seit diesem Tag noch mehr Pilger.

Ottomar Nöhrhoff sagt, er pilgere nicht, weil er Wunder erwarte. Sondern um sich aufzuladen mit Kraft: "Die heilige Mutter ist mein Vorbild. Sie hilft mir, das, was in meinem Leben passiert, tapfer zu ertragen." Er sitzt in der Sakramentskapelle, den Blick auf eine Pieta gerichtet, Maria mit dem toten Jesus im Arm, in den Sockel steht gemeißelt: "Mein Schmerz ist groß wie das Meer."

Nöhrhoff will nicht ausschließen, dass die Trösterin der Betrübten geholfen hat, als er vor zehn Jahren wieder gesund wurde. An Marias Unterstützung mag wohl auch jene Pilgerin glauben, die in Kevelaer ein einziges Mal Lotto spielte ­ sechs Richtige. Oder Heike van Ooyen, Inhaberin eines der Geschäfte in der Basilikastraße, in denen Ikonen restauriert und Kommunionskreuze verkauft werden: Ihren Sohn plagten extreme Allergien, jahrelang ­ plötzlich waren sie weg. Oder jener junge Mann, der an einer Muskelkrankheit litt. Nach der Kevelaer-Wallfahrt ging es ihm gut, sein Arzt staunte. Das war vor wenigen Wochen.

Stefan Zekorn hat im 361 Jahre alten Priesterhaus das schönste Zimmer: an den Wänden dunkles Holz, Ölgemälde religiöser Szenen, der Blick aus dem Fenster geht auf die Kapelle, zu den Menschen, die dort am Spätnachmittag knien. Zekorn, 49, ist ein Intellektueller, seine Stimme klar; was er sagt, ist ernst und gründlich überlegt. Seit zwei Jahren leitet er die katholische Pfarrei St. Marien und damit das Wallfahrtsgeschehen ­ einen Großbetrieb mit hundert Mitarbeitern, Priester, Gärtner, Zimmermädchen. Dass in Kevelaer Dinge passieren, die mindestens an Wunder grenzen, steht für Zekorn außer Zweifel. Fast täglich treffen bei ihm Berichte ein, wollen Menschen ihm persönlich ihre Erlebnisse erzählen. Er freut sich über Briefe von Ärzten, die ihm vorgelegt werden, in denen steht: "medizinisch nicht erklärbar" ­ aber auch ohne solche Beweise kann er nicht anders, als festzustellen, dass Kevelaer auf viele Menschen eine auffallend positive Wirkung habe. Hat jeder Kranke, der kommt, die Chance, geheilt zu werden? "Nur wer dafür offen ist, durch den kann Gott wirken" ­ das ist die theologische Antwort. Das ist die Antwort, die Stefan Zekorn gibt.

Ganz normal hier: Eine Stumme kann wieder sprechen

Im Herbst ist ein Buch erschienen, "Ich bin geheilt", in dem zwei pensionierte Lehrer 217 Spontanheilungen zusammengetragen haben, die in Kevelaer ihren Ursprung hatten. Auch die Geschichte, die Margarete Kreuels erlebt hat, findet sich darin. Die 92-Jährige lebt im Altenheim "Regina Pacis", ihre Augen leuchten hinter der großen Brille, in den blau geäderten, dürren Händen hält sie ein Plastiktäschchen. Sie öffnet es und bringt einen Rosenkranz mit weißen Perlen zum Vorschein ­ ein Geschenk von Papst Johannes Paul II. Margarete Kreuels führt ein einsames Leben, nur noch selten findet sich jemand, der mit ihr spazieren geht, sie in ihrem Rollstuhl am Gasthaus "Zum St. Joseph" in der Hauptstraße vorbeischiebt ­ mit seiner Jugendstilfassade eines der schönsten Häuser der Stadt. Margarete Kreuels ist in diesem Gasthaus aufgewachsen, "Gretchen" wurde sie damals genannt, ihre Mutter hat Tausende Pilger beherbergt, darunter viele Stammgäste. Heute ist hier ein Grillrestaurant untergebracht.

Gretchen war 18 Jahre alt, ein hilfsbereites, lustiges Mädchen, als sich zutrug, was jetzt im Buch über die Spontanheilungen veröffentlicht ist: Einmal im Jahr kamen zwei Schwestern zur Wallfahrt und bezogen im Josephshaus Quartier. Eine der beiden zuckte immer nur mit den Schultern, wenn man sie ansprach ­ sie war stumm. Eines Tages kam diese Frau nach dem Gottesdienst in die Herberge gerannt und rief mit lauter Stimme: "Gretchen! Schnell, bring mich in mein Zimmer!" Sie habe ihre Stimme wiedergefunden, plötzlich, mitten im Gottesdienst, sagt Margarete Kreuels. Einige, die das mitbekommen hätten, seien ihr durch die Straße gefolgt, wollten sie anfassen, festhalten wie eine Heilige, deshalb floh die Frau völlig aufgelöst in die Unterkunft. Fortan habe sie gesprochen.

Für Gretchens Familie war die ganze Sache zwar aufregend, aber keine echte Überraschung. Die Kapelle und ihre segensreiche Wirkung ­ man lebte damit. Wenn sich Krankheiten oder Krisen ankündigten, schickte die Mutter eines der Kinder "zur Jungfrau Maria". Gretchen traf sich dort heimlich mit dem 13 Jahre älteren Mann, den sie gegen den Willen der Eltern heiraten wollte, was sie schließlich auch tat. Sonst ist in Kreuels Leben keineswegs alles nach ihren Plänen gelaufen. Zwei ihrer vier Kinder starben früh ­ und doch, sagt sie, wusste sie die Mutter Gottes immer in ihrer Nähe: "Sie hat mir geholfen zu akzeptieren: Dein Wille geschehe." Margarete Kreuels sitzt jetzt aufrecht in ihrem Rollstuhl, eine kleine alte Frau mit versonnenem Lächeln, sie flüstert: "Wer das alles erlebt hat, fürchtet sich nicht vor dem Tod."

Der typische Pilger bleibt nur eine Nacht, er absolviert das Standardprogramm, bestehend aus mehreren Gottesdiensten und dem Anzünden mindestens einer Kerze. Er schläft in einem Gasthof oder im Priesterhaus, WC, Dusche, Bibel, alles da ­ Einzelzimmer 29 Euro. Für Ottomar Nöhrhoff und seine Gruppe ist am Ende des Tages, nach Hackfleischbulette und Hagebuttentee, Feierabend. Sie sitzen im Gewölbekeller, jetzt werden Witze erzählt, über die alle guten Gewissens lachen. Etwa: "Fragt einer: Bist du dafür, dass Priester heiraten dürfen? Antwort: Ja, warum nicht ­ wenn sie sich mögen!" Dann ist es wie in jedem anderen Verein: Die Jubilare werden für treues Mitwandern geehrt. Der Diakon, der die Tour begleitet, kriegt zum Geburtstag ein Feldbett.

Neben Ottomar Nöhrhoff sitzt Thomas Hein, 43, er hört dem 72-Jährigen zu, der schildert, wie er zum Marienverehrer wurde. Hein hat das Begleitfahrzeug gelenkt, er sagt, er taste sich "langsam ran an datt Janze". Hein arbeitet im Klärwerk in Grevenbroich, immer stärker spüre er "so ein Bedürfnis nach Tiefe" und nach einem gewissen Schutz im Leben, den ihm die Arbeitskollegen nicht bieten könnten, kein Kumpel und auch nicht seine Ehefrau: "Lange denkt man, man braucht keinen Glauben, man kriegt alles alleine hin. Dann merkst du, dir fehlt was." Nöhrhoff kennt dieses Gefühl ­ seine Lösung: pilgern. Thomas Hein trinkt das Bier aus der Flasche, er muss lachen: "Kann sein, dass ich mal genauso ende wie der." Es sieht nicht so aus, als würde ihm diese Aussicht Angst machen.

Draußen dreht derweil wie an jedem Samstagabend in der Wallfahrtszeit zwischen Mai und November eine Lichterprozession ihre Runden um die Kapelle. Hunderte haben sich angeschlossen, viele in beigefarbenen Anoraks, mit Wollmützen, Gesundheitsschuhen, Kerzen in der Hand. Wie ein Laternenumzug für Senioren. Es folgt ein Priester in weißem Gewand, er singt Liebeserklärungen an die Mutter Gottes ins Mikrofon: "Maria, du von der Sonne umstrahltes Gestirn! Maria, du wertvoller Kelch! Maria, du duftende Rose!"

Am nächsten Tag kommt der Bus, um die Grevenbroicher abzuholen. Sie laufen die Hauptstraße zurück, es ist Sonntag, die Geschäfte haben geöffnet, aus dem fernöstlichen Schmuck- und Tuchladen dringt Popmusik, aus der Ferne kündigt sich bereits die nächste Prozession an, mit Blechbläsern, die "Meerstern, ich dich grüße" spielen. Die Klänge mischen sich zu einem schiefen Jahrmarktspotpourri.

Pilger zwischen Büstenhaltern und Gebetsbüchern

Es ist ein schwieriger Spagat, allen Bedürfnissen in dieser Stadt gerecht zu werden. Deshalb sitzen Ruth Keuken, Stefan Zekorn, der Bürgermeister und verschiedene Geschäftsleute oft an einem Tisch und handeln Kompromisse aus. Nur "wallfahrtsnahe Geschäfte" dürfen am Sonntag verkaufen, schreibt die Gemeindeordnung vor ­ längst haben aber auch Drogeriemärkte, Miederwarengeschäfte und Schuhläden geöffnet. "Wallfahrtsnah": Dazu zählen für Pfarrer Zekorn Souvenirläden oder auch Buchhandlungen mit christlicher Literatur. Miederwarengeschäfte definitiv nicht: "Ich bin nicht prüde. Aber wenn am Sonntag draußen auf den Ständern BHs hängen, das passt nicht." Doch natürlich kennt er das Problem: Gerade an den Sonntagen ist die Stadt voll ­ eben auch mit Touristen, die gern neue Unterwäsche kaufen. Der Pfarrer setzt immer auf das Gespräch. Nur in diesem Punkt lässt er überhaupt nicht mit sich reden: Der Kapellenplatz ist geschütztes Gelände. Hier duldet er keinen Postkartenkiosk, keinen Bratwurststand. Der Kapellenplatz ist der Tempel, in dem die Trösterin der Betrübten ihre Ruhe haben soll und die Menschen zur Stille kommen können.

Die Grevenbroicher Pilger schaukeln Richtung Heimat, in der Beichtkapelle beginnt jetzt, um halb sieben Uhr abends, die nächste Pilgermesse für die Abordnung mit den Posaunen; 200 Meter weiter, in der Sportsbar Kevelaer Live, wird im Fernsehen der Boxkampf Vitali Klitschko gegen Samuel Peter diskutiert. Junge Leute drängeln sich hier, sie nennen ihre Stadt in Internetchats mit freundlichem Spott "Weihrauchcity", aber die meisten von ihnen haben trotzdem schon mal eine Kerze angezündet; fast immer ging es um Noten, Geld oder Liebe. Sie erzählen das ohne Scheu, die Kapelle ist ein Teil ihres Lebens. Yezdan, Anfang 30, gebürtiger Kurde, hat sich im Sommer als Lackierer selbstständig gemacht. Seine Religion ist das Jesidentum; vor allem, sagt er, glaube seine Familie an die Sonne. Maria, die jungfräuliche Geburt und so: nicht sein Fall. Dennoch war auch er vor Kurzem bei der Kapelle. Er hat vorsichtig geguckt, dass ihn kein Kumpel sieht, dann eine Kerze angezündet, nicht die für 30 Cent, sondern die größere für 80 Cent, und sie an einer windgeschützten Stelle aufgestellt. Hofft er auf ein Wunder? Nö. Obwohl ... Er grinst. Er habe sich gewünscht, dass er genügend Aufträge kriegt und seine Kunden ihre Rechnungen sofort bezahlen: "Wenn das eintrifft, wäre das schon irgendwie ein Wunder." Eines, das er dann ­ wenigstens ein bisschen ­ dem Einfluss der Mutter Gottes von Kevelaer zurechnen würde.