Sach ma nix!

Gesammelte Wahrheiten von Hanns Dieter Hüsch


Nee, nee, an den Niederrhein, da musse schon viel Gemüt mitbringen. Wie sach ich immer: Internationales Gemüt, denn speziell der Niederrheiner stammt ja von allen Menschen ab. Dat hab ich schon mal in Kleve vor Jahren in einem Vortrag gesacht.

Also gut: Die Schönheit des Niederrheins, mein ich immer, dat is nich sone Angelegenheit, so wie man sacht, Gott is die Frau schön. Das geht tiefer. Dat krisse fast gar nich raus, warum dat so is. Auf den ersten Blick schon gar nicht. Muss ja auch nicht sein, sach ich immer, dat wär ja ne langweilige Schönheit. Nein, der Niederrhein will angeguckt werden. Und dann beginnt die große Liebe. Dat is dat Geheimnis des Niederrheins. Un wer einmal am Niederrhein war, der kommt wieder.

Da jagen sich die Rätsel: Warum is hier nix los un doch alles los. Un woanders is alles los, un gar nix los. Der Niederrhein, denk ich immer, macht einem nix vor. Da gibbet keine kalkulierte Romantik, sondern eine Musik aus Vergessen und Erinnern, un da draus entsteht das Gefühl am Ende der Welt, am Ende aller Tage zu sein. Und aus dem Altrhein bei Xanten tauchen prustend alle Vorfahren auf, als hätten sie sich verschwommen. Wer Phantasie studieren möchte, der sollte ein paar Semester an den Niederrhein kommen und dann als Lohengrin wieder in die große Welt fahren. Burgen gibt's. Schlösser gibt's und Wasserschlösser, Windmühlen und Wassermühlen, Kirchturmspitzen, Fähren und Inseln, Kunst im Schloss Moyland, Karneval in Keppeln, und komm mir nun keiner und sach, er sei nicht genannt worden.

Der Niederrheiner ist überhaupt zu allem unfähig. Er weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt: Wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts, sagt aber dauernd: Is doch logisch. Und wenn er keinen Ausweg mehr weiß, steigert er sich in eine ungeheure Assoziationskette hinein. Er kann zum Beispiel in wenigen Sätzen von Stefan Askenase, dem berüchtigten Chopinspieler, auf die Narkoseschwester Gertrud kommen.

In Homberg am Niederrhein, da sagt man nämlich nicht: "Nimm Platz", sondern da sagt man: "Geh sitzen." Dat is zwar krummes Deutsch, geh ma auf de Bank sitzen, aber sowat von gemütstief, kriegen se später nie wieder, nie.

Wenn ich mir heute ein Jugendbildnis von Joseph Beuys anseh, das mit dem weißen Hemd und dem offenen Kragen, wo er so vor sich hinblickt, das ist das niederrheinische Auge, das bis in die letzten Winkel der Welt sieht.

Die meisten Niederrheiner sind ja auch durch de Bank schwermütig. Also nicht durch de Bank, obwohl manche sind auch durch de Bank schwermütig.

Wir sind unsere eigenen Philosophen. Und wenn der Rheinländer auf die Frage "Wie isset?" "Gut" sagt, dann sagt der Niederrheiner: "Wie sollet sein?" Ja, aus uns krisse so schnell nix raus.

Das ist ja der Choral des Niederrheiners: Wat willze machen. An sonem Tag biss einfach aufgeschmissen, und dann ist der Niederrheiner auch noch aggressiv gehemmt.

Wenn der Niederrheiner mal ausnahmsweise etwas weiß, dann weiß er dat aber auch ganz fest bis an sein Lebensende, bis in alle Ewigkeit. Auch wenn et gar nich stimmt. Un meistens stimmt et nich.

Die einen haben et und die anderen müssen et erfinden. Ich sag, Herr Pastor, wat am Niederrhein nich alles schon erfunden worden is in der Hinsicht, nur um sich über Wasser zu halten, da müssten Sie dreimal am Tag predigen, um dat alles unterzubringen.

Da gibbet am Niederrhein Hunderte von. Alles Verrückte, die keiner Fliege was zuleide tun. Höchstens sich selbst.

Sagte ich später zu meiner Frau: Warum ich da in aller Ruhe sitzen wollte und immer "ja natürlich" gesagt habe und die Welt über mich ergehen ließ. Scheusal, sagte meine Frau. Ja natürlich, sagte ich. Der Niederrheiner ist eben der Mongole unter den Rheinländern.

Der Niederrheiner braucht ja eigentlich nur sich, mehr muss dat gar nicht sein, weil de so viel mit sich selbst zu tun hat, von morgens bis abends. Da kommt der auf dem flachen Land gar nicht zu Ruhe, weil de ewig am bosseln un am prakesieren un am rennen is, aus de Küch innet Krankenhaus, dann auf en Kirchhof und dann wieder zurück inne Küch.

Ein Schluri, weil ich hab de Kopp zu voll. So sagt man auf Niederrömisch. So haben die alten Römer früher am Niederrhein gesprochen.

Er möchte unauffindbar sein, sagt er immer, damit er seine völlig Ruhe hätte. Davon hätte er schon als Kind geträumt, am unteren Niederrhein möchte er unauffindbar sein. Hat er an der Theke von Hein Lindemann allen verkündet: unauffindbar. Da hamwer alle ganz bedöppelt ausgesehn.

Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Ruhr Zeitung / Neuen Rhein Zeitung (NRZ); Zitatauswahl von Karen Kliem aus: H. D. Hüsch / Hein Driessen, "Mein Traum vom Niederrhein" (3. Auflage 2003, ISBN 978-3-87463-244-7, Mercator-Verlag, Duisburg); H. D. Hüsch "Zugabe" (Köln 2003, LKO Verlagsgesellschaft/Kiepenheuer & Witsch); H. D. Hüsch "Und sie bewegt mich doch" (Mainz 1985, Soloprogramm)