Et is wie et is

Keine andere deutsche Stadt ist so sehr von der Braunkohle geprägt wie Grevenbroich. Nirgendwo sonst wird pro Kopf so viel Strom erzeugt ­ und so viel klimaschädliches Kohlendioxid. Die Menschen in der selbst ernannten "Bundeshauptstadt der Energie" haben sich mit den riesigen Kraftwerken, den monströsen Baggern und der Feinstaubbelastung arrangiert. Etwas anderes bleibt ihnen auch nicht übrig. Denn wie es aussieht, bleibt die Kohle Grevenbroichs Zukunft.




Es war schon ein politisches Statement der besonderen Art, als Angela Merkel im August 2006 in Grevenbroich-Neurath auftauchte. In der linken Hand einen Stein, in der rechten eine Maurerkelle, legte die grün gewandete Bundeskanzlerin symbolisch den Grundstein für eines der modernsten Braunkohlekraftwerke der Welt. Umringt vom damaligen RWE-Chef Harry Roels, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und anderen hohen Herren in Anzug und Krawatte, erklärte Angela Merkel, der Energieträger Braunkohle sei für die Bundesrepublik ganz wesentlich. "Wir wissen diese Investition zu schätzen", sagte sie zu den Energie-Managern. Anschließend trank man ein Glas Schnaps auf das Kraftwerk, während im Hintergrund rauchende Schlote und turmhohe Kräne eine stimmige Kulisse für die Pressefotografen abgaben.

Der Auftritt der Kanzlerin auf einer der größten Baustellen Europas sollte publikumswirksam und unmissverständlich zeigen: Kohle ist für Deutschland eine Zukunftsenergie. Noch vor wenigen Jahren galt sie als Energielieferant als passé. Inzwischen erlebt sie eine Renaissance ­ und so, wie die Stromkonzerne die Atomenergie wieder hochleben lassen, tun sie es auch mit dem Stoff, der schon die Industrialisierung angefeuert hat.

Weltweit ist Kohle noch immer für 40 Prozent der Elektrizitätserzeugung verantwortlich, in Deutschland sorgt sie sogar für knapp die Hälfte des Stroms. Die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris geht davon aus, dass die Nachfrage nach Kohle in den kommenden Jahren dank hoher Öl- und Gaspreise sowie unberechenbarer Potentaten von Moskau bis Teheran weiter zunehmen wird. Der Rohstoff gilt als vergleichsweise günstig ­ und vorrätig bis weit ins 23. Jahrhundert. Deshalb wird die Zahl der weltweiten Kohlekraftwerke auch weiter wachsen: laut IEA in den kommenden zwanzig Jahren von rund 2000 auf etwa 5000.

Auch am Niederrhein ist die Kohle präsenter denn je. Kein Wunder, beherbergt die Region doch Europas größte zusammenhängende Lagerstätte für Braunkohle, was Deutschland zum weltgrößten Produzenten macht. Je nach Schätzung reichen die Reserven vor Ort für 230 bis 430 Jahre ­ eine rosigbraune Zukunft.

Dagegen neigt sich das Kohlezeitalter im benachbarten Ruhrgebiet bald dem Ende zu. Der Abbau der dort lagernden Steinkohle, die tief aus der Erde geholt wird, ist spätestens 2018 Geschichte. Die Räder der meisten Fördertürme stehen heute schon still. Für die Betreiber der Steinkohlekraftwerke ist es billiger, ihren Heizstoff aus China oder den USA zu importieren.

Weil Steinkohle einen höheren Heizwert als Braunkohle hat, lohnt sich das Geschäft dennoch: Im vorpommerschen Lubmin will der dänische Energieversorger Dong Energy deshalb ein neues Kraftwerk errichten. In Hamburg baut Vattenfall an einem riesigen Meiler. Wegen des hohen Kohlendioxid-Ausstoßes bei der Kohleverbrennung sind beide Projekte höchst umstritten. In Mecklenburg liefern sich Umweltschützer und Touristiker mit den Verantwortlichen erbitterte Gefechte, in Hamburg hätten die Querelen um die Genehmigung des Kraftwerks Moorburg die Grünen als CDU-Koalitionspartner fast zerrissen.

In Grevenbroich ist man da deutlich entspannter. Zwar protestierten auch hier Umweltschützer gegen das neue 2100-Megawatt-Ungetüm von RWE, doch hat man sich in der Niederrheinischen Bucht mehr oder weniger an das Leben mit der Kohle gewöhnt. Zeit genug dafür gab es: Beim Königlichen Bergamt in Düren wurde schon vor 150 Jahren ein Braunkohle-Fund gemeldet, 1907 wühlte die Grube "Rheingold" als erster Tagebau im Nordrevier die Erde zwischen den Dörfern auf.

Selbst die wenigen Erhebungen der Region wurden mit viel Energie geschaffen: Der Kühlturm des Kraftwerks Nieder-außem ist mit 200 Metern der höchste der Welt, die Vollrather Höhe ­ gut 187 Meter über Normalnull ­ ist eine durch den Abbau der Flöze entstandene Abraumhalde. Von oben mutet sie an, als hätte eine gigantische Schaufel sich einmal tief unter die Landschaft geschoben und das Erdreich einige Kilometer weiter aufgeworfen. Man muss schon genau hinschauen, um die 13 Windräder auf der Spitze des Hügels zu sehen, die wie zum Trotz dort oben stehen.

Angesichts des Kohle-Comebacks passt gut ins Bild, dass die Sonne tief im Wes-ten nicht länger verrußt: Ein knappes Vierteljahrhundert nach Herbert Grönemeyers Hymne an sein "Bochum" ist der Himmel über Grevenbroich zumindest an Sommertagen weitgehend blau. Geblieben sind unsichtbare Emissionen und Staub. Eine Kilowattstunde Kohle gilt als gut doppelt so klimaschädlich wie Gas. Selbst ein modernes 1000-Megawatt-Kohlekraftwerk setzt pro Jahr mindestens sechs Millionen Tonnen Kohlendioxid frei ­ mehr als die Abgase von zwei Millionen Autos. Ganz zu schweigen von der Belastung durch Feinstaub. Die ist laut dem Braunkohleausschuss der Bezirksregierung Köln in Grevenbroich ganz erheblich.

Ende 2007 lebten in der Stadt exakt 64304 Einwohner. Die meisten wischen relativ gelassen regelmäßig ihre Gartenmöbel ab. Wasser hilft, Haus und Hof vom Staub zu befreien. Vor Ort werden deshalb Fließbänder und Fahrzeuge abgespritzt, Wege feucht gehalten und Verladestationen beregnet.

Man hat sich mit der Braunkohle arrangiert in Grevenbroich. Doch das hier ist immer noch das Rheinland. Hier gilt zwar: Et is wie et is. Aber auch: Gut, dass wir darüber gesprochen haben.

Dr. Axel Prümm, 51, Bürgermeister von Grevenbroich

Als ich im Oktober 2004 Bürgermeister wurde, hatte ich zwei große Ziele: Grevenbroich sollte neues Selbstvertrauen bekommen ­ und die Stadt musste dringend raus aus den Schulden. Denn trotz der Kraftwerke von RWE und obwohl viele Unternehmen hier ihre Gewerbesteuer zahlen, stand die Stadt mit mehr als 100 Millionen Euro in den roten Zahlen.

Was sich seitdem geändert hat? Für das Selbstvertrauen haben wir einen neuen Slogan gesucht. 800 Vorschläge sind eingegangen, 80 Prozent davon hatten etwas mit Energie zu tun. Wir Grevenbroicher fühlen uns der Braunkohle offenbar stärker verbunden, als man sich das von außen vorstellen kann. Schließlich haben wir uns für den Vorschlag "Bundeshauptstadt der Energie" entschieden. Denn genau das ist Grevenbroich: Hier wird mehr Strom produziert als in jeder anderen deutschen Stadt. Und hier leben energiegeladene Menschen ­ in allen Lebensbereichen. Der Slogan hat uns geholfen. Er führt dazu, dass Presse, Rundfunk und Fernsehen jetzt häufiger über Grevenbroich berichten. Das ist gut für die Stadt. Streitig machen kann uns den Titel "Energiehauptstadt" in den kommenden 30 Jahren übrigens niemand ­ wir haben ihn inzwischen beim Patentamt als Marke eintragen lassen.

Die Kraftwerke und die Braunkohle machen uns stolz. Sie bringen aber auch Belastungen mit sich. Grevenbroich wird in absehbarer Zeit kein Luftkurort werden. Deshalb muss die Technik immer weiter verbessert, die Abgasbelastung weiter reduziert werden. Davon abgesehen, leben wir hier aber ganz hervorragend, und es gibt jede Menge guter Gründe dafür. Die beiden wichtigsten: Man hat hier einen attraktiven, sicheren Arbeitsplatz. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,7 Prozent ­ so niedrig wie noch nie. Und: Grevenbroich ist zwar geprägt von der Großindustrie, hat aber auch wunderschöne Naturlandschaften. Die Erft zieht sich wie ein grünes Band mitten durch die Stadt. Weite Teile des Stadtgebietes sind grün geprägt, unsere Landwirtschaft blüht ­ und das zu erheblichem Teil auf renaturierten Böden, die keinesfalls schlechter sind als die ursprünglichen Flächen.

Und die roten Zahlen in der Stadtkasse? Seit meinem Dienstantritt wurden 60 Mil-lionen Euro an Schulden abgebaut ­ und zwar real, also ganz ohne Tricksereien und ohne Tafelsilber zu verscherbeln. Das ist der beste Wert in ganz NRW. Dieses Ergebnis liegt zum Teil an den Anstrengungen der Stadt, aber ganz sicher auch daran, dass die hier angesiedelten Unternehmen ein paar wirklich gute Jahre hinter sich haben.

Um die Zukunft von Grevenbroich ist mir überhaupt nicht bange. Stichwort demografischer Wandel: Alle Berechnungen zeigen, dass die Stadt nicht schrumpfen, sondern im Gegenteil weiter wachsen wird. Deshalb haben wir gerade ein Neubaugebiet erschlossen, das mehr als 2000 Bürgern ein neues Zuhause bieten wird. Grevenbroich ist Zuzugsgebiet ­ und wird es vermutlich auch noch eine ganze Weile bleiben."

Arno Lorenz, 47, Führer des Riesenbaggers "288"

Der Arbeitsplatz steht über allem. Bei mir können Sie das sogar wörtlich nehmen. Ich throne weit über den Köpfen aller anderen. Aus meiner Kabine sieht die Landschaft unten aus wie ein überdimensionaler Sandkasten. Das macht es manchmal auch leichter: Ich habe zum Beispiel lange in Otzenrath gewohnt, einem der Orte, die der Braunkohle weichen mussten. Manche Leute fragen mich, ob das nicht ein komisches Gefühl sei, meine alte Heimat abzubaggern. Aber da vorne, wo sich das Schaufelrad dreht ­ das ist so weit weg, da sehe ich gar keine Einzelheiten. Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren im Tagebau, und jetzt halt in Garzweiler II.

Ich glaube schon, dass mein Arbeitsplatz etwas Besonderes ist, ein Job, von dem viele als Kinder geträumt haben. Meine Maschine ist 240 Meter lang und 90 Meter hoch. Die Schaufel ist so hoch wie ein siebenstöckiges Haus. Da spürst du schon so etwas wie Ehrfurcht. Der 288er ist der größte Bagger der Welt.

Natürlich mache ich meine Arbeit nicht allein, das geht bei solchen Dimensionen gar nicht. Man arbeitet im Team mit vier, fünf Mann. Einer sitzt im Führerhäuschen, einer am Schwanzende, zwei laufen unten mit und kontrollieren. Und dann gibt's noch den Gruppenleiter. Wir unterhalten uns per Funk, und inzwischen fahren wir per GPS, also nach Satellitendaten.

Ich wohne jetzt in Neu-Otzenrath und fühle mich eigentlich ganz wohl da. Wir haben eine gute Dorfgemeinschaft, ich habe den Eindruck, dass alle hier zufrieden sind. Es gibt wieder einen Bäcker, einen Obstladen und ein Blumengeschäft. Natürlich wurde das alles erst in den letzten Jahren gebaut, das sieht man noch, klar. Aber das gibt sich. Die beiden Kirchen sind ebenfalls neu, auch wenn wir jetzt keine eigene Gemeinde mehr sind. Die Wege zu den Supermärkten und zur Arbeit sind nicht länger als im alten Dorf, unser Garten ist sogar ein bisschen größer als im alten Haus. Wir haben in Otzenrath zur Miete gewohnt, deshalb fiel mir und meiner Familie der Umzug bestimmt leichter als den Hausbesitzern. Aber von den 2000 Bürgern sind fast 1500 mit nach Neu-Otzenrath gekommen. Das zeigt doch, dass die meisten zufrieden sind.

Die Umweltfragen muss man natürlich stellen, aber das Wichtigste ist, dass ich einen guten Job habe und meine Familie ernähren kann. Außerdem machen wir ja etwas Sinnvolles ­ die Kohle, die wir hier abbaggern, deckt 15 Prozent des Strombedarfs in ganz Deutschland!"

Hans Lawrenz, 54, Gastwirt im Hotel und Restaurant

"Alte Backstube"

Wer von außerhalb kommt, denkt, ganz Grevenbroich sehe durch den Tagebau aus wie eine Mondlandschaft. Aber das stimmt überhaupt nicht. Ich gehe 300 Meter mit meinem Hund vor die Tür und stehe mitten in der Natur, mitten im Wald. Das glaubt keiner, der es nicht gesehen hat. Natürlich wird die Erde abgebaggert. Aber danach werden alle Löcher wieder aufgefüllt ­ gesteuert per Satellitenüberwachung. Die RWE weiß ganz genau, welcher Boden woher kommt und wohin er gebracht werden muss. Das wird mit einem irren Aufwand betrieben. Ich finde sogar, dass die Landschaft nach der Renaturierung bei uns besser aussieht als vorher. Da wachsen Pflanzen, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen habe. Wunderschön ist das. Deshalb finde ich, dass die Kraftwerke und der Tagebau unsere Lebensqualität eher positiv beeinflussen.

CO2 ist natürlich ein Thema, das kann niemand ernsthaft bestreiten. Nicht bezogen auf den Alltag, weil man CO2 nicht riechen oder sehen kann. Davon merkt man erst mal nix. Aber das Klima verändert sich dadurch. Deshalb ist das neue Kraftwerk eine gute Sache. Es bläst weniger Kohlendioxid in die Luft. Wenn es fertig ist, kann man die älteren Kraftwerke endlich abschalten. Außerdem arbeitet man auch schon an Verfahren, das CO2 zu verflüssigen.

Unsere Braunkohle macht Deutschland unabhängiger von Öl und Gas. Davon profitieren alle. Umgekehrt hat auch Grevenbroich was davon: Ohne die Kohle und die drei Kraftwerke wären wir doch absolutes Notstandsgebiet. Wir sind wirtschaftlich sehr abhängig von dieser Industrie. Das betrifft alle Bereiche, auch die Gastronomie. Mein Hotel liegt nur vier Minuten von der Kraftwerk-Großbaustelle Neu-rath entfernt. Und unsere Übernachtungsgäste haben praktisch alle etwas mit den Kraftwerken zu tun, das sind Arbeiter auf Montage, Ingenieure, Geschäftsleute. Viele meiner Gäste arbeiten für die RWE, und ich kenne keinen, der unzufrieden wäre. Das will ich auch mal sagen.

Wir Grevenbroicher sind glücklich an dem Ort, an dem wir leben. Auch wenn man von außen vielleicht nur die Kraftwerke sieht. Grevenbroich wird unterschätzt, der Freizeitwert hier ist wirklich enorm. Der Tagebau hat sich von der Stadt immer weiter entfernt. Bloß manchmal, wenn es im Sommer länger nicht geregnet hat und der Wind ein bisschen stärker weht, dann sieht man den Kohlenstaub überall. Aber das passiert nur noch selten. Ich habe ein paar Jahre in Südafrika zugebracht. Die Luftwerte von Johannesburg sind zum Teil wesentlich schlechter als in Grevenbroich. Aber zugegeben, ich bin nicht wegen der guten Luft zurückgekommen, sondern weil die Kriminalität dort unten immer schlimmer wurde. Aber vielleicht bin ich auch gerade deswegen ein gutes Beispiel: Der Grevenbroicher merkt erst, wenn er weg ist, was er verpasst."

Dr. Eberhard Uhlig, 52, Leiter des RWE-Kraftwerks in

Grevenbroich-Neurath

Der Braunkohle gehört die Zukunft. Wir in Grevenbroich wissen das längst. Wer hier vorbeikommt, kann das mit eigenen Augen sehen: In Neurath entstehen auf einer der größten Baustellen Europas zwei hochmoderne Kraftwerksblöcke, BoA 2 und BoA 3. Die Abkürzung steht für "Braunkohlekraftwerksblöcke mit optimierter Anlagentechnik". Da verbauen wir neueste Technik für 2,2 Milliarden Euro ­ und bald produzieren wir damit 2100 Megawatt Strom, mehr als jedes Kernkraftwerk in Deutschland.

Über die Wahl des Titels "Bundeshauptstadt der Energie" habe ich mich gefreut. Wir haben in Grevenbroich ja eine jahrhundertealte Tradition in der Energieerzeugung: Seit dem 19. Jahrhundert wird hier Braunkohle gewonnen, Brikettfabriken gibt es seit hundert Jahren, und Frimmersdorf war lange das größte Wärmekraftwerk der Welt.

Was viele vergessen: Bei solchen Großprojekten geht es niemals nur um Strom. Sondern auch um neue Ideen und technische Innovationen ­ viele davon betreffen auch die Umwelt. Was wir hier erfinden und entwickeln, wirkt weit über die Grenzen von Deutschland hinaus. In Neurath wird bald das weltweit modernste Braunkohlekraftwerk stehen. Mit anderen Worten: Grevenbroich war und ist auch ein Innovationsstandort. Darauf sind wir stolz.

Mag sein, dass es auch immer wieder Kritik an der Braunkohle gegeben hat. Man darf dabei aber eines nicht vergessen: Wir stehen mit unserer Stromerzeugung im internationalen Wettbewerb. Und den gewinnt man nicht auf dem technischen Niveau der sechziger Jahre. Man muss Kraftwerke immer wieder erneuern. Die neuen BoA-Blöcke haben einen Wirkungsgrad von mehr als 43 Prozent. Sie werden damit mehr Strom pro Tonne Braunkohle erzeugen als jedes andere Kraftwerk der Welt. Zum Vergleich: In Frimmersdorf erreichen wir einen Wirkungsgrad von gerade mal 31 Prozent, das ist ein Drittel weniger. Diese alten Blöcke werden abgeschaltet, wenn das neue Kraftwerk Neurath ans Netz geht ­ dadurch werden der Umwelt jährlich rund sechs Millionen Tonnen CO2 erspart. Das ist ein aktiver Beitrag zum Klimaschutz. Natürlich macht mich das als Leiter der Standorte auch ein bisschen stolz.

Ich bin mir übrigens sicher, dass die heimische Braunkohle auch künftig eine wesentliche Säule unserer Energieversorgung sein wird. Ich sehe dazu gar keine Alternative ­ Braunkohle ist unverzichtbar, aus mehreren Gründen. Erstens gehen internationale Studien von einer Verdreifachung des weltweiten Strombedarfs bis 2050 aus. Gleichzeitig sinken in dieser Zeit die verfügbaren Ressourcen an Gas und Öl. Zweitens haben wir Braunkohle hier vor Ort und bis 2045 auch schon Abbaugenehmigungen. Und die kann nicht nur zur Stromerzeugung verwendet werden, sondern auch als Ersatz für Gas- und Ölprodukte wie etwa Benzin. Und drittens entwickelt unser Unternehmen gerade Kraftwerke, in denen Kohlendioxid abgetrennt und unterirdisch in Gesteinsschichten gespeichert werden kann. Die erste dieser Anlagen plant RWE ab 2014 in Hürth bei Köln.

Aber was kommt nach 2045? Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wir sind froh, so eine lange Planungssicherheit zu haben. Im rheinischen Revier lagern neben den bereits genehmigten vier Milliarden Tonnen noch weitere 55 Milliarden Tonnen Braunkohle. Darin steckt also so viel Energie wie in den Gas- und Ölvorkommen der gesamten Nordsee. Das sind die Fakten. Ob wir diese Energie wirklich nutzen wollen, ist jedoch allein die Entscheidung der Politik."

Christoph Landsky, 18, Sänger der Band "Haertefall"

Wenn man hier einen Tisch draußen stehen hat und abwischt, sieht der nach drei Tagen aus wie vorher. Die Fenster genauso. Alles ist voller Staub. Man kann auch sehen, wie Wolken über den Kraftwerken entstehen. Und durch die vielen Partikel in der Luft schneit es im Winter häufiger. Industrieschnee, schön grau.

An die Luft haben wir uns gewöhnt. Aber die Eltern von Max, unserem Gitarristen, bekommen ab und zu Besuch aus Hamburg. Die sind den ganzen Tag nur am Husten! Die Luft ist so schlecht, sagen sie ­ obwohl Hamburg viel größer ist als Grevenbroich, ist die Luft dort so viel besser als hier. Das ist krass, oder?

Die versuchen schon was zu tun. Die neuen Kraftwerksblöcke sollen wohl viel mehr leisten und dabei weniger Schadstoffe rausballern. Aber bei drei Kraftwerken macht das keinen großen Unterschied mehr, glaube ich. Und vor allem beim Braunkohletagebau gerät einiges an Staub in die Luft. Den wird man kaum filtern können.

Dafür, dass wir drei Kraftwerke haben, ist ganz schön wenig Energie in Grevenbroich spürbar. Von den Menschen her, meine ich. In der Jugendarbeit passiert nicht viel. Wir haben gerade mal zwei Konzerträume, ein Kino, die Kegelbahn ist weg. Und Probenräume sind Fehlanzeige, wir improvisieren immer nur. Vor einem Jahr haben wir uns mit der Unabhängigen Wählergemeinschaft zusammengesetzt, ob die Stadt Proberäume sponsert. Aber da kommt nichts. Viele Jugendliche hängen im Stadtpark rum und saufen und kiffen, weil es kaum Angebote gibt. Da ist es doch besser, Bands zu fördern, oder?

2007 haben wir den ersten offiziellen Band-Contest der Stadt Grevenbroich gewonnen. Uns gibt es aber schon vier Jahre länger. Die meisten Texte schreiben wir gemeinsam, wir sprechen darüber, was uns ankotzt, und sagen dann: Lass uns mal einen Song draus machen. Klar, Grevenbroich liefert auch ein paar Anhaltspunkte. Aber wir gehen eine Stufe weiter. In dem Song "Glück auf" erzählen wir, wie viel die Leute teilweise arbeiten müssen und wie wenig sie dabei verdienen. Da geht es um einen, der unter Tage schuftet und von seinem Boss angetrieben wird, sich totzuarbeiten: "Untertage lebe ich / Im Dreck ist stets mein Angesicht / Die harte Arbeit wird zur Last / Jahr um Jahr und ohne Rast / Meine Venen sind voller Staub / Meine Ohr'n vom Lärm hier taub / Das Augenlicht wurd' mir gestohlen." Mit diesem Lied wollten wir den Arbeitern unseren Respekt erweisen. Alles dreckig, staubig, eng und gefährlich. Heute machen zum Glück die Maschinen das meiste.

Unsere Bandfotos haben wir in Holz und Otzenrath gemacht. Das sind Orte, die jetzt bald vom Tagebau-Bagger in Garzweiler gefressen werden. Wir wollten Fotos bekommen, die zu dem passen, was wir musikalisch machen, und so ein Trümmerhaufen ist da ziemlich treffend. Die Orte sind wirklich einmalig ­ richtige Geisterstädte, das gibt es sonst nirgends in Deutschland. Ab und zu fährt ein Fahrradfahrer vorbei, ansonsten ist alles tot: Da stehen nur Häuser mit zugenagelten Fenstern oder halb abgerissene, in denen du rumturnen kannst. Das ist wie im Western, man glaubt im ersten Moment nicht, dass das noch Deutschland ist. Da steht noch ein Verkehrsschild, das völlig bemoost ist, und dann hört irgendwann die Straße einfach auf. Eine Kreuzung, danach ein Hubbel, und dahinter geht es tief in die Grube hinunter.

Früher wurden die Orte als Riesenspielplatz benutzt. Irgendwelche Kids haben da Krieg gespielt und mit Steinen die Fenster eingeschmissen. Aber im Endeffekt hat das keinem geschadet. Es gehört zwar der RWE, aber die baggern die Häuser irgendwann sowieso weg. Trotzdem kontrollieren sie jetzt härter. Als wir die Fotos gemacht haben, kamen irgendwann die Typen vom Werkschutz in ihrem Wagen vorbei und sagten uns, dass wir nicht auf die Grundstücke dürfen. Da waren wir aber schon fertig mit den Fotos."

Theo Offermann, 65, Bankkaufmann in Rente und Mitglied im Tambourkorps "Heimattreue" Elfgen von 1922

Im Januar 1975 sind wir nach Grevenbroich gezogen. Unser Viertel heißt Neu-Elfgen. Das alte Dorf Elfgen wurde vom Tagebau abgebaggert. Es existiert heute nicht mehr. Wir wurden von der Firma Rheinbraun (heute RWE Power, Anm. d. Red.) damals ziemlich stiefmütterlich behandelt. Deshalb ist die Firma für mich ein rotes Tuch geworden.

Aus übergeordneten Gesichtspunkten habe ich die Umsiedlung immer akzeptiert. Allerdings hieß es schon Mitte der fünfziger Jahre: Ihr müsst da weg. Ich weiß noch, wie wir als Kinder in Protestmärschen mit schwarzen Fahnen durchs Dorf gezogen sind. Seit dieser Zeit bestand für Elfgen praktisch ein Bauverbot. 20 Jahre lang! Die Infrastruktur des Dorfes war am Ende natürlich völlig verkommen. Etwa zwei Drittel der Dorfbewohner haben in dieser Zeit einfach aufgegeben, die waren völlig entnervt und sind weggezogen. In den siebziger Jahren gab's dann endlich die Möglichkeit zum Umsiedeln nach Neu-Elfgen. Da waren nur noch eine Handvoll Familien übrig, darunter auch wir.

Die Angebote von Rheinbraun waren nicht direkt unfair. Aber nach 20 Jahren, in denen praktisch keiner mehr etwas an seinen Häusern gemacht hat, gab's dafür natürlich nicht mehr viel Geld. Das heißt: Wer in Neu-Elfgen ähnlich geräumig wohnen wollte wie früher, musste eine Hypothek aufnehmen. Wenn von den Umsiedlern gesprochen wird, heißt es manchmal: "Ihr habt einen goldenen Handschlag bekommen." Bezogen auf die Elfgener kann ich sagen: Das ist reiner Unsinn.

Unsere Umsiedlung ist aus meiner Sicht ganz miserabel vonstatten gegangen. Heute läuft das unter anderen Vorzeichen ab, viel besser. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten damals schon die Grünen gehabt oder Politiker wie die Bärbel Höhn. Die hätten politisch mehr Dampf gemacht. Aber so konnte uns die Rheinbraun am langen Arm verhungern lassen.

Der Kern der Neu-Elfgener hat immer zusammengehalten. Wir haben auch unsere Vereinsstrukturen nach Grevenbroich hinübergerettet: Schützenverein, Fußballklub und Tambourkorps sind quasi mit umgezogen. Und die Kirche auch.

Manchmal muss ich schon noch an unser altes Dorf denken und an mein Elternhaus. Das Dorf lag ganz idyllisch, eigentlich ungewöhnlich für die Verhältnisse am Niederrhein. Es befand sich in einer Talmulde zwischen zwei tüchtigen Anhöhen. Das wäre heute ein schmucker Ort mit regem Zuzug. Diese Lage haben wir anfangs sehr vermisst. Heute, nach 34 Jahren, hat man das alles natürlich überwunden. Aber ein bisschen Wehmut ist geblieben.

Inzwischen bin ich seit 50 Jahren in unserem Tambourkorps aktiv. Das ist ein Stück Heimat, das mir erhalten geblieben ist. Ich habe als 15-Jähriger dort angefangen, Querflöte zu spielen, und mache das auch heute noch. Nach wie vor sehe ich mich zuerst als Elfgener und erst danach als Grevenbroicher.

Mir ist klar, dass wir immer gut von der Braunkohle gelebt haben. Wir können bei Besuchern nicht mit einer intakten Landschaft punkten. Aber dafür haben wir sichere Arbeitsstellen. Meine Familie und ich haben gelernt, mit Rheinbraun und der Grube zu leben. Viele andere sehen das ebenso, sonst wären sie wohl nicht mehr hier. Der Kreis meiner Bekannten ist nicht eben klein. Ich würde sagen, dass etwa 90 Prozent davon bei Rheinbraun, RWE oder einem der kleinen Zulieferbetriebe arbeiten. Der Spruch von der "Bundeshauptstadt der Energie" erregt offenbar einige Aufmerksamkeit. Das ist nach meinem Dafürhalten in Ordnung ­ ich kann das akzeptieren."

Rolf Behrens, 50, Umweltschützer beim BUND

Ich bin ziemlich viel auf dem Rennrad unterwegs, aber ich brauche überhaupt keine Karte: Dank der Dampfschwaden aus den Kühltürmen unserer Kraftwerke kann ich mich immer orientieren und weiß, wo Grevenbroich liegt. Nein, im Ernst: Das, was man nicht sieht, ist viel schlimmer: das Kohlendioxid. Strom aus Braunkohle zu gewinnen ist die beste Methode, um die Klimaerwärmung anzuheizen.

Für mich sind wir deshalb nicht die Hauptstadt der Energie, sondern die Hauptstadt des Kohlendioxid-Ausstoßes. Grevenbroich erzeugt in Deutschland die meisten Kilowattstunden je Einwohner, aber eben auch die meisten Tonnen CO2 pro Kopf. Kanzlerin Merkel erzählt immer, wie wichtig ihr der Klimaschutz sei. Und gleichzeitig blasen wir weltweit jedes Jahr mehr CO2 in die Atmosphäre. Die Polkappen sind bald geschmolzen, und wie 2030 mitten im Klimawandel die Erde aussehen wird, kann sich heute niemand ausmalen.

Ich habe eine elfjährige Tochter, da macht man sich schon Gedanken. Daher demonstriere ich gegen noch mehr Braunkohlekraftwerke. Dass durch neue Anlagen weniger CO2 ausgestoßen würde, stimmt nur, wenn sie die gleiche Strommenge erzeugen wie die alten ­ sie sollen aber viel mehr produzieren! Außerdem bedeuten 43 oder selbst 45 Prozent Wirkungsgrad, dass immer noch mehr als die Hälfte der Energie durch den Schornstein rausgeht. Kleine, dezentrale Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung haben einen Wirkungsgrad von 80 bis 90 Prozent.

Und dann laufen die neuen Kraftwerke wieder mindestens 40 Jahre, sonst rechnet sich das nicht für die RWE. Also bis 2050. Da sind wir mitten im Klimawandel drin. Und die alten Dreckschleudern werden bestimmt nicht abgeschaltet. Das hatte RWE 1994 zwar zugesagt, allerdings mit der Einschränkung, dass sie dafür das Tagebaugebiet Garzweiler I um 40 Quadratkilometer erweitern dürfen. Die rot-grüne Landesregierung hat damals zugestimmt: ,Kraftwerkserneuerungsprogramm' hieß das Paket und war mehr als zehn Milliarden Euro schwer. Aber was ist passiert? In Garzweiler II wird längst Kohle abgebaut, 2003 hat RWE den neuen Block im Kraftwerk Niederaußem hochgefahren ­ und die alten sind immer noch nicht abgeschaltet.

Ab 2012 werden hoffentlich CO2-Zertifikate gehandelt und nicht mehr wie bisher von der Bundesregierung verschenkt. Dann muss RWE solche Zertifikate für die alten Kraftwerke einkaufen, und diese Dreckschleudern werden mit einem Mal unrentabel. Dann müssen sie die Meiler abschalten. Hoffen wir zumindest. Allerdings arbeitet die Lobby in Berlin und Brüssel schon kräftig daran, Ausnahmen zu erwirken.

So wie bei den Energie-Zertifikaten der EU: Die sollen die energieintensive Industrie stärker in die Verantwortung nehmen. Aber unser Bundestagsabgeordneter Herrmann Gröhe, der gerade im Oktober zum Staatsminister bei Frau Merkel aufgestiegen ist, hat gleich erklärt, dass Aluminiumwerke Kompensationen erhalten. Hier in Grevenbroich ist Hydro Aluminium der größte Arbeitgeber. Nachtigall, ick hör dir trapsen.

Wir wohnen im Stadtteil Orken, da ist die Windrichtung meistens günstig, sodass wir vom Tagebau nicht viel mitbekommen, vor allem den Grobstaub nicht. Wenn Besuch kommt, fahren wir aber eigentlich immer zum Loch. Die schiere Größe der Grube und des Baggers, das ist schon beeindruckend. Und eine Meisterleistung der Ingenieure ist es auch. Dass da Tausende ihre Heimat verloren haben, die Erft umgelegt werden musste und enorme Mengen an Grundwasser noch immer weggepumpt werden, steht auf einem anderen Blatt."