Die Niederrheinlande

Egal, wo man sich am Niederrhein befindet, die Niederlande sind nur einen Steinwurf entfernt. Jetzt wächst die Grenzregion zusammen ­ vor allem wirtschaftlich. Das Potenzial ist allerdings noch lange nicht ausgeschöpft, sagt Stadtplaner Helmut Hardt.




Helmut Hardt, 45, ist Geschäftsführer der Ingenieurgesellschaft StadtUmBau GmbH in Kevelaer und kennt sich mit den Niederlanden gut aus. Nicht nur, dass er von der niederrheinischen Pilgerstadt aus die Grenze immer im Blick hat. Hardt spricht auch die Sprache der Nachbarn, hat als Dozent an der Universität Nimwegen gearbeitet und kann sogar einen niederländischen Großvater vorweisen.

Zurzeit erarbeitet Hardt eine Verflechtungsstudie für den Grenzraum. Auftraggeber sind die Stadtregion Arnheim Nimwegen, die Gemeinde Nimwegen, die Stadt Kleve und die Gemeinde Kranenburg. Hardt hat Daten über Pendler, Immobilienmarkt, Infrastruktur, Unternehmer und Kultur recherchiert, um die Verflechtung der Grenzgebiete aufzuzeigen. Anfang 2009, wenn die Studie fertig ist, soll die gezielte Zusammenarbeit von Deutschen und Niederländern beginnen. Die ersten Erkenntnise:

... über den Wirtschaftsraum

In den wirtschaftlichen Oberzentren Duisburg, Krefeld und Mönchengladbach schrumpft die Bevölkerung, die Wirtschaftskraft stagniert bestenfalls. Anders die Stadtregion Arnheim Nimwegen: Sie kann auf mehrere Wachstumsjahrzehnte zurückschauen und hat noch mindestens 15 Wachstumsjahre vor sich. Die geringe Arbeitslosigkeit, hoher Fachkräftebedarf und ein hochpreisiger Immobilienmarkt in den Niederlanden führen dazu, dass sich der nördliche Teil des Kreises Kleve immer stärker "niederlandisiert". Dabei merken die Deutschen, dass die Niederländer finanziell besser dastehen. Vom "großen Deutschland" und den "kleinen Niederlanden" ist keine Rede mehr. So hat sich etwa die Situation der Grenzpendler komplett gedreht. Fuhren 1999 noch rund 14000 Niederländer und im Gegenzug nur knapp 3000 Deutsche täglich über die Grenze zur Arbeit, waren es 2005 schon 15000 Deutsche und weniger als 8000 Niederländer.

... über das Unternehmertum

Es sind mehr niederländische Firmen in Deutschland aktiv als umgekehrt. Das hat mit Sprachkenntnissen zu tun, aber auch mit der Bereitschaft, im Nachbarland wirtschaftliche Chancen zu suchen. In Kleve gibt es einen deutsch-niederländischen Business-Club, in dem sind die Mehrzahl der Mitglieder Niederländer. Allein von Kranenburg, Kleve und Emmerich aus betreiben heute rund 150 niederländische Firmen ihre Geschäfte in der Region, im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Immer häufiger interessieren sie sich auch für die Übernahme deutscher Firmen. Für die Niederlande ist die Bundesrepublik inzwischen im Import und im Export Handelspartner Nummer eins.

Umgekehrt ist das Interesse deutlich geringer: In ihrer Euphorie für die Absatzmärkte Osteuropa und China übersehen die Deutschen den Nachbarn leicht ­ dabei haben die Niederlande Frankreich beim Import bereits von Platz eins verdrängt, beim Export liegen sie immerhin schon auf Platz fünf.

... über die Verflechtung

In den deutsch-niederländischen Kommunalverbänden, den Euregios, arbeiten die Nachbarn schon fast 50 Jahre zusammen, die Verflechtungshemmnisse blieben. Die Grenze war immer da ­ physisch, bürokratisch, politisch. Das Schengen-Abkommen 1985, der Maastricht-Vertrag 1992 und die Euro-Einführung 2002 waren wichtige Meilensteine der Annäherung. Das Gefühl für einen zusammenhängenden Raum muss aber erst noch entwickelt werden.

Lediglich die niederländische "Nota Ruimte", der nationale Raumordnungsplan, weist den nördlichen Teil des Kreises Kleve als Bestandteil des städtischen Raumes Arnheim Nimwegen aus. Alle übrigen Pläne auf deutscher und niederländischer Seite hören bis heute an der Grenze auf.

So verwundert es auch nicht, dass beispielsweise Kranenburg aus Düsseldorfer Sicht über Jahrzehnte als ländliche Wohngemeinde am Ende der Peripherie galt. Tatsächlich avancierte die Stadt längst zu einem attraktiven Wohnstandort im suburbanen Umfeld von Nimwegen. Die Bürger wissen das und stimmen schon lange mit den Füßen ab, die Behörden brauchen länger. Immerhin gibt es in jüngster Zeit Überlegungen, dass Emmerich, Kleve und Kranenburg assoziierte Mitglieder in der angrenzenden niederländischen Stadtregion werden könnten, in der sich 20 Kommunen zusammengeschlossen haben.

... über Immobilien

So mancher niederländische Neubürger auf deutscher Seite fühlt sich durch den Immobilien-Boom in der alten Heimat wie ein Lottogewinner. Viele Häuser, die in den achtziger und neunziger Jahren in Nimwegen und Arnheim gekauft wurden, haben einen extremen Wertzuwachs erfahren. Nicht wenige Besitzer haben deshalb ihre Immobilie dort verkauft, um sich zu entschulden, im deutschen Grenzgebiet neu zu bauen, außerdem ein Auto und eine neue Küche anzuschaffen ­ und trotzdem blieb noch Geld übrig. In der Stadtregion Arnheim Nimwegen liegt der Durchschnittspreis für ein frei stehendes Einfamilienhaus heute bei 466000 Euro, im Kreis Kleve bei knapp 200000 Euro.

Der Preisunterschied lockt immer mehr Niederländer über die Grenze. Viele können ihren Traum vom eigenen Häus- chen im Grünen nur so realisieren. 2007 wurden 30 Prozent aller Immobilienkäufe in Kleve von Niederländern getätigt ­ 51 Prozent waren es in Emmerich und sogar 59 Prozent in Kranenburg. Durch die Nachfrage sind Boden- und Immobilienpreise deutlich gestiegen. Das ärgert deutsche Häuslebauer und freut alle einheimischen Hausbesitzer, die zu einem guten Preis verkaufen.

... über die Infrastruktur

Bei der Infrastruktur im Grenzraum besteht großer Nachholbedarf. So ist etwa die Zugverbindung zwischen Kleve und Nimwegen seit 1991 stillgelegt. Von einem früher schienentechnisch hervorragend verbundenen Stadtraum Nimwegen-Kleve, der bis in die fünfziger Jahre über eine zweigleisige Bahnverbindung und bis in die Sechziger über zwei Straßenbahnnetze mit Treffpunkt an der Grenze verfügte, ist die Region zu einer Nahverkehrs-Diaspora degeneriert, in der ein Schnellbus als Schienenersatzverkehr fungiert. Zwischen Kranenburg und Kleve fehlt zudem ein Stück der B9 als Verlängerung der Verbindung zwischen Nimwegen und Kleve.

Eine neue Bahnverbindung würde die Grenzregion stärker zusammenwachsen lassen und einen wirtschaftlichen Entwicklungsschub mit sich bringen. Inzwischen gibt es immerhin Überlegungen, auf der Bahnstrecke, die seit April 2008 von einer "Grenzland-Draisine" touris-tisch zwischengenutzt wird, künftig einen "TramTrain" einzusetzen, eine Art Regionalstadtbahn, die einen Elektro- und einen Dieselantrieb hat.

... über die Demografie

Die deutschen Kommunen sind durch den Zuzug der Niederländer von einem Bevölkerungsrückgang bewahrt worden ­ mit positiven Effekten für ihren Haushalt: Bei schrumpfenden Einwohnerzahlen wären die Schlüsselzuweisungen aus dem Landesetat gesunken.

Wären die Niederländer nicht zugezogen, würde Dynamik fehlen ­ auch mit Konsequenzen für die Kaufkraft und die lokale Wirtschaft. Die Zahlen sprechen für sich: In Kranenburg gibt es heute schon 2300 niederländische Einwohner, das ist fast ein Viertel der Bevölkerung. In Emmerich beträgt der Anteil der "niederländischen Kolonie" an der Gesamtbevölkerung immerhin zwölf Prozent, in Kleve sind es fünf Prozent. Er wird weiter steigen. Kranenburg ist zudem auf dem besten Weg, eine Studentenstadt zu werden. Hier wohnen schon 300 bis 400 Studenten aus Nimwegen, weil sie auf deutscher Seite erschwingliche Wohnungen bekommen.

... über das Einkaufen

Shoppen auf beiden Seiten der Grenze gehört in die Kategorie Erlebniskauf ­ auch ohne den Anreiz von Zollwaren. Die Krönung dieser gegenseitigen Kaufbesuche findet am 30. April und am 1. Mai statt. Erst feiern die Niederländer den Geburtstag ihrer Königin, den "Koniginnendag", und nutzen den arbeitsfreien Tag ausgiebig zum Einkaufsbummel in den deutschen Städten.

Die Deutschen revanchieren sich am "Tag der Arbeit", der ihnen die gute Gelegenheit bietet, das Geld quasi wieder über die Grenze zurückzubringen. Vor der Euro-Einführung gab es den Merksatz, dass jede dritte Deutsche Mark, die in Kleve ausgegeben wird, ein Gulden ist. In Zeiten des Euro hat sich das im Prinzip nicht geändert.

... über die Bildung

Die Schulsysteme beider Länder sind nicht kompatibel. Anders die Universitäten. Die Radboud Universität in Nimwegen hat sich das Ziel gesetzt, die Zahl der deutschen Studenten auf zehn Prozent zu erhöhen. Von 2003 bis 2007 hat sich ihr Anteil bereits mehr als verdoppelt ­ auf heute 3,7 Prozent. Die Uni geht aktiv über die Grenze und arbeitet mit deutschen Gymnasien zusammen, um Studenten anzuwerben: mit Infomaterial, Sprachberatung, Einladungen zum Tag der offenen Tür.

Mit Einführung der Studiengebühren in NRW ist für Deutsche die Hemmschwelle gesunken, im Nachbarland zu studieren, auch wenn die Gebühren dort noch etwas höher sind. Daneben lockt der gute Ruf: Nach dem zweiten Stu-dienjahr wird an niederländischen Hochschulen meist englischsprachig unterrichtet, zudem sind Bachelor- und Master-Studiengänge seit Langem etabliert und international anerkannt.

... über die Sprache

Die bilinguale Sprachkompetenz ­ die wichtigste euregionale Software ­ geht zusehends verloren. Über Jahrzehnte war der niederrheinische Dialekt, der dem Niederländischen ähnelt, das Bindeglied zu den Nachbarn. Doch der Dialekt wird immer weniger gesprochen und fristet sein Dasein an Mundartabenden für Senioren. Die Jugendlichen beider Länder unterhalten sich meist auf Englisch, zumal Deutsch als Pflichtfach inzwischen an niederländischen Schulen gestrichen wurde.

In Kranenburg werden jetzt Modellprojekte in einem Kindergarten und in einer Grundschule erprobt, die bilingualen Unterricht anbieten. Der Nachwuchs im Grenzgebiet soll künftig zweisprachig aufwachsen.

... über die Kultur

Der Umgang zwischen Deutschen und Niederländern ist entspannter geworden. Auch wenn auf deutscher Seite noch immer gern "Holländer" gesagt wird, was genauso falsch ist, wie einen Schotten als Engländer zu bezeichnen. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Niederländer einem den Patzer nicht krummnehmen. Selbst beim einst recht komplizierten Thema Fußball haben sich die beiden Nationen inzwischen angenähert. Über den alten Witz: "Wie heißt auf Niederländisch Elfmeter? ... Vorbei!" können Niederländer heute lachen, wenn er von einem Deutschen erzählt wird.

Früher war man sich übrigens allein aufgrund des Fernsehens kulturell näher. In Zeiten des terrestrischen Empfangs hatte fast jeder deutsche Haushalt eine Antenne nach Westen ausgerichtet, um "Nederland een, twee, drie" anzuschauen. Gleiches taten die niederländischen Nachbarn in östliche Richtung.

So kennen die Deutschen aus den siebziger bis neunziger Jahren die "TrosTop100 Musikcharts", umgekehrt ist den Nachbarn "Tatort" oder "Derrick" ein Begriff. In Zeiten von Kabel- und Satellitenanschluss ist der Empfang niederländischer Sender oft kostenpflichtig, deshalb schaut sie in Deutschland heute kaum noch jemand.

... über die Integration

Wenn der zugezogene Niederländer nicht gleich dem deutschen Männergesangsverein oder Fußballklub beitritt, heißt es schnell: Der integriert sich nicht. Von den niederländischen Neubürgern in niederländischen Nachbargemeinden wird allerdings dasselbe behauptet. Mit der Nationalität hat die Distanz folglich wenig zu tun ­ vielmehr mit dem Umstand: Es ziehen Städter aufs Land.

Wenn ein Düsseldorfer nach Kevelaer umzieht, wird er auch immer ein wenig Städter bleiben und vielleicht nicht sofort Mitglied im Kirchenchor werden. Über die Integrationsfähigkeit des Ausländers in Deutschland sagt das nichts. Befragungen niederländischer Neubürger in Grenzgemeinden haben jedenfalls zu einem eindeutigen Ergebnis geführt: Die zugezogenen Niederländer fühlen sich am Niederrhein sehr wohl.