In den Gärten Gottes

Niederbayern ist Deutschlands katholischste Gegend. Das Bistum verschreibt sich bürokratische Schlankheitskuren. So mancher Pfarrer nimmt sich ungeahnte Freiheiten heraus. Nur so können die Kirchen im Dorf bleiben. Eine Landpartie.




Der Moment, in dem auch Gott dem Pfarrer nicht mehr helfen kann, fällt an einem Mittwoch im April um 14 Uhr aus dem bayerischblauen Himmel hinunter auf die katholische St.-Michael-Kirche von Röhrnbach. Angekündigt hatte er sich schon fünf Tage zuvor, als das Mobiltelefon von Pfarrer Markus Krell klingelte. Die Polizei war dran: ein Unfall bei Niederpretz, ob er nicht schnell kommen könne, den Toten segnen. Gerade 18 Jahre alt, mit seinem Auto abgekommen von diesen handtuchschmalen Asphaltstraßen, die das Hügelland im Bayerischen Wald durchkreuzen. Der junge Mann stammte aus Krells Gemeinde, damit war klar: Er wird ihn beerdigen müssen.

Seit fünf Tagen spürt Markus Krell diese leichte Furcht in sich. Davor, dass die Angehörigen während der Zeremonie zusammenbrechen. Davor, dass er selbst die Tränen nicht zurückhalten kann angesichts dieses Unrechts. Dass die Sache aus dem Ruder läuft.

Nun steht er vor 400 Trauergästen in seiner weiß getünchten Kirche am Pult, spricht von Gott. "Ihr dürft an ihm zweifeln, Jesus tat es auch", sagt Krell mit fester Stimme. Seine rechte Hand schlägt in einer Mischung aus Zorn und Hilflosigkeit immer wieder auf sein Pult. Die Mitschüler des Toten singen ein Lied von Coldplay. Später am Grab lassen sie blaue, rote und gelbe Luftballons in den Himmel steigen, drangeknüpft die Wünsche fürs Jenseits.

Krell steht auf dem Friedhofsrasen mit Sonnenbrille und umgehängtem Mikrofon, auf seinem lila Gewand prangt ein Schmetterling als Symbol der Auferstehung. Von fern brummt ein Traktor. Krell barmt nicht herum, er wirkt wie ein Fels im aufbrandenden Gefühl, so lange, bis die Angehörigen Blumen auf den Sarg legen und er sich leise zurückzieht. "Es hat gut geklappt", wird er später sagen, "ich wurde ruhig, als ich merkte, ich habe die Stimmung im Griff, auch durch meine Aggressivität. So habe ich mich aber auch gefühlt. Solch eine Beerdigung, die nimmt einen schon mit."

Die Kirche lebt vor allem an den Wendepunkten des Lebens ­ der Tod gehört dazu. Gerade in Niederbayern, im Bistum Passau, der mit einem Katholikenanteil von weit mehr als 80 Prozent katholischsten Region Deutschlands. Einen Verstorbenen ohne priesterlichen Zuspruch zu beerdigen fällt hier kaum jemandem ein. Krell bringt jedes Jahr bis zu 50 Beerdigungen hinter sich. Hinzu kommen etwa zehn Trauungen, 60 Firmungen und um die 25 Taufen. Rund 5000 Mitglieder hat seine Gemeinde, der Pfarrverband Röhrnbach/Kumreut, etwa 15 Kilometer im Quadrat, knapp 25 Kilometer nördlich von Passau. Zwei kleine Ortschaften, zudem rund 30 Weiler oder einzelne Gehöfte, eingebettet zwischen Wiesen und Wald. Krell ist der Pfarrer, zuständig für Leben und Tod, zwischen Himmel und Erde. Es gibt noch eine Gemeindereferentin und einen Ruhestandsgeistlichen und rund zehn Kirchenaustritte pro Jahr.

Gute niederbayerische Verhältnisse, wo die Kirche noch im Dorf ist. Wo sie Alltag ist, in den man hineingeboren wird, immer noch. Wo sie Halt und Gemeinschaft bietet. Wo sie heute aber ihren Weg finden muss zu den Menschen trotz Priestermangel und knappen Finanzen. Wo sich die Religion behaupten muss.

"Das ist keine heile Welt hier", sagt Krell, am Küchentisch im hellgelb gestrichenen Pfarrhaus mitten in Röhrnbach. Krells Haushälterin hat Schweinefilets gemacht, mit Spargel und Bratkartoffeln. "Die Kirche ist oft zu vergeistigt", meint der Pfarrer, "es fehlt das Gefühl." Von seinem Küchenfenster aus kann Krell die Konkurrenz fast sehen. Schräg gegenüber hat sich eine Freikirche angesiedelt, der Parkplatz ist voll, beschwingte Musik und enthusiastisches Beten dringt aus den gekippten Fenstern. Zudem sind die Bauern in der Region weniger geworden, einst waren sie die Stützpfeiler der Kirche. Die Globalisierung wirkt längst hinein in diesen Winkel ganz im Südosten der Bundesrepublik. Die Leute pendeln zur Arbeit, etwa zu BMW nach Dingolfing oder gleich nach München. Dann sind sie nur noch am Wochenende zu Hause. "Und dann wollen sie endlich einmal ausschlafen", sagt Krell. "Ich kann gut verstehen, dass sie am Sonntag nicht zum Gottesdienst kommen." Die Besucherquote schätzt er auf 15 Prozent.

Das Ziel heißt nicht Kirche, sondern Glauben

Es ist kein leichter Acker, den der Pfarrer bestellt. Vor knapp zwei Jahren kam er aus dem nahen Ruderting nach Röhrnbach. Krell, 44, stammt aus einem evangelischen Elternhaus, er war in seiner Jugend nicht einmal Ministrant. Zum Katholizismus fand er in den letzten beiden Schuljahren, als er auf eine Klosterschule wechselte. Er hat danach "Kloster auf Probe" versucht. "Aber das war nichts, ich wollte frei bleiben." Später kam ihm die Idee mit dem Priesterberuf. "Ich bin von der Botschaft Jesu überzeugt", sagt er, "und ich möchte mit Menschen arbeiten." Um sie zu erreichen, verzichtet er auf den traditionellen schwarzen Priester-Dress inklusive "Tipp-Ex", dieser weißen Kragenbinde. "Ich kenne das von der Bahn", sagt Krell. "Wenn Sie ein Abteil für sich haben wollen, müssen Sie sich nur wie ein Priester anziehen." Später am Abend sagt er: "Mein Ziel ist es nicht unbedingt, die Leute für die Institution Kirche zu gewinnen. Wohl aber für den Glauben."

Am nächsten Morgen um acht Uhr fängt er wieder damit an. Religionsunterricht an der Hauptschule Röhrnbach, sechste Klasse. An der Wand hängt der gekreuzigte Jesus. "Guten Morgen, Herr Krell", sagen die Kinder und stehen auf. Den "Pfarrer" hat Krell sich verbeten. Erst beten sie für den Toten von gestern. Dann sprechen sie darüber, wie man mit Erwartungen umgeht. Wenn man an der Schule abgezogen wird, wenn die Mutter darauf dringt, früh zu Hause zu sein, wenn ein fremder Mann an der Straße eine Mitfahrgelegenheit ins nächste Dorf anbietet. Irgendwann landen sie bei der inneren Stimme und beim Gewissen. Dabei, dass es kein Makel ist, wenn man sich helfen lassen muss. Von Jesus oder Gott spricht Krell nicht. "Ich trage den Glauben nicht wie eine Fahne vor mir her. Im Grunde ist das wie Ethikunterricht." Der spielt hier eine geringe Rolle. Von 33 Schülern der Klasse geht lediglich einer dorthin. "Auf Wiedersehen, Herr Krell."

Die Religion ist der soziale Kitt

"Ich bin Handlungsreisender im Auftrag Gottes", meint der Pfarrer. Er schrubbt jedes Jahr 15000 Kilometer mit seinem roten Toyota Yaris durch den Pfarrverband. Nach dem Religionsunterricht drückt Krell aufs Gas, hin zur Sprechstunde im Pfarrhaus von Kumreut. Viele Orte hier enden auf "-reut", das von "roden" kommt. Bonifatius gründete das Bistum Passau im Jahr 739, es mauserte sich zum größten Bistum des Heiligen Römischen Reiches ­ 42000 Quadratkilometer erstreckten sich weit bis ins heutige Österreich. Die Fürstbischöfe waren auch die politischen Herren der Region. Doch die Grenzlage zog Streit nach sich, im Laufe der Zeit büßte das Bistum sechs Siebtel seines Gebiets ein. Und wie überall im Reich verlor die Kirche in der Säkularisation des Jahres 1803 ihren Besitz fast vollständig an die weltlichen Herren. Das Ende einer Allmacht.

Heute ist die Religion auch der soziale Kitt, der die Menschen zusammenhält. In Ruderting gehen die Frauen zusammen in die Sauna, nicht selten kommen die Röhrnbacherinnen mit. In Kumreut begrüßt Krell bei Kaffee und Kuchen die Chefin des örtlichen Frauenbundes ­ sie ist evangelisch. "Wenn die Kirche nicht wäre, gäbe es hier ja gar nichts für uns", sagt Erika Raab, 51. Raabs 120 Frauen starke Truppe geht religionsübergreifend nordisch walken, macht Gymnastik und Pilates, fährt ins Musical und geht einmal im Monat essen. Nun soll Krell einen Extra-Gottesdienst halten, zum Jubiläum des Frauenbundes. Krell sagt zu.

Dann kommt Zimmermeister Johann Holler vorbei. Jahrgang 36, Zollstock in der abgewetzten Cordhose. Wie alle fünf Jahre ist wieder Klassentreffen in Kumreut, auch dort soll Krell einen Gottesdienst halten. Nicht dass er selbst ein Heiliger wäre, meint Holler. "Aber ein Gottesdienst gehört einfach dazu, wir sind so erzogen." Er lächelt breit. "Die Kirche ist eine praktische Sache. Da kann ich ganz in Ruhe ein Vaterunser beten und mich entspannen." Auch ihm wird Krell seinen Dienst nicht verweigern. Sie machen einen Deal. Gottesdienst für die ehemaligen Klassenkameraden, dafür fällt der Sonntagsgottesdienst am selben Tag aus.

Krells Terminkalender füllt sich. Gottesdienste, Taufgespräche, dann soll er noch eine Kläranlage einweihen. Der Diener Gottes steckt in einem engen Takt. Das liegt auch an der Neustrukturierung, der sich das Bistum Passau seit Jahren unterzieht.

"Wir haben zu viel Speck angesetzt und müssen uns auf unsere Kernaufgaben besinnen", sagt Klaus Metzl, Generalvikar des Bistums und so etwas wie die rechte Hand des Bischofs, zuständig für die Verwaltung. Metzl empfängt im Passauer Ordinariat am Residenzplatz, in einem saalgroßen Büro mit knarrendem Parkett und grünen Tapeten aus edlem, alten Stoff. In diesem Büro ist nicht zu spüren, was die Unternehmensberatung McKinsey 2003 im Auftrag des Bistums identifiziert hat: ein strukturelles Haushaltsdefizit des Bistums von 20 Millionen Euro.

Einnahmen und Ausgaben passten nicht mehr zusammen. Von 504000 Katholiken im Bistum zahlen nur 75000 Kirchensteuern. Das liegt weniger an den rund 800 Kirchenaustritten im Jahr als an der Demografie: Die meisten Rentner zahlen keine Kirchensteuern. Wer zahlt, zahlt relativ wenig ­ die Löhne in Ostbayern sind nicht die höchsten, und die Kirchensteuer ist an die Lohn- oder Einkommensteuer gekoppelt. Zudem lebt das Bistum mit einem Erbe aus Wirtschaftswunderzeiten. Obwohl kaum eine Kirche während des Krieges zerstört wurde, baute das Bistum bis in die siebziger Jahre rund 100 neue Gotteshäuser. Hinzu kamen Bildungshäuser, Radioredaktionen, Jugendzentren. All das blähte den Personalbestand auf 800 Mitarbeiter auf und verschlang Unsummen für den Unterhalt der Gebäude.

Seit Jahren schneidet sich das Bistum den Speck von den Rippen ­ ohne betriebsbedingte Kündigungen. In der Verwaltung wurden durch Ruhestandsregelungen 86 Stellen gestrichen, damit ist das Soll fast erfüllt. Aus zwei Umweltreferenten wurde einer, die Radioredaktion hat keinen Kollegen mehr in Altötting. Die dortige Berufsfachschule für Musik gab das Bistum ab ans Land. In der Bräute- und Mütterschule gibt es keine Stickkurse mehr, die Erwachsenenbildung verzichtet auf Kochkurse und Reisen ­ macht drei Stellen statt sechs. Von zwölf Jugendbüros schlossen drei. Frei werdende Pfarrhöfe auf dem Land werden inzwischen verkauft, bis zu fünf pro Jahr. Die Zuschüsse des Bistums an die Caritas sanken von neun auf sechs Millionen Euro jährlich. Das ist nicht ohne ­ 87 Prozent aller Kindertagesstätten in der Region sind in kirchlicher Trägerschaft. "Die Caritas muss die Einsparungen kompensieren", sagt Metzl, "da muss man findig sein." Sie setzt dabei erfolgreich auf ihre Marktmacht und übernimmt nicht mehr wie selbstverständlich die Kosten für Sanierungen ­ jetzt müssen die Kommunen ran.

Durch diese Schrumpfkur, gepaart mit der konjunkturbedingt steigenden Kirchensteuersumme, hat das Bistum wieder einen ausgeglichenen Haushalt von rund 80 Millionen Euro erreicht. Am Spar-Kurs wird das nichts ändern. "Wir machen auch einen inhaltlichen Reinigungsprozess durch", meint Generalvikar Klaus Metzl, "das ist eine große Chance für die Gemeinden, weil deren Kerngeschäft an Bedeutung gewinnt."

Es ist aber auch eine große Last. Denn Kerngeschäft der Pfarrer in den Gemeinden ist die Seelsorge ­ doch auch im Bistum Passau mangelt es an Priestern. Das zeigt sich im Großen ­ nach fast 400 Jahren Priesterausbildung schließt nun die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität. "Ein herber Verlust", klagt Metzl, "und historisch betrachtet eine Katastrophe." Das Bistum hat dagegen nichts machen können, es war eine Sache zwischen dem Vatikan und dem Land Bayern. Doch es hat die Folgen zu tragen: An der Uni erhielten die angehenden Priester der Region ihre wissenschaftliche Ausbildung. Die fällt weg, und deshalb beendet auch das bistümliche Priesterseminar St. Stephan seine Arbeit ­ die 24 jetzigen Anwärter erhalten ihre Ausbildung künftig in Regensburg, ihre Nachfolger fangen gleich dort an. Offiziell wurde die Fakultät für 15 Jahre für "ruhend" erklärt, in zwölf Jahren wird sich entscheiden, ob sie jemals wieder aufsteht.

Noch schwerer wirkt der Priestermangel im Kleinen. Im Bistum Passau gibt es 306 Gemeinden ­ aber nur rund 150 aktive, allein verantwortliche Priester im Pastoraldienst vor Ort. Deshalb hat das Bistum jeweils zwei bis drei Gemeinden zu insgesamt 111 Pfarrverbänden zusammengelegt, in denen meist ein einzelner Pfarrer Dienst tut. Deren Arbeitsbelastung steigt ­ und Entlastung ist nicht in Sicht. Im vergangenen Jahr gab es im Bistum nicht eine einzige Priesterweihe. In diesem Jahr wird es eine Weihe geben. Für die nächsten Jahre stehen zwar jeweils sechs bis sieben Kandidaten bereit ­ wenn sie ihre Ausbildung schaffen. Allerdings gehen jedes Jahr auch bis zu sieben Priester in den Ruhestand.

Die Pfarrverbände sind ein Versuch, diese Entwicklung aufzufangen. Bis zum Jahr 2025 hält das Bistum die Seelsorge für gesichert. "Vorausgesetzt, wir kriegen jedes Jahr vier neue Priester, und die älteren Kollegen gehen erst mit 70 Jahren in Rente", sagt Metzl. Im Zweifel will er mehr Priester aus dem Ausland holen. Derzeit sind es 24. Auch die Ruhestandsgeistlichen gelten als Reserve.

Für Gemeindepfarrer Markus Krell ist das nicht mehr als ein "qualifiziertes Notsystem". Warum, fragt er, läuft der Bischof nicht Sturm in Rom? Warum ruft er stattdessen ein "Jahr für geistliche Berufungen" aus, verteilt Berufungskerzen und Flyer in den Kirchen? "Inhalte von gestern in der Verpackung von heute, um die Probleme von morgen zu lösen", meint Krell. "Damit erreicht man die Jungen nicht. Die Grundlagen sind einfach zu schlecht." Der Zwangszölibat schrecke ab. Die Bezahlung sei zu niedrig ­ Krell verdient 2200 Euro netto, allein 600 Euro davon zahlt er seiner Haushälterin, ohne die er seinen Arbeitsalltag gar nicht bewältigen könnte. Warum könne man nicht die Priester reaktivieren, die geheiratet haben und aus dem Kirchendienst ausgeschieden sind? Dutzende seien das inzwischen. Und weshalb, fragt Krell, sollten nicht auch Laien die Gemeinden leiten, statt wie üblich oft nur die Handlangerdienste zu verrichten?

Weil das alles Revolutionen wären im Gefüge der Kirche ­ aus dem auch das Bistum Passau nicht ausbrechen kann oder mag. "Wir machen nichts anderes als das, was Rom uns zubilligt", sagt Generalvikar Klaus Metzl.

Solange das so ist, hangelt sich der Gemeindepfarrer mit klugem Management durch den Tag. Bis zu zweieinhalb Stunden schreibt Markus Krell an einer Predigt ­ er nutzt Musterpredigten und Textbausteine aus älteren Ansprachen, angereichert mit aktuellen Bezügen. Auch eine Kläranlagen-Einweihungsrede hat er in seinem Computer. Wenn Tauf- oder Hochzeitsvorbereitungen anstehen, geht er zu den Familien, nicht umgekehrt. "Dann kann ich selbst bestimmen, wann ich wieder aufbreche." Die Sonntagsgottesdienste hat er von sechs auf drei reduziert.

"Ich bin ein Kleinunternehmer in Glaubensfragen", meint Krell. Und als solcher nimmt er sich auch unternehmerische Freiheiten, um seine Aufgabe zu erfüllen: mit knapper werdenden Ressourcen Menschen zu erreichen, die nicht mehr automatisch den Weg zur Kirche finden. So gesehen hat der Priestermangel auch sein Gutes ­ das verbliebene Personal hat heute größere Spielräume. Hinzu kommt: "Wer nicht um Erlaubnis fragt, dem kann sie auch nicht verweigert werden." In Krells Kirche gibt es keine Kniebänke. Selbstverständlich lässt er geschiedene Wiederverheiratete am Abendmahl teilnehmen. Die offiziellen Worte des Bischofs kürzt er bei der Verlesung nach Bedarf schon mal zusammen. Und den Kleinen erspart er die Erstbeichte im dunklen Beichtstuhl und feiert lieber ein Versöhnungsfest. "Mein Beichtstuhl ist mein Büro", sagt Krell, "kommt ja sonst eh keiner mehr." Am runden Tisch mit orangefarbener Decke geht es um Tod und Scheidung, um Probleme mit den Kindern. Mitunter um pure Geldnot, weshalb Krell eine Kasse hat, aus der er auch mal den Nachhilfeunterricht bezahlt.

"Ich bin Dienstleister", sagt Krell, "da geht es auch ums Angebot. Lehrsätze aus dem Katechismus vorbeten, diese Zeiten sind vorbei." Stattdessen geht es ums Erleben. Krell hat im Januar eine Segnung im Osterbach gemacht ­ und 150 Menschen angelockt. Er ist mit seiner Gemeinde auf einen Berg gestiegen, dort haben sie gebetet. Jetzt plant er einen Krankengottesdienst, bei dem er die Kranken salben wird. Die Kirche muss zu den Menschen kommen.

"Die Pfarrer rackern sich ab", sagt Krell, "aber wir gewinnen wieder an Ansehen in der Gemeinde." Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Gemeindepfarrer oft noch Musterbauer im Dorf. Die Pfarrer vergaben aus der Kirchenkasse Darlehen an die Bauern, das sorgte automatisch für Achtung. Heute zählt nur noch die Seelsorge ­ wenn ein Pfarrer die nicht packt, ist er unten durch.

Krell ist obenauf. Auch deshalb, weil er Aufgaben abgibt, die eigentlich ihm vorbehalten sind. Und weil er Menschen hat, die sie gern übernehmen. "Ich bin für alles zuständig außer der Liturgie", sagt Stefanie Weingärtner, die 34-jährige Gemeindereferentin. "Die Liturgie ist geweihten Männern vorbehalten." Na ja, üblicherweise sei das so. "Oben die Herren, unten machen die Frauen die Arbeit." Bei Krell sei es anders. Wenn sie etwa einen Jugendgottesdienst vorbereitet, darf sie auch predigen. Selbstverständlich ist das nicht. Laut offizieller Bistums-Weisung sollen die Wortgottesdienste auf ein Minimum beschränkt bleiben, das Abendmahl ist grundsätzlich Sache der Priester. "Das hat mir sehr wehgetan", sagt Weingärtner. "Ich habe sonst Freiheiten. Vor allem aber kann ich die Leute erreichen."

Sie kümmert sich um die Jungen. Um die Erstkommunion. Gibt Religionsunterricht. Diskutiert mit Jugendgruppen über Tibet. "Wenn ich vermitteln kann, dass Religion nichts Ödes ist, habe ich meinen Job gut gemacht", sagt sie. Ein hartes Stück Arbeit ist das. Die katholische Landjugend hat gerade 20 Mitglieder. "Wir kriegen vielleicht fünf bis zehn Prozent der Jugendlichen", gesteht Weingärtner. Kommunion und Firmung sind längst nicht mehr nur religiöse Feiern.

In der Tat haftet dem Besuch, den Pfarrer Krell am Nachmittag empfängt, nichts Sakrales an: Sieben Röhrnbacher Firmlinge, alle um die zwölf Jahre alt, entern mit ihren Müttern das Pfarrhaus. Krell jagt sie mit einem Rätsel quer durchs Haus. Auch die Mütter schauen neugierig, wie der Pfarrer so lebt. Eine fragt, ob eine Urnenbestattung eigentlich vom katholischen Standpunkt aus betrachtet in Ordnung wäre. Dann gibt's Himbeerkuchen, Kaffee und Saft, und natürlich traut sich keines der Kinder zu fragen, wie das denn so ist ohne Frau.

Für Krell ist so ein Besuch "Entspannung von extremer Anspannung". Etwa von dem Moment, wenn er von einer Beerdigung kommt und auf seinem Schreibtisch zwei neue Todesnachrichten findet. "Manchmal fühle ich mich wie eine Müllkippe", stöhnt der Pfarrer. "Mich fragt keiner, ob ich das mental verkrafte."

Es ist eben nicht so, dass mit Frömmigkeit und Gottesdienstbesuch auch der Wunsch nach kirchlichem Zuspruch generell abnimmt. "In Niederbayern bröckelt der Glauben langsamer ab", meint Ferdinand Spoor. Der 50-jährige Werkzeug-Vertreter ist Vorsitzender des Pfarrgemeinderates in Röhrnbach, also dem Gremium der Ehrenamtlichen. "Die Waffenkreuze an den Häuserwänden, die Wegkreuze an den Straßen, das Kruzifix im Schulzimmer", sagt Spoor in Krells Besucherzimmer, "Religion und Kultur, das mischt sich und wird Tradition." Bei der Fahnenweihe machen alle Vereine mit ­ das ist eine Frage der Ehre. Die Kumreuter sanieren ihre Kirche in Eigenleistung. Adventsgottesdienste, die Mai-Andachten, Wallfahrten nach Altötting ­ da nehmen nicht nur die frommen Schäfchen teil. Seit einigen Jahren schmücken die Leute zu Ostern wieder ihre Brunnen. Wenn im Dorf jemand stirbt, geht mindestens einer aus jeder Familie zur Beerdigung. Jeder nimmt ein Stückchen Religion mit, auch wenn er nicht an Gott glaubt.

Religiöser Ungehorsam ­ die Kirche lebt

Was aber nicht heißt, dass alle aktiv mittun in der Gemeinde. Werktags müssen alle arbeiten. "Und am Sonntag ist nur begrenzt Zeit", meint Spoor. "Da kann sich Kirche nur schwer behaupten etwa gegen die Sportvereine." Es sind vor allem Leute ab 40, die sich engagieren. "Die sind aber meist schon durch das Elternhaus geprägt", meint Sabine Mandl, Spoors Pendant aus Kumreut, wo sie den Lebensmittelladen betreibt. Mandl ist 45 Jahre alt. Wie das hier sei mit der Religion? "Eine Mischung aus Gewohnheit und Überzeugung", glaubt sie. "Die Religion stirbt nicht aus. Sie wandelt sich. Nur wissen wir noch nicht genau, wohin."

Vieles spricht dafür, dass sie dort landen wird, wo die Gemeindemitglieder selbst sie haben wollen. Die Gemeinden sind ausgesprochen selbstbewusst, seit vor Jahren ein Reformplan im Bistum diskutiert wurde, der den Ehrenamtlichen mehr Befugnisse zugestehen sollte. Zwar blieb der Plan ein Plan, doch in den Köpfen lebt er weiter. "Wir halten uns nicht immer an das, was die in Passau predigen", sagt Mandl, "für uns ist der Pfarrer viel wichtiger. Und deshalb können wir unser Ding machen." Etwa die aus ihrer Sicht so notwendigen Wortgottesdienste. Die Familiengottesdienste, die sie selbst vorbereiten, die ihre Kinder in die Dorfgemeinschaft einbinden. Ihren "X-treme"-Jugendklub in Röhrnbach, der freitags bis Mitternacht aufhat. Die Pfarrbücherei, die Familien an die Kirche bringt. Wenn der Pfarrer nicht mehr alles selbst machen kann, muss die Gemeinde ran. Das ist kein Niedergang ­ es ist die Chance auf eine aktive, selbstbestimmte Kirche.

Gott ist tot? Nicht im Bistum Passau, daran wird sich auch nichts ändern. Angesichts von Pfarrer Krells Terminkalender können atheistische Kritiker einpacken. Um acht Uhr heute Morgen hat sein Arbeitstag angefangen, jetzt, elf Stunden später will seine Gemeinde noch immer etwas von ihm. Er parkt seinen Wagen neben der kleinen weißen Kapelle in Reisersberg, greift seinen schwarzen Gottesdienstkoffer, gefüllt mit Wein, Kelch und Gebetbuch. Vor der Kapelle warten sie schon auf ihn ­ 23 Reisersberger, die alle vier Wochen in den Genuss eines eigenen Gottesdienstes kommen, so wie auch zwölf andere Weiler um Röhrnbach und Kumreut. Junge Leute sind dabei und alte. Zwei tragen ein Hörgerät, eine Frau hat sich am Arm verbrannt, eine andere den Arm gebrochen. Die Kapellenglocke läutet, nebenan heult ein Hund auf. "Ist ja gleich vorbei", kommentiert Markus Krell das gequälte Tier, die Gemeinde lacht.

Dann steht er vor den Gläubigen in dieser kinderzimmergroßen, blumengeschmückten, steinkalten Kapelle, hebt erst die Arme, dann die Stimme. Dicht gedrängt singen sie "Jesus lebt". Man kann den Gesang noch zwei Straßen weiter hören. Und selbst dem Ungläubigen wird spätestens jetzt klar: Da ist was dran.