Daimler in Bremen

Bremen ist heute ohne Daimler nicht denkbar – und umgekehrt. Der Weg dorthin ist eine lange und nicht immer harmonische Geschichte.




Andreas Kellermann muss nicht lange nachdenken, welches Auto seines Arbeitgebers ihn damals mit dem größten Stolz erfüllte. „Natürlich der SL”, erinnert er sich an seine Zeit als junger Ingenieur in der Sindelfinger Mercedes-Schmiede. Der SL. Der Luxus-Roadster. Die Perle des Herstellers, Nachfolger des legendären 300 SL der Fünfziger- und Sechzigerjahre, mit dem Berühmtheiten wie Herbert von Karajan, Romy Schneider, Gunter Sachs und Clark Gable die Blicke der Normalbürger auf sich zogen. Und dann das: Ausgerechnet die Ikone des Automobilbaus sollte künftig nicht mehr bei ihnen in Sindelfingen gebaut werden, sondern irgendwo da oben im Norden. In Bremen. Und er, Kellermann, musste die Verlagerung der Produktion mit organisieren. „Das war für uns Sindelfinger keine schöne Nachricht”, sagt er mit der gebotenen Zurückhaltung. Damals, anno 1989, fand er vermutlich deutlichere Worte.

23 Jahre später, im Juli 2012, gibt es wieder einen Vorstandsbeschluss zum Mercedes SL. Und wieder ist es ein böser, giftiger Stich für die stolzen Sindelfinger Mercedes-Werker. Die Roadster-Legende, preislich zwischen knapp 100 000 und 250 000 Euro angesiedelt und versehen mit der Kraft von bis zu 630 PS, wird auch weiterhin in Bremen gebaut – und nicht heimgeholt ins Schwabenland, wie drei Jahre zuvor entschieden. Diesmal freut sich Andreas Kellermann, er hat sich sogar für den Norden stark gemacht. Im Sommer 2010 ist der Ingenieur zum Leiter des Bremer Daimler-Werks befördert worden, da sind ihm die eigenen 12 500 Mitarbeiter naturgemäß näher als die Sindelfinger Kollegen.

„Natürlich kämpft man für seinen Standort”, sagt der Chef, „und ein derart hochemotionaler Kult-Roadster wie der SL liegt einem besonders am Herzen. Entsprechend groß ist die Freude der Mannschaft darüber, dass wir den Wagen weiterhin komplett hier bauen dürfen.” Aus dem streitbaren Sindelfinger Andreas Kellermann ist ein mindestens ebenso entschiedener Kämpfer für Bremen, für seine Fabrik, geworden.

Zwischen diesem Wandel liegen fast zweieinhalb Jahrzehnte, drei SL-Generationen, sieben Werkleiter, 14 Produktionsanläufe für neue Modelle – und jede Menge Vorurteile und Animositäten, die es erst mühsam auszuräumen galt. Rund fünf Millionen Neuwagen mit dem Stern auf dem Kühler haben das Werk an der Weser in dieser Zeit verlassen. Die Nordlichter müssen schon längst nicht mehr beweisen, dass sie imstande sind, Autos in Mercedes-Qualität zu bauen. Erst 2011 wurden sie vom Marktforschungsinstitut J. D. Power and Associates als bestes Pkw-Produktionswerk Europas ausgezeichnet.

Außerhalb des Konzernverbunds weiß das nur kaum einer. Typisch bremisch: Sie schaffen im Stillen, werden gern unterschätzt und lassen das laue Image unkommentiert stehen. So haben auch die Autobauer über Jahre konsequent und ohne Getöse mit dazu beigetragen, den kriselnden Werftstandort in eine florierende Wirtschaftsregion zu drehen.

Wer das Werk, das sich in der Stadt auf einem Gelände von mehr als anderthalb Millionen Quadratmetern breitmacht, heute besucht, landet in ultramodernen Fabrikhallen. Von wegen ölverschmierte Arbeiterhände oder rasselnde Förderbänder. Dass die Bremer die Königsdisziplin des Automobilbaus beherrschen, beweisen sie am deutlichsten bei der Herstellung des legendären SL. Das Flaggschiff der Modellpalette läuft selbstverständlich nicht Stoßstange an Stoßstange mit Fahrzeugen vom Band, die sich auch ein Oberstudienrat leisten kann, sondern standesgemäß separiert von der Hauptfabrik in zwei ehemaligen Speditionshallen einige Kilometer entfernt. In der Rohbauhalle könnte man vom Boden essen. Das leise Zischen der krakenarmigen Roboter, zwischen denen auch ein paar Menschen zu sehen sind, die man früher Arbeiter genannt hätte, ist das einzig nennenswerte Geräusch. In einer Eckkneipe am Freitagabend ist es definitiv lauter.

Beim Roadster treiben die Mercedes-Werker das Perfektionsstreben mit einem undurchlässigen Netz von Kontrollen auf die Spitze. Jede Schweißnaht, jede Stanzniete wird in Messkabinen überprüft, Roboter checken jeden Millimeter der insgesamt 117 Meter Klebeverbindungen schon beim Auftragen des Klebstoffs, sämtliche Karosseriepunkte werden per Laserpointer vermessen. Stichprobenweise nehmen die Qualitäts-Teams ganze Autos vom Band und testen die Festigkeit der Karosserieverbindungen durch Zerreißproben. Ein zerstörtes Traumauto ist der Preis kompromissloser Qualität. Ganz zum Schluss streicht ein Mitarbeiter sanft mit der Hand über die Karosserie: Spürt er irgendeine Unebenheit? Einen mikrofeinen Kratzer? Manche Dinge kann der Mensch halt immer noch besser als die Maschine.

Behaupten muss sich das Auto letztlich auf der Straße, gegen Konkurrenten wie den Porsche 911 oder den Audi R8, da zählt jede Zehntelsekunde beim Beschleunigen. Auf der werkseigenen Teststrecke jagen speziell geschulte Fahrer den Wagen mit Tempo 180 in die Steilwandkurve. Sie sind spezialisiert auf Geräusche: Klappert, klingelt, pfeift, quietscht, knackt, zirpt, knistert da etwas? Ein falsch verlegtes Kabel könnte der Grund sein oder ein bei der Montage vergessenes Schräubchen. „Wir müssen die Milben im Teppich husten hören”, scherzen die Testfahrer. Für den Preis eines Einfamilienhauses in, sagen wir mal, Wittstock an der Dosse, darf der Kunde wohl erwarten, dass die Karosse seines neuen Automobils so perfekt sitzt wie ein Maßanzug.

1961 – die Bremer Autoindustrie ist am Ende

Bremens langjähriger Bürgermeister Hans Koschnick hat das Erlebnis von 1000 Newtonmeter Drehmoment beim Beschleunigen noch nie genossen. Er ist auch ohne Führerschein ganz gut durchs Leben gekommen. Im Moment bewegt er sich ein wenig mühsam, was ihn grummeln lässt, aber was will er machen? Er ist inzwischen 84 und braucht seit einiger Zeit einen Gehstock. Beim Denken und Reden aber kann er mit der jüngeren Generation durchaus noch mithalten, auch mit seiner Frau liefert er sich immer wieder kleine Wort-Scharmützel: „Hören Sie nicht hin, was meine Frau sagt. Aber sie ist eine gute Frau, obwohl sie Katholikin ist.” – „Sie redet gern, so geht das nun schon fast 60 Jahre.” Seit rund 40 Jahren lebt das Ehepaar vorbildlich sozialdemokratisch in einem bescheidenen Bungalow in der Gartenstadt Vahr.

Ein paar Jahre vor dem Einzug, als junger Abgeordneter der Bremer Bürgerschaft, erlebte Hans Koschnick den Zusammenbruch der Bremer Autoindustrie. 1961 – der Konkurs der Borgward-Werke markierte damals nicht nur die erste spektakuläre Industriepleite im Wirtschaftswunderdeutschland, sie erschütterte die Republik und rief ins kollektive Bewusstsein, dass und wie schnell es plötzlich wieder bergab gehen kann. „Das war eine ganz schreckliche Situation”, erinnert sich Koschnick an die Endzeitstimmung nach dem Konkurs. „Was machen wir nur mit den vielen Menschen, die bei Borgward arbeiten?, fragten wir uns. Erinnern Sie sich? Das waren immerhin 20.000 Leute.”

Carl Friedrich Wilhelm Borgward hatte einst den Ruf Bremens als Autostadt begründet. Vor dem Krieg verließen vor allem Lieferwagen wie der dreirädrige „Goliath” die Fabrikhallen. Nach Kriegsende schrieb Borgward sich die Motorisierung der Jedermänner auf die Fahnen. Der Lloyd 300, der es mit seinem 10-PS-Motörchen auf etwa 70 km/h Spitze brachte, wegen seiner mit Kunstleder überspannten Sperrholz-Karosse „Leukoplastbomber” getauft, war mit einem Listenpreis von anfangs 3334 Mark für Käufer erschwinglich, die sich den anderthalbtausend Mark teureren Käfer nicht leisten konnten. Arabella und Isabella wiederum zielten auf den neu entstehenden Mittelstand, auf Beamte, Angestellte, Selbstständige und Kleinunternehmer, denen ein Opel Rekord oder Ford Taunus 12M entschieden zu bieder war.

Borgwards Strategie einer großen Typenvielfalt verschlang allerdings Millionen, allein 1960 hatte er zehn völlig unterschiedliche Modelle im Sortiment. Das Unternehmen war chronisch unterfinanziert, zudem lag die Preiskalkulation im Argen: Jede verkaufte Arabella bescherte Borgward mehrere Hundert Mark Verlust. Der Konkurs war letztlich nur eine Frage der Zeit.

Es folgten magere Jahre. Kurz nach dem Zusammenbruch erwarb die Rheinstahl Hanomag AG die Borgward-Fabrik und produzierte dort mit etwa 3000 der früheren 20 000 Beschäftigten Lastwagen und Transporter der Marke Hanomag. 1969 beteiligte sich die Daimler-Benz AG an der Lkw-Fabrik und übernahm sie wenig später komplett. Von nun an liefen in den ehemaligen Borgward-Hallen Mercedes-Transporter und -Kleinlaster vom Band. Allerdings stand das Werk immer wieder auf der Kippe. Mitte der Siebzigerjahre fuhr es pro Jahr 100 Millionen Mark Verlust ein. Lichter aus oder investieren – so lauteten die Alternativen für Daimler.

1967 – was soll bloß werden aus der Stadt?

Hans Koschnick, seit 1967 Bürgermeister der Hansestadt, war damals ein von Sorgen geplagter Mann. Was sollte bloß werden aus seiner Stadt? Alle großen industriellen Arbeitgeber schwächelten. Die Zukunft der Autofabrik stand in den Sternen, die Werften AG Weser und Bremer Vulkan steuerten geradewegs in die Krise, der Fernsehgerätehersteller Nordmende hatte seine besten Jahre hinter sich, und auch von Hansa Waggonbau kamen kaum noch gute Nachrichten. Das Schreckgespenst einer Arbeitslosigkeit von 25 Prozent ging um. Die einst reiche Freie Hansestadt Bremen drohte zum Armenhaus der Republik zu werden.

Irgendwann in dieser Zeit erhielt Koschnick den Anruf, der die Wende bringen sollte. Werner Niefer, der Produktionsvorstand von Daimler-Benz war am Apparat. Ob man sich mal unterhalten könne, ganz privat? Man konnte, und natürlich hatte der Mann aus Stuttgart ein Anliegen, ein sehr konkretes sogar.

Das Werk in Sindelfingen, die einzige Fabrik weltweit, in der damals Mercedes-Pkw hergestellt wurden, hatte seine Kapazitätsgrenze erreicht. Die Arbeiter wurden schon mit Bussen weit aus dem Schwarzwald zur Schicht gekarrt, noch mehr „Gastarbeiter” wollte man nicht. Und das Problem war akut: Mercedes-Kunden mussten mitunter mehrere Jahre auf ihr Auto warten, weil die Fabrik mit den Bestellungen nicht Schritt halten konnte. Niefer brauchte dringend ein Ventil für die steigende Nachfrage.

1976 – der Standort darf hoffen

Tatsächlich war Bremen der letzte Kandidat auf Niefers Liste. Davor hatte der Konzern diverse andere Optionen geprüft. Da gab es ein ehemaliges Magirus-Buswerk im Donautal, eine alte NSU-Fabrik und sogar die Idee, die kurz zuvor eingestellte Produktion des französischen Simca 1500 zu übernehmen und das Auto nach Mercedes-Art zu veredeln.

Niefers Blick fiel auch auf Emden, wo Volkswagen bald den Passat vom Band laufen lassen würde. Vielleicht könnte man einen Deal mit VW eingehen und einen Mercedes-wertigen Passat-Ableger in Ostfriesland bauen? Oder die Passat-Produktion gleich komplett übernehmen? Die Pläne zerschlugen sich, am Ende blieb nur noch Bremen, und Niefer erzählte Koschnick von seiner Idee, die konzerneigene Transporterfabrik in „ein astreines Pkw-Werk” zu verwandeln.

1976 entschied der Daimler-Vorstand, den Kombi seiner oberen Mittelklasse (die heutige E-Klasse) künftig in Bremen zu montieren. Ende des Jahrzehntes reiften auch erste Pläne für einen ganz neuen, kompakteren, sparsameren Mercedes, den 190er, später liebevoll „Baby-Benz” getauft. Er sollte das Programm nach unten abrunden, die bräsig-noble Marke demokratisieren und vor allem gegen den 3er-BMW antreten. Nach Niefers Überlegungen sollte das neue Auto in Bremen gebaut werden. Allerdings nicht in den alten Borgward-Hallen, sondern in einer komplett neuen Fabrik. „Ich begriff sofort, dass dies der Einstieg in eine Wachstumsstrategie war”, erinnert sich Hans Koschnick an die Gespräche. „Arbeitsplätze für Bremen. Diese Chance mussten wir nutzen.”

Niefer kam in die Stadt. Gemeinsam inspizierte man das von Daimler favorisierte Gelände im Holter Feld, das ursprünglich für die Erweiterung von Borgward gedacht war. Dummerweise waren erst kurz zuvor zwei Kleingartenvereine dorthin umgesiedelt worden, sie hatten gerade ihre Lauben aufgestellt. Koschnick wusste, dass es nicht leicht werden würde, seine Landsleute zu überzeugen. 8000 potenzielle Arbeitsplätze waren ein gutes, aber in der aufkeimenden Grünen-Bewegung kein hinreichendes Argument.

Unterstützt von der jungen Universität, damals im Ruf einer „roten Kaderschmiede”, stellten sich die Bremer – „Der Stern muss weg!” – dem Bauvorhaben in den Weg. Ortsamtssitzungen endeten in Tumulten, Koschnick wurde als „Kapitalistenknecht” und „Büttel des Konzerns” beschimpft. Zweimal wurden Baugeräte durch Sprengstoffanschläge auf der Baustelle zerstört. Doch der Bürgermeister blieb stur. Selbst die Androhung eines politischen Denkzettels bei der nächsten Wahl – die Kleingärtner waren ursozialdemokratisches Milieu – vermochten ihn nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Nach Monaten des Kampfes war es dann so weit: Die Kleingärtner willigten in eine erneute Umsiedlung ein. Am Morgen des 31. März 1980 gab der letzte seinen Schlüssel beim Pförtner von Daimler-Benz ab.

Im Norden werden wieder Autos gebaut

Zwei Jahre nachdem in den alten Borgward-Hallen der erste Mercedes-Mittelklasse-Kombi vom Band gelaufen war, jubelten die Zeitungen. „Bremen ist wieder Automobil-Hochburg.” – „Der Albtraum des Borgward-Zusammenbruchs ist endlich ausgeträumt.” Tatsächlich zehrte Daimler zunächst vom verblassten automobilen Erbe des Standortes. „Es waren noch viele Mitarbeiter aus Borgward-Zeiten dabei”, erinnert sich Dietrich Zeyfang, der 1977 als Werkleiter nach Bremen kam. „Vor allem auf die Meister und Vorarbeiter konnten wir uns stützen. Zwei Drittel unserer Führungskräfte waren alte Borgward-Hasen.”

Der schöne Plan, die Montagebänder vorrangig mit arbeitslosen Werftarbeitern zu bestücken, zerschlug sich hingegen schnell. 2000 ehemalige Beschäftigte der AG Weser wollte Hans Koschnick ins Mercedes-Werk lotsen. „Aber das funktionierte bei uns in Bremen so wenig wie 15 Jahre zuvor mit den Bergarbeitern bei Opel in Bochum”, resümiert der alte Herr. „Die Arbeit am Band war für diese Leute nicht das Richtige, sie fühlten sich unterfordert. Daran konnte auch der gute Verdienst bei Daimler nichts ändern.”

Stattdessen stellten sich in Bremen – wie bei VW in Wolfsburg, BMW in Dingolfing und Audi in Ingolstadt – Tischler, Friseure, Metzger und Klempner ans Band. „Autofabriken sind die am besten zahlenden Friseursalons”, hat mal jemand gesagt. Und trotzdem fehlten schon im Herbst 1977 tausend Mitarbeiter beim Aufbau der Pkw-Produktion. Die Daimler-Personalleute schwärmten bis nach Ostfriesland aus, um Arbeiter zu rekrutieren – bei Vorstellungsgesprächen in der Dorfkneipe und mit Unterstützung diverser Lagen Bier und Korn.

Über ein anderes Problem, das bald auftauchte, redet man im Unternehmen heute nicht mehr so gern. Das Verhältnis zwischen der neuen Mannschaft in Bremen und dem Sindelfinger Stammwerk war, nun ja, nicht durchgängig spannungsfrei. Der Alleinvertretungsanspruch der Schwaben auf den Bau von Mercedes-Pkw war dahin. Würde der gute Ruf des Sterns nicht darunter leiden, dass sich die Bremer jetzt am Bau der weltbesten Autos versuchen durften? Klar, sie hatten den Borgward auf die Räder gestellt, aber der Laden war ja schließlich nicht umsonst pleitegegangen. Oder?

Während die im Süden ihre Skepsis formulierten, machte sich 650 Kilometer nördlich trotzig eine Mannschaft an die Arbeit, entschlossen, es den Zweiflern zu zeigen. „Es gab einen Bremer Stolz, fast eine Art Korpsgeist”, erinnert sich Dietrich Zeyfang. „Unsere Leute wollten beweisen, dass sie das Auto genauso gut bauen konnten wie die Schwaben. Wenn nicht sogar besser.” Als im November 1983 die Serienfertigung des kompakten 190er Mercedes anlief, war die Feuertaufe bestanden. Sechs Wochen später schloss die AG Weser für immer ihre Werktore.

Bremen entwickelt sich zur Vorzeigefabrik

Schon lange vor dem Produktionsstart des neuen Modells kursierte am Konzernsitz die Befürchtung, der 190er könne womöglich die in Sindelfingen gebaute größere und teurere E-Klasse kannibalisieren. Um die Stimmung zu beruhigen, traf der Vorstand eine denkwürdige Entscheidung: Der Baby- Benz wird in beiden Werken gebaut. Mehr als 60 Eisenbahnwaggons pendelten fortan täglich zwischen den Werken. Bremen lieferte Türen, Motorhauben, Böden und Tanks, Sindelfingen die Vorbauten, Seitenteile, Kotflügel, Heckklappen und die Kofferraumhaube. Etwa auf halber Strecke begegneten sich die Züge mit einem kurzen Pfeifsignal.

Auch Werkleiter Dietrich Zeyfang war sozusagen ein Produkt der anfangs nicht eben einträchtigen Partnerschaft. In Sindelfingen, wo er 1966 als junger Chemiker angefangen hatte, machte er sich große Hoffnungen auf den Posten des Werkchefs. Als der Vorstand einen Mitbewerber vorzog, war Bremen für ihn die große Chance, doch noch eine Fabrik zu leiten. „Ich war froh wegzukommen”, sagt er heute. „Letztlich hatte ich hier weitaus größere Freiheiten. Während man in Sindelfingen ständig den Vorstand vor Augen hat, ist man in Bremen als Chef der erste Daimler-Repräsentant vor Ort.”

Mehr Freiraum bedeutet mehr Möglichkeiten, und die wussten die Bremer geschickt zu nutzen: Sie entwickelten ihr Werk – nicht immer zum Wohlgefallen der konkurrierenden Kollegen im Süden – zu einer Vorzeigefabrik. Zum Innovations-Laboratorium. Zeyfang stellte die Lackierung auf lösungsmittelfreie Lacke um, experimentierte mit Gruppenarbeit in der Montage und forcierte die Just-in-time-Anlieferung von Komponenten ans Band.

Mit den Autositzen fing er an. „Weil die Näherinnen bei Daimler alle nach Metalltarif bezahlt wurden, gerieten die Sitze so aberwitzig teuer, dass wir diese Aufgabe dem Zulieferer übergaben.” Fortan lieferte sie Keiper Recaro aus seiner sieben Kilometer entfernten Fabrik im 30-Minuten-Takt direkt in die Montage – allein 50 000 Farb-, Stoff- und Funktionsvarianten beim 190er. Und zwar exakt in der Reihenfolge, in der sie benötigt wurden. Die Hanseaten probierten auch an anderen Stellen neue Ideen und Verfahren aus – und Bremen wurde zum Wallfahrtsort für Produktionsexperten aus aller Welt. Es gab Jahre, da gaben sich die Neugierigen vor Ort quasi die Klinke in die Hand. Was Zeyfang besonders freute: Manche Großkunden, etwa Taxi-Unternehmen, bestanden ausdrücklich darauf, ihre Fahrzeuge aus hanseatischer Produktion zu beziehen und nicht aus Sindelfingen. „Die Autos aus Bremen sind besser”, glaubten sie.

Als die Bremer 1989 den SL-Roadster vom Neckar an die Weser holten, rückte die Hansestadt endgültig ins automobile Rampenlicht – und bewies, dass sie Autos nicht nur perfekt bauen, sondern auch weiterentwickeln kann. Dietrich Zeyfang erinnert sich noch genau an das Problem mit dem automatischen Überrollbügel, der sich bei einer Kollision oder einem Überschlag binnen 0,3 Sekunden sensorgesteuert aus dem Verdeck-Kasten katapultierte und dem Fahrer so einen „geschützten Überlebensraum” schuf. „Wir wunderten uns, warum die Autobatterie immer leer war, wenn wir das Auto am Ende der Produktion aus der Halle fahren wollten”, erzählt er. Irgendwann kamen seine Ingenieure dahinter, dass die Elektronik des Überrollbügels fortwährend Strom aus der Batterie zog, während das Auto mit eingestecktem Zündschlüssel tagelang in der Montagehalle stand. Die Entwickler hatten den lebensrettenden Bügel so konstruiert, dass er auch bei ausgeschaltetem Motor, beispielsweise einem Stau auf der Autobahn, sofort einsatzbereit war.

Das Stiefkind schafft sich an die Konzernspitze

Probleme wie diese waren die Spezialdisziplin von Hans-Heinrich Weingarten, der sich damals – von Sindelfingen aus – um einen reibungslosen Anlauf der Serienproduktion kümmerte. Tangentengleich touchiert sein Lebenslauf immer wieder das Bremer Werk. Als Junge, mit 13 oder 14, hatte er dort mit seinem Vater eine Isabella abgeholt, Ende der Siebziger als Qualitätsingenieur den Anlauf der Produktion des Kombi überwacht. Jetzt, wieder zehn Jahre später, flog er ständig zwischen Stuttgart und Bremen hin und her, damit der Roadster pünktlich fertig wurde. In welchem Zustand befindet sich das Auto? Wo gibt es Verzögerungen? Welche technischen Schwierigkeiten sind noch ungelöst? Fertige Lösungen hatte er nicht immer im Gepäck, aber jedes Mal, wenn er nach Stuttgart zurückflog, nahm er eine Gewissheit mit: „Mit dem SL will die Bremer Mannschaft zeigen, was sie kann.”

Als Weingarten Dietrich Zeyfang Ende 1997 nach zwei Jahrzehnten als Werkleiter ablöste, setzte er einiges daran, die Beziehung zum Stammwerk zu verbessern. Er wusste ja, dass es nicht leicht zu akzeptieren war, dass andere den Job genauso gut oder sogar ein wenig besser machen konnten. Aber auch sein Blickwinkel auf die Produktion änderte sich mit dem Umzug an die Weser: „Mir ging es darum, dass Bremen nicht mehr als Stiefkind angesehen wird, sondern als gleichberechtigter Partner.” In der Runde der Werkleiter soll es seinerzeit nicht immer kameradschaftlich zugegangen sein.

Schnee von gestern, heute müssen die Bremer Mercedes-Werker niemandem mehr etwas beweisen. Mit einer Jahresproduktion von zuletzt 313 000 Autos ist die Fabrik hinter Sindelfingen die zweitgrößte im weltweiten Verbund der Pkw-Werke. Mehr als sechs Millionen Fahrzeuge haben das Bremer Werk seit 1978 verlassen.

Derzeit laufen acht Mercedes-Modelle vom Band, darunter die imageträchtigen Roadster SL und SLK. Eine solche Modellvielfalt bewältigen sonst nur – die Sindelfinger. „In puncto Innovationen und Anlaufgeschwindigkeit zählen wir zur Spitze im Konzern”, positioniert ein selbstbewusster Andreas Kellermann sein Werk. In manchen Jahren gehen drei oder vier neue Modelle an den Start. „Am selben Band montieren wir dann das alte und das neue Modell, Stoßstange an Stoßstange. Unsere eingespielte Mannschaft beherrscht diese Komplexität perfekt.”

Bei der C-Klasse sind die Hanseaten seit Kurzem sogar das Maß aller Dinge. Bremen wurde zum Kompetenzzentrum für die nächste Generation des meistverkauften Mercedes-Modells geadelt. Ab 2014 verantwortet Kellermanns Mannschaft die weltweite Produktion des Fahrzeugs, also auch die in Peking, East London (Südafrika) und Tuscaloosa (Alabama). Der europäische Markt wird künftig ausschließlich aus Bremen beliefert.

Der Traum des ehemaligen Bürgermeisters ist in Erfüllung gegangen. Für die Stadt und die Region hat sich das Daimler-Engagement als Segen erweisen. Mit 12 500 Beschäftigten ist das Werk vor der BLG Logistics Group (gut 8000), dem Luft- und Raumfahrtkomplex Airbus/Astrium (zusammen 4200) und dem Stahlproduzenten ArcelorMittal (3600) der mit Abstand größte Arbeitgeber vor Ort. Ohne Daimler und seine um das Werk herumgruppierten, sehr lebendigen Zulieferer läge die Arbeitslosenquote vermutlich bei 16 oder 17 statt bei 10,8 Prozent.

Bremen ist Autostadt

Da wundert es nicht, wenn der amtierende Bürgermeister Jens Böhrnsen öffentlich einen Treueschwur ablegt: „Bremen wird immer an der Seite von Mercedes stehen, um für die nötigen Rahmenbedingungen zu sorgen.” Ja, mehr noch: „Bremen ist Autostadt”, postuliert Böhrnsen. Sein Vor-Vor-Vorgänger Hans Koschnick kommentiert das aus seinem Wohnzimmersessel etwas grummelig: „Muss denn ein Bürgermeister dauernd Bekundungen abgeben für Dinge, die so selbstverständlich sind?”

Offenbar schon. Schließlich begreifen viele Nichtbremer die Stadt an der Weser bis heute nicht als florierende Autostadt, sondern als notleidenden Werftstandort. Auch die Hanseaten selbst darf man gern hin und wieder an die Faktenlage erinnern. Und auch das macht die Bekundung vielleicht nötig, denn bei allem gegenseitigen Respekt: Daimler und Bremen pflegen zwar ein erfolgreiches, aber wahrlich kein inniges Verhältnis zueinander.

Als die Bremer Polizei vor einigen Jahren ihre Flotte mit Fahrzeugen aus Wolfsburg und München aufstockte statt mit denen aus der örtlichen Fabrik, reagierte der Stuttgarter Konzern nicht ohne Grund ein wenig verschnupft. Daimler war der Polizei bei den Rabatten nicht entgegengekommen. Die Stadtoberen wiederum störten sich daran, dass manche Werkleiter die Fabrik nur als Karrieresprungbrett ansahen und sich wenig in der Bürgerschaft engagierten. Selbst bei der traditionellen winterlichen Kohlfahrt, bei der es Schnaps vom Bollerwagen gibt, wurden die Daimler-Chefs nie gesichtet.

Das kränkt, aber die Distanz hat auch Vorteile: Nie hat sich die Stadt zum Erfüllungsgehilfen des Konzerns erniedrigen lassen. Und nie hat Daimler seine Position als wichtigster Arbeitgeber dazu missbraucht, die Bremer Politik zu diktieren oder in seinem Sinne zu beeinflussen.

Zwei der ehemaligen Werkleiter, Dietrich Zeyfang und Hans-Heinrich Weingarten, gefiel es in Bremen immerhin so gut, dass sie nach ihrer Verabschiedung aus dem Konzern dort blieben. Beide wohnen großzügig, mit Mercedes-Karossen aus Bremer Produktion in der Einfahrt, in guter bis bester Wohnlage. Zeyfang musste seinerzeit, um das von ihm favorisierte Grundstück in der Nähe des Rhododendron-Parks kaufen zu können, Mitglied im Golfclub werden – obwohl er bis heute nicht spielt. An manchem Herbsttag ist das rhythmische Kratzen eines Laubbesens in der Nachbarschaft das einzige Geräusch, das die Vormittagsstille durchdringt.

Von einem auf den anderen Tag verwandelten sich die beiden Ehemaligen vom Manager zum Bürger. Was im Unternehmen und im Werk vor sich gehe, erführen sie aus der Zeitung, bekunden beide fast gleichlautend. Sie gehen ins Theater, Zeyfang verbringt viel Zeit mit seinen Enkelkindern, Weingarten auf dem Golfplatz – „aber nicht mit Mercedes-Leuten”, der Nachsatz ist ihm wichtig.

So viel ist sicher: Sie erliegen beide nicht der Versuchung, ihren Nachfolgern ständig Ratschläge zu erteilen, wie eine Mercedes-Fabrik wohl zu leiten sei. „Die können sehr gut ohne mich auskommen”, sagt Hans-Heinrich Weingarten. Der Mann hat recht – und mal im Ernst: Was sollte er den Bremer Vorzeigewerken auch raten?---