Blaumeier-Atelier

Im Blaumeier-Atelier spielt Behinderung keine Rolle: Die Kunst steht im Vordergrund.




Theaterproben zu „Orpheus und Eurydike“. Aus der Zuschauerreihe brabbelt Bärbel die ganze Zeit vor sich hin, manchmal zischt sie auch etwas bedrohlich. Niemand nimmt Anstoß daran. Bärbel hat verschiedene Seelen in ihrer Brust, aber das haben hier einige.

Bei Blaumeier lernt man, den anderen zu lassen. Niemand wird bewertet, jeder kann sein, wie er ist. Es gibt keinen Leistungsdruck und keine Konkurrenz, dafür viel geschützten Freiraum, Improvisation und Gemeinschaftssinn. Man weiß nie vorher, wie viele Stücke im Jahr entstehen. Der Text des Originals spielt keine Rolle. Wohl aber die Themen: Liebe, Leidenschaft, Tod. „Was ist Liebe?“, fragt die Regisseurin in die Runde. Die Antworten, auf bezaubernde Weise poetisch: „ein Borkenkäfer“, „ein windschiefes Haus“, „ein Wanderpilz“, „ein Bärenwunder“. Wie hatte Librettistin Imke bei ihrer „Carmen“-Inszenierung gesagt: „Spanisches Blau klingt wie glühendes Rot, wie viel Honig auf Honigbrot ganz ohne Brot.“
Blaumeier eben.

Theater, Malen, Maskenspiele, analoge Fotografie, eine – gerade pausierende – Schreibwerkstatt und ein Gesangsensemble, das sich „Chor Don Bleu“ nennt: Das ist das Blaumeier-Atelier. 2006 ausgezeichnet mit dem „Deutschen Bürgerpreis“. Einzigartig in Deutschland, ein Künstleratelier jenseits der Konventionen. Die Geschichte von Blaumeier, ähnlich wie die der Stadtmusikanten, eine typisch bremische: Im Rahmen der Psychiatrie-Reform beschließt die Hansestadt 1980 als erstes deutsches Bundesland, seine Langzeitpsychiatrie aufzulösen. Als „unheilbar“ eingestufte Menschen, die bis dahin in der Klinik Kloster Blankenburg im Schnitt 16 Jahre weggesperrt waren, kommen nun ins betreute Wohnen. Hinein in die Stadt. Und nicht wenige von ihnen finden den Weg ins Blaumeier-Atelier, wo anerkannt und unerkannt Verrückte gleichberechtigt Kunst produzieren.

Doch es geht bei Blaumeier eben nicht um Krankheit oder ihre Behandlung, sondern ausschließlich um das kreative Ergebnis. „Wir arbeiten nicht am Defizit, sondern an der Kompetenz“, sagt Geschäftsführerin Hellena Harttung. Wer nicht verrückt ist, ist noch lange nicht normal, höchstens normal verrückt. Aber wer mag das entscheiden? Und wozu? „Wir sind inkompetent. Wir haben keine Ahnung von Behinderung“, sagt Harttung etwas provokativ. Es gehe ausschließlich um die Weiterentwicklung der Kunst. Wenn es einen therapeutischen Effekt hat, wunderbar, aber der ist nicht ihr Ziel, höchstens ein Nebeneffekt.

Bisschen bekloppt, auf Deutsch gesagt

Am Anfang stehen fünf ABM-Stellen, ein ehemaliger Pferdestall im traditionellen Arbeiterbezirk Walle und viel guter Wille. Als 2001 die letzte ABM-Stelle ausläuft, droht Blaumeier kurzfristig die Schließung. Man entscheidet sich zur Gründung eines eingetragenen Vereins und widersteht seitdem der Versuchung, als Tagesstätte eine abgesicherte Zukunft zu haben. Weil man um seine Unabhängigkeit fürchtet und damit in gewisser Weise auch die Idee von Blaumeier verraten würde – das, was sie hier einen „inklusiven Ansatz“ nennen. Das Verschwimmen der Grenzen. Die selbstverständliche Mischung von Behinderten und Nichtbehinderten. Ganz ohne jedes diagnostische Denken.

Im Malatelier trägt Wollek Basecup und Sonnenbrille, er beschreibt seinen Malstil als „bisschen bekloppt, auf Deutsch gesagt“. Warum er malt? „Mir ist nicht mehr eingefallen, aber mein Bruder hat ja studiert.“ Bis 80 oder 90 möchte er malen, mindestens. Welche Materialien er verwendet? „Was mir so gefällt, was ich so finde.“ Holt Sachen vom Sperrmüll, Puppen zum Beispiel, und tackert sie einfach an die Leinwände. Oder Klebebänder, kann man auch meterweise draufkleben. Von außen betrachtet wirkt das eher abstrakt, aber für Wollek ist es absolut gegenständlich. Er sieht „eine Straße oder einen Menschen, der gern in die Tiefe reingeht“. Ein anderes Bild ist mehr oder weniger grün. Wollek sagt, es sei „ein Fenster, wo einer rausgucken tut“. Oder auch, umgekehrt, ein Fahrer, der gerade irgendwo reinfährt. Kommt ganz darauf an, wie man es sieht.

Der „Blaumeier-Kern“ von 14 fest angestellten Beschäftigten – Theater- und Sozialpädagogen, Kunstlehrer, Juristen und eine blinde Schauspielerin, die auch als Regisseurin arbeitet – bekommt ein Einheitsgehalt von 2086 Euro brutto, plus Kinderzulage. Musiker, Licht- und Tontechniker sowie Maskenbildner erhalten projektbezogen Honorare. Die 250 Leute, die wöchentlich die Angebote des Ateliers und der anderen Bereiche wahrnehmen und das Ensemble stellen, bekommen kein Geld, was natürlich eine gewisse Schieflage darstellt. „Aber wir können sie auch gar nicht bezahlen“, sagt die Geschäftsführerin. Und verweist auf das leckere Büfett am Ende jedes Theaterabends. Denn obwohl Blaumeier schon lange zu einem Aushängeschild Bremens geworden ist, schwebt man finanziell jedes Jahr neu über dem Abgrund. Das mag daran liegen, dass Blaumeier, anders als viele andere kulturelle oder soziale Stätten, nur ein Viertel seines Jahresbudgets von einer Million Euro aus öffentlichen Geldern erhält. Der Rest stammt aus intensivem Fundraising, Eintrittsgeldern und den Verkäufen von Bildern, die immerhin zwischen 200 und 2000 Euro erzielen.

Wieso eigentlich Blaumeier? Blau, damals die Farbe der Anti-Psychiatrie-Bewegung, blau aber auch wie der Himmel, wie Weite, Hoffnung und Freiheit. Blau war eigentlich immer klar. Auf einer Veranstaltung zur Namensfindung stand seinerzeit auf einmal eine Frau Meier auf und sagte, es müsse „Meier-Theater“ heißen. Und weil Meier irgendwie bodenständig ist und dem vielen Himmelsblau die nötige Erdung gibt, einigte man sich auf einen Kompromiss: „Blaumeier“.

Im Theatersaal führt die Regisseurin behutsam zum Kern des Stückes: „Eurydike hat sich schon total in Orpheus verknallt. Da gibt's nur eines: heiraten!“ Mittels zweier Stühle soll Max, einer von drei Orpheus-Darstellern, nun pantomimisch erproben, wie er seiner Angebeteten den Antrag macht. Er entscheidet sich dann aber doch spontan für eine Art Rap-Version: „EU RY DI KE!“

Hundert Leute passen hier ins Theater. Abgesehen davon, dass es natürlich Ermäßigungen gibt, sind die Preise nicht unbedingt sozial, schließlich wenden sie sich an ein normales Publikum und sollen auch etwas einbringen: 15 Euro kostet die Karte. Oft geht eine Gruppe aber auch auf die Straße oder in größere Häuser, durch eine Kooperation mit dem Theater Bremen tritt sie dort vor mindestens doppelt so vielen Zuschauern und zu höheren Kartenpreisen auf.

Addiert man die Aufführungen, Konzerte, Maskenspektakel und Ausstellungen, hatte Blaumeier im vergangenen Jahr rund 13 000 Gäste. Einige aus dem Malatelier haben bereits erfolgreich in New York ausgestellt. Und manche Schauspieler sind so gefragt, dass sie auch in anderen Produktionen mitwirken. Drei Protagonisten des mit Preisen überschütteten Kinoerfolgs „Verrückt nach Paris“ waren Blaumeier-Darsteller.---