Wechselhaft und heiter

Was hat diese Stadt nicht alles erleben und erdulden müssen. Immer wieder haben sich fremde Herrscher über sie hergemacht, jahrhundertelang wechselte Landau dauernd den Besitzer. Allein im Dreißigjährigen Krieg haben die Menschen sieben Eroberer gezählt. Und was machen sie damit? Sie lernen. Passen sich an. Und nehmen über die Zeit eine Haltung ein, die ihnen heute eine rosige Zukunft beschert: Landau, die Stadt, in der Mandeln, Kiwis und Zitronenbäume blühen, wächst und zählt zu den dynamischsten Städten Deutschlands.




Eigentlich ist das nicht gerade der Rahmen, in dem man Speisekarten mitgehen lässt. Am Nebentisch sitzt Ministerpräsident Kurt Beck, der seinen Amtskollegen aus Brandenburg, Matthias Platzeck, zum Arbeitsessen geladen hat. Der ganze Innenhof der Weinstube "Zur Blum" ist gefüllt mit Politprominenz und Sicherheitskräften. Der Reporter ist nur zufällig in diese Veranstaltung hineingeraten; er ist an diesem lauschigen Platz mit Michael Martin vom Stadtarchiv und Tourismus-Chef Franz Müller verabredet, um für ein Landau-Porträt zu recherchieren. Weil Weißburgunder und Forellenfilet schmecken und die Holzgalerien, die den Hof auf zwei Etagen einfassen, eine herrliche Atmosphäre schaffen, will er die traditionsreiche "Blum" in seinem Bericht empfehlen ­ und beginnt, einige Posten aus der Speisekarte abzuschreiben. Das schauen sich seine Tischgenossen Martin und Müller nicht lange an: "Nun nehmen Sie sich das doch mit!", fordern sie auf, und als der Schreiber zögert, greift sich Müller die Karte, zieht mit einem Ruck sämtliche Seiten heraus und drückt sie dem Reporter in die Hand.

Die Geschichte lehrt: machen

Nicht zaudern und zweifeln, zupacken! So geht das in der Pfalz. Und in Landau, dem Zentrum der Südpfalz, erst recht. Es sei typisch, dass aus seiner Heimat keine berühmten Dichter und Denker hervorgegangen seien, sagt Archivleiter Martin. "Im Schwäbischen, da hatte man Muße nachzudenken. Bei uns ging es immer nur darum: Wie komme ich über den Tag?"

Michael Martin muss es wissen. Der 60-jährige promovierte Historiker hat im vorigen Jahr die "Kleine Geschichte der Stadt Landau" veröffentlicht. Darin beschreibt er eine Vergangenheit, wie sie wechselvoller kaum sein könnte: Reichsstadt, französische Festung und Enklave, mal zu Bayern, mal zu Österreich, mal zu Preußen gehörend ­ wenige Orte in Deutschland haben so viele Herrscher, Besetzer und Belagerer kommen und gehen sehen wie das grenznahe und strategisch wichtige Landau. Allein während des Dreißigjährigen Krieges wechselte die Stadt siebenmal den Besitzer.

Schlachten enden, Soldaten bleiben, und so ist Landau immer wieder Garnisonsstadt gewesen. Vor allem für die Franzosen, die erstmals 1680, nach dem Ersten Weltkrieg und auch nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Truppen hier stationierten. Bis 1999. Dann zogen die letzten Streitkräfte ab. Gegen den Willen der Landauer, denn aus Besatzern waren längst Mitbürger, Kunden, Freunde geworden, gut 5000 an der Zahl, bei kaum mehr als 40000 Einwohnern. Dieser Aderlass, erstmals einer ohne Blutvergießen, aber ein schmerzlicher Verlust an Kaufkraft, Kultur und "Klein-Frankreich"-Image ­ er ist die jüngste Herausforderung für eine Stadt, die über die Jahrhunderte selten zur Ruhe kommen durfte.

Wer als Landau-Besucher nun meint, nach so viel Gezerre einen zerrissenen Ort vorzufinden, ohne Charme und Charakter ­ der sieht sich getäuscht. Die Stadt hat einen Kern, den Rathausplatz, um dessen Dimensionen manch andere, größere sie nur beneiden kann. Für Militärparaden brauchte man Platz, und heute tummelt sich hier am samstäglichen Wochenmarkt halb Landau.

Dutzende von Händlern gruppieren sich mit ihren Ständen und Wagen um das Reiterstandbild des Prinzregenten Luitpold von Bayern herum und bieten ihre Spezialitäten an: Hirschschinken aus Südtirol, Weinbergschnecken, elsässischen Ziegenkäse, Bio-Kastanienhonig, Pfälzer Melonen. Da wird gekauft, geplaudert, gestikuliert, geschlemmt, getrunken und Straßenmusik gemacht. Vom Rathausplatz aus starten auch die Pferdekutschen, in denen man sich von den Zweibrücker-Stuten Doris und Lotte gemütlich durch die Altstadt ziehen lassen kann. Andernorts bloße Touristenattraktion, gibt es hier einen geschichtlichen Hintergrund: Im Jahre 1702 war der damals 24-jährige König Joseph I. aus Wien mit einem neuen Kutschenmodell angereist, dessen Verdeck sich nach zwei Seiten öffnen ließ. Von dieser Cabrio-Innovation sollte sich später der Name "Landauer" ableiten. Noch heute bezeichnet man damit offene Kutschen, und in Frankreich sagt man für Kinderwagen schlicht "le landau".

Landau hat eine Ende Oktober genau 100 Jahre alte prächtige Festhalle, in der Herbert von Karajan, Yehudi Menuhin und Anne-Sophie Mutter auftraten, französische Generäle Bälle abhielten und heute Software-Firmen ihren Mitarbeitern den Luxus gönnen, mit hochmoderner Konferenztechnik und gleichzeitig unter Gewölbedecken und Jugendstilornamenten zu tagen.

Das Erbe ist auch schön

Und Landau hat eine Stiftskirche, eines der bedeutendsten gotischen Gotteshäuser der Pfalz, das Katholiken und Protestanten mehr als zwei Jahrhunderte lang gemeinsam genutzt haben, wenn auch unter Zähneknirschen. Wer die 175 Stufen hinauf auf den Turm geschafft hat, dem offenbart sich die Struktur der Stadt: Direkt unter der Kirche die Marktstraße, die ­ als Fußgängerzone und Einkaufsmeile ­ mit ihren Fachwerkhäusern das Zentrum von Nord nach Süd durchzieht. Gekreuzt von der Queich, die den Kern von West nach Ost durchfließt, aber nur an wenigen Stellen freigelegt ist. Das Deutsche und das Französische Tor, zwei der letzten imposanten Relikte der achteckigen Festungsmauer, die der geniale französische Baumeister Vauban unter Ludwigs XIV. von 1688 bis 1691 errichten ließ, um das nördliche Einfallstor zum Elsass zu verschließen. Weiter außen die Ringstraßen, die erst nach Schleifung der Festung nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 entstehen konnten und mit pompösen Villen im Gründerzeitstil gesäumt sind.

Dahinter weite Grünflächen wie der Goethe-, Schiller- oder Luitpoldpark, mit denen Landau in den sechziger und siebziger Jahren seinen Namen als Gartenstadt festigte, den sie sich durch die südwestdeutsche Gartenbauaustellung 1949 erworben hatte. Im Umland, leicht erhöht und eingebettet in Weinberge, Raps- und Tabakfelder, die acht Stadtdörfer, die Landau kreisförmig umschließen. In der Ferne schließlich der Pfälzerwald, und, mit bloßem Auge gut zu erkennen, das Hambacher Schloss, die Wiege der deutschen Demokratie.

Landau liegt in einer Region, die man die Toskana Deutschlands nennt. Es ist verwöhnt vom mildesten Klima der Republik, genießt 1800 Sonnenstunden im Jahr und hat mehr Rebflächen als alle anderen Gemeinden hierzulande. Durch seine tiefe, windgeschützte Lage zieht der Frühling eher ein, und der Sommer verabschiedet sich später als anderswo; es wachsen Zitronenbäume, Feigen, Mandeln und Kiwis. In Landau leben offene, fröhliche Menschen, die bei Festen in großer Runde die Weißweinschorle im Halbliter-Glas kreisen lassen. Menschen, die, fragt man sie nach dem Weg, so lange erklären, bis sie sicher sind, dass man ihn auch findet ­ wenn sie nicht gleich ein Stück mitgehen. "Die Leute hier mussten sich in der Vergangenheit mit so vielen unterschiedlichen Mentalitäten arrangieren", sagt Noch-Oberbürgermeister Christof Wolff, "dass sie wohl eine besondere Gabe entwickelt haben, sich auf Auswärtige einzulassen und mit ihnen zu kommunizieren."

Vielleicht war es ein wenig auch der Preis für diese Aufgeschlossenheit, dass Landau kürzlich unter der Rubrik Provinz-Posse bundesweit in die Schlagzeilen geriet. Die Stadt ist einem Hochstapler auf den Leim gegangen. Der Kandidat, den die CDU als Wolffs Nachfolger ins Rennen für die Oberbürgermeister-Wahl am 2. September geschickt hatte, erwies sich als skrupelloser Blender. Dieser junge, dynamische, von Bundestagsabgeordneten empfohlene Mann, dieser zwar nicht aus der Pfalz stammende und in Landau bisher völlig unbekannte, aber so gewinnend auftretende Kai Schürholt hatte nicht nur seinen Doktortitel der Theologie erfunden, sondern, als dies bekannt wurde, auch noch mit dem Mitgefühl der Menschen gespielt, indem er eine Krebserkrankung vortäuschte. Die Christdemokraten, bis auf die Knochen blamiert und am Wahltag nun ohne Kandidat, verloren das Amt nach mehr als 60 Jahren an die SPD.

Die Zukunft braucht Partner

Wie geht man in Landau mit so etwas um? Mit dem üblichen Pragmatismus. "Natürlich hätte ich mir einen ganz normalen Wahlkampf gewünscht", sagt Hans-Dieter Schlimmer, der Christof Wolff zum Jahresbeginn als Oberbürgermeister ablösen wird. "Aber wenn bei der Tour de France jemand wegen Doping rausfliegt, fährt am Ende eben ein anderer über die Champs-Élysées."

Pragmatismus hat sich bewährt im politischen Leben Landaus. Über Jahrzehnte. "Es gab fast immer eine große Gemeinsamkeit der Parteien im Rat, hier schlägt man nicht aufeinander ein", resümiert Wolff seine 23-jährige Amtszeit. Bei Walter Morio, seinem Vorgänger, war das nicht anders gewesen: "Wir hatten immer vernünftige Leute und haben mehr als 90 Prozent der Beschlüsse einstimmig gefasst", erinnert sich der 86-Jährige, der von 1964 bis 1984 die Geschicke der Stadt lenkte. Und auch wenn Wahlsieger Hans-Dieter Schlimmer es im Moment noch genießt, dass "die CDU durch den Skandal ein bisschen von ihrer Machtarroganz ablegen muss", lässt der SPD-Mann keinen Zweifel daran, dass auch er sich den Umgang im Stadtparlament in Zukunft "partnerschaftlich" vorstellt: "Nur so können wir gestalten."

Gestalten. Das überlassen die Landauer aber nicht nur ihren Politikern. Die Bürger erfüllen den Marketingslogan von der liebens- und lebenswerten Südpfalzmetropole mit Leben, indem sie sich engagieren. Und das nicht nur mit Worten. Beispiel Festhalle: So viel Furore der 1907 erbaute Veranstaltungsort mit der Verpflichtung von Künstlern von Weltruf in der Nachkriegszeit gemacht hatte (Landaus damaliger Kulturamtsleiter Max Krämer hatte ein Händchen, und er profitierte davon, dass es in Karlsruhe oder Ludwigshafen keine intakten Hallen mehr gab), so kritisch war die Lage plötzlich zu Beginn der neunziger Jahre: Gutachter stellten erhebliche Sicherheitsmängel fest, etwa beim Brandschutz. "Der einzige Weg war eine Generalsanierung, sonst hätte man uns den Schlüssel umgedreht", sagt Thomas Hirsch, Geschäftsführer der Stadtholding, dem Betreiber der Halle.

War schon der Bau des prestigeträchtigen Objektes nur dank einer ­ damals anonymen ­ Spende möglich gewesen, fanden sich auch jetzt schnell Menschen zusammen, gründeten einen Förderverein und zählten bald mehr als 1000 Mitglieder. "Die haben von überall her und bei jeder Gelegenheit Geld gesammelt, von der örtlichen Sparkasse bis zur Deutschen Bank, vom runden Geburtstag bis zur Weihnachtstombola", erzählt Hirsch. Mehr als 4,3 der insgesamt 20 Millionen Euro Sanierungskosten seien aus privater Hand gekommen. "Der Verein hat es geschafft, dass es zum guten Ton gehörte, für die Festhalle zu spenden."

Es gibt viele solcher Beispiele in Lan-dau. Auch das Frank-Loebsche-Haus gehört dazu, in dem im 19. Jahrhundert die Urgroßeltern von Anne Frank lebten und wo die eingangs erwähnte Weinstube "Zur Blum" bereits seit dem 17. Jahrhundert ihre Heimat hat. Eine Bürgerinitiative rettete den dreigeschossigen Vierflügelbau in den achtziger Jahren vor dem Verfall. Heute beherbergt er eine ständige Ausstellung zur Geschichte der Landauer Juden und eine Dokumentation über Sinti und Roma in der Pfalz, dient überdies als Galerie, Atelier und Veranstaltungsort.

Aber es müssen nicht immer Kunst und Kultur auf dem Spiel stehen oder Spenden fließen, wenn Landauer aktiv werden. Der 1975 gegründete "Freundeskreis des Landauer Tiergartens e.V." unterstützte den örtlichen Zoo mit inzwischen mehr als 1,3 Millionen Euro ­ ohne die 900 Mitglieder gäbe es kein Naturgehege für Braunbären, nicht die Afrika-Anlage mit Gnus und Zebras und auch kein neues Zuhause für die Humboldt-Pinguine, das zurzeit für rund 230000 Euro entsteht. "Wir sind mit vier Hektar Größe der drittkleinste Zoo in Deutschland, haben aber 160000 Besucher im Jahr, mehr als der Zoo in Leipzig", berichtet stolz Helmuth Back, der 2. Vorsitzende des Vereins. Als 1993 das ebenfalls von der Stadtholding betriebene Freizeitbad "La Ola" eröffnete, stand das alte Freibad zur Debatte. Doch Frühschwimmer und Familienväter kämpften. "Manche sind dort freiwillig Unkraut jäten gegangen, so wichtig war denen ihr Bad", sagt Holding-Chef Hirsch.

Der Standort lockt gute Leute

Von Verantwortlichen aus der Wirtschaft hört man über die Vorteile des Standortes neben guter Verkehrsanbindung und hoher Lebensqualität immer wieder auch Lobesworte über den Charakter der Menschen: "Wir finden hier die Mitarbeiter, die wir brauchen", sagt Stefan Herzinger, einer von zwei Geschäftsführern bei Wickert Maschinenbau. "Ich meine damit motivierte Leute, die sich langfristig wohl fühlen wollen in einem Unternehmen. Bei uns gibt es nur eine ganz geringe Fluktuation." Bernd Rose, Geschäftsführer von WWK Druck, der in Landau mit knapp 200 Beschäftigten Teile des Otto-Katalogs produziert, bestätigt das: "Wir haben hier nicht nur ausreichend Fläche und attraktive Konditionen, sondern auch eine sehr gute, sehr zuverlässige und engagierte Mitarbeiterschaft."

Dabei war der Wirtschaftsstandort Landau bis Anfang der neunziger Jahre das, was man gemeinhin als strukturschwach bezeichnet. Abgesehen vom Reifenhersteller Gummi-Mayer mit damals 1700 Beschäftigten gab es kaum Industrie. In "Kanonenschussweite" vom "Erbfeind" gelegen, war die Region seit jeher nicht dazu angetan, größere Unternehmen anzulocken. Dass Landau heute eine der höchsten Unternehmensgründungsquoten der Republik aufweist (163,6 zum Bundesdurchschnitt 100) und mit zuletzt gut 18 Millionen Euro mehr Gewerbesteuer einnimmt als je zuvor, liegt nicht zuletzt an Leuten wie Martin Messemer, dem Leiter der städtischen Wirtschaftsförderung. Der smarte 40-Jährige schaut von seinem Schreibtisch im ersten Stock des Rathauses direkt auf einen kleinen Biergarten, und manchmal sitzt er noch vor seinem PC, wenn unten bereits die Tische abgeräumt werden. Wenn er über Genehmigungsverfahren spricht, sagt er Sätze wie "Bei uns läuft der Antrag, nicht der Antragsteller", und seine E-Mails tragen am Ende nicht nur seine Signatur, sondern auch eine Botschaft: "Die Zukunft gehört nicht den Großen, sondern den Wachsenden."

Die Stadt wächst und gedeiht

Und zu denen gehört Landau. Das Prognos-Institut, das jüngst zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Handelsblatt alle 439 Landkreise und kreisfreien Städte Deutschlands einer Zukunftschancen-Analyse unterzog, sieht die Stadt in seinem Zukunftsatlas 2007 auf Platz 31, in der Kategorie "Dynamik" sogar auf Platz 12. In Rheinland-Pfalz, wo insgesamt 36 Landkreise und kreisfreie Städte verglichen wurden, ist Landau Nummer 2, direkt hinter der Landeshauptstadt Mainz.

Messemer präsentiert sie gern, seine Zahlen: Lag die Arbeitslosenquote 1983 in Landau noch bei zwölf Prozent und damit ein Prozent über dem Bundesdurchschnitt, ist sie mit 5,4 Prozent heute fast auf die Hälfte des gesamtdeutschen Mittelwertes (9,1 Prozent im Mai 2007) gefallen. Die Bevölkerung in der Stadt wächst, es gibt überdurchschnittlich viele junge Erwachsene, die Kaufkraft ist hoch, das Einzugsgebiet für den Einzelhandel umfasst 250000 Menschen. Auch dass die Dienstleistungsquote bei mehr als 80 Prozent liegt, sieht Messemer positiv, "weil dieser Bereich nicht so unter Konkurrenzdruck steht wie das produzierende Gewerbe". Und natürlich freut ihn, dass Landau als Verwaltungszentrum für die Region vom Wirtschaftsmagazin Impulse im November 2006 einen Preis für Entbürokratisierung erhielt.

Die Politik agiert südpfälzisch

Ganz sicher ist sie nicht in die Bewertung eingeflossen, aber es gibt eine Anekdote über Oberbürgermeister Wolff, die einen Eindruck davon vermittelt, wie das Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik laufen kann in Landau. Ganz nebenbei: Die Ähnlichkeit zum Stadtoberen im nahe gelegenen Wörth, Harald Seiter, legt die Vermutung nahe, dass es sich da offenbar um ein südpfälzisches Phänomen handelt. Christof Wolff jedenfalls erzählt die Episode ganz freimütig, wenn man ihn darauf anspricht: Mitte der achtziger Jahre habe es bei der Firma Ronal, Produzent von Leichtmetallrädern, Standortüberlegungen gegeben. Der Zulieferer für fast alle großen Automarken wie Audi, VW, Opel oder Mercedes produzierte unter anderem im 62 Kilometer entfernten Forst bei Bruchsal, und Wolff wollte dieses Werk unbedingt nach Landau holen.

Man verabredete Stillschweigen mit der damaligen Firmenleitung. "Wenn jemand Wind davon bekommen hätte, wären 500000 Euro Konventionalstrafe fällig gewesen", sagt Wolff. Bis zum endgültigen Beschluss des Stadtrats seien nur er und sein damaliger Wirtschaftsförderer Alois Münch eingeweiht gewesen. Das entscheidende Gespräch mit Ronal-Gründer Karl Wirth fand in einer Nacht- und Nebel-Aktion auf einer Autobahnraststätte statt. Heute bietet Ronal am Standort Landau 550 Mitarbeitern einen Arbeitsplatz und ist Markt- führer in Europa. "Kritiker sprechen in solchen Fällen gern von Mauscheleien in Hinterzimmern", sagt Wolff, "aber wenn Sie jedes wichtige Projekt auf dem offenen Markt austragen, dann laufen Ihnen die Partner weg."

Dass Landau als Standort so gewonnen hat, liegt zu einem erheblichen Teil da-ran, dass zwei Lücken geschlossen wurden. Bei der einen ging es nur um ein Stück Autobahn. Die A 65 endete im Süden der Stadt und begann erst wieder im 15 Kilometer nördlich gelegenen Edenkoben. Der gesamte Schwerverkehr schleppte sich durchs Zentrum. Seit 1990 haben Autos und Lkw freie Fahrt Richtung Ludwigshafen/Mannheim oder Karlsruhe/Stuttgart.

Die Schließung der anderen Lücke war und ist eine weit größere Nummer für die Stadt. Es geht um die Lücke, die die Franzosen hinterließen. In Freiburg oder Tübingen, so heißt es, habe man den abziehenden Truppen keine Träne nachgeweint. In Landau war das anders. Hier verlor eine Stadt nicht nur ein Achtel ihrer Einwohner, musste nicht nur mehr als 100 Hektar innerstädtische Flächen neu beleben. Hier gab es eine aktive Deutsch-Französische Gesellschaft. Hier gab es Partnerschaften mit Ribeauvillé und Haguenau. Hier gehörte ein Stück Frankreich zur Identität der Stadt.

Oberbürgermeister Wolff gerät noch heute ins Schwärmen, wenn er sich an die Zeit mit den Franzosen erinnert. An die Paraden am Tag des Regiments. Die Bankette mit Generälen und Offizieren in der Festhalle. Die zwei- bis dreihundert neuen Rekruten, die alle Vierteljahr einrückten und die er persönlich begrüßte, bevor sie von Schülern aus Französisch-Leistungskursen durch die Stadt geführt wurden. "Das hatte schon Stil." Und obwohl es Soldaten gewesen seien, hätten gerade auch die unmilitärischen Seiten der Grande Nation abgefärbt. "Wir haben viel vom französischen Laisser-faire angenommen. Hier wird in den Parks Boule gespielt, hier gibt es eine Ungezwungenheit, dass einem Neustadt dagegen manchmal regelrecht preußisch vorkommt, obwohl es nur gut 20 Kilometer entfernt ist."

Die Landauer richteten Petitionen an den französischen Staatspräsidenten und an den deutschen Bundeskanzler ­ und sie erreichten immerhin eine Verzögerung des Abzugs. Der sollte sich schließlich auf acht Jahre verteilen, von 1991 bis 1999. Nach und nach wurden in dieser Zeit drei große Kasernenareale, rund 860 Wohnungen sowie Verwaltungsgebäude und medizinische Einrichtungen geräumt.

Die Konversion ist eine Chance

Konversion, die Umwandlung militärischer Anlagen in zivile, hieß die neue Aufgabe, die kein Herrscher, kein Krieg, sondern ein Klima politischer Entspannung den Landauern auferlegt hatte. Und die lamentierten nicht lange, sie machten sich an die Arbeit, wie immer, wenn ein Problem zur Lösung ansteht. Wenn sie die Franzosen schon nicht hatten halten können, so konnten sie doch eines: die richtige Haltung einnehmen. "Wir als Planer haben das Ganze dann als lustvolle Herausforderung gesehen, als echte Chance", sagt Michael Heder, der als Leiter des Bauamts maßgeblich an allen Konversions-Projekten beteiligt war und ist.

Wer heute durch Landau spaziert oder fährt, der sieht, dass die Stadt diese Chance genutzt hat. Am südöstlichen Stadtrand, auf dem Kasernengelände Jeanne d'Arc, entsteht nun der Gewerbepark "Am Messegelände". 70 Firmen haben hier bereits eine Heimat gefunden, rund 1000 Menschen Arbeit. Neben dem neuen Sparkassengebäude fällt vor allem ein Komplex auf, das Exis-tenzgründerzentrum. Hier können sich kleine Firmen Tür an Tür austauschen und beim Start in die Selbstständigkeit unterstützen. Auf dem 1995 frei gewordenen elfeinhalb Hektar großen Areal findet überdies alle zwei Jahre die Lan-dauer Wirtschaftswoche statt, mit 450 Ausstellern und 100000 Besuchern die größte Verbraucherschau der Pfalz.

Auch im Zentrum stößt man auf Konversions-Objekte, die beeindrucken. Das Quartier Chopin in der Ostbahnstraße zum Beispiel ist ein echtes Schmuckstück geworden. 1863 als Pulver- und Proviantmagazin errichtet, stand es zuletzt leer, machte einen düsteren, abweisenden Eindruck. Nun zieht einen der Bau mit seiner wunderschönen hellen Sandsteinfassade nach drinnen, wo man hinter meterdicken Mauern und Gewölben lauter hübsche kleine Läden findet: einen Hörgeräteakustiker, ein Geschäft für Holzmöbel oder die italienische Vinothek "Il Mio". Im Hafermagazin gegenüber, einst riesiger Getreidespeicher und zuletzt Großwäscherei für die Streitkräfte, wird derzeit noch gebaut. Hier entstehen mehr als 70 moderne Eigentumswohnungen.

Für Thorsten Holch war die Konversion ein echter Glücksfall. Umgekehrt gilt das aber auch, das würde wohl keiner bestreiten in Landau. Holch war Anfang 20, studierte Architektur in Kaiserslautern und hatte gerade sein Vordiplom bestanden, als er Mitte der achtziger Jahre von einem interessanten Objekt in Landau hörte: dem Dagoberthof. Benannt nach einem Merowingerkönig, war das Anwesen bis 1984 als französische Grundschule genutzt worden; nun wuchs es zu und verwitterte. Holch wusste, dass die Anlage in den fünfziger Jahren nicht von irgendwem, sondern vom Frankfurter Städelprofessor Johannes Krahn entworfen worden war ­ und schaute sie sich an. "Auch wenn die Fenster eingeschlagen waren und alles heruntergekommen war, erkannte man die hohe Entwurfsqualität: Pavillon-Bauweise, fünf Innenhöfe, tolle Lichtführung", erzählt der heute 43-Jährige.

Das Hospital wird Wohntraum

Thorsten Holch kaufte erst den Hof, dann einen Bagger und legte los. Das einstige Lehrerzimmer ist heute Konferenzraum, sein Bett steht in einem ehemaligen Klassenzimmer. Um ihn herum leben und arbeiten 80 Menschen auf dem Gelände, die jeden Sommer mit mehr als 1000 Besuchern ein großes Fest feiern, mit Live-Musik, Comedy, Theater und Feuerwerk.

Holch baute das Offizierskasino zur Mensa für die 6000 Studenten der Universität Koblenz-Landau um, verhalf Schleusenhaus und Französischem Tor zu neuem Glanz, aber sein Meisterstück bleibt der Lazarettgarten. Das einst von den Bayern und zuletzt von den Franzosen als Garnisons-Hospital genutzte Areal mit großem Park in der Mitte gehört heute zu den beliebtesten Lebensräumen in Landau: Single-, Familien- und altengerechte Wohnungen, 30 bis 220 Quadratmeter groß, zum Teil mit Terrassen und Wintergärten. Kindertagesstätte, Spielplatz, Café. Autofrei durch Tiefgaragen, ökologisch beheizt mittels eines Blockkraftwerks, von der Stadt 1996 mit einem Umweltpreis ausgezeichnet. Und dabei bezahlbar: Die Nettokaltmiete pro Quadratmeter liegt zwischen 5,50 und 7 Euro.

Der Architekt ist ein Genie

Wenn man dem Architekten und Inves-tor eine Weile zugehört hat, fragt man sich, wann er eigentlich seine Diplom-Prüfung abgelegt hat, wo doch ein Konversions-Projekt aufs nächste folgte. "Nie", sagt Holch mit einem Lächeln. Die Architektenkammer habe ihn 2003 aufgrund des sogenannten Genieparagrafen aufgenommen. "Ich hatte ja 15 Jahre Praxis hinter mir und neun volle Ordner mit Referenzen ­ mehr als so mancher Professor."

Sich trauen, springen, einfach machen ­ dafür scheint Landau ein besonders gutes Umfeld abzugeben. Nehmen wir als letztes Beispiel Jürgen Kunz. Ohne seinen Mut ­ man muss wohl sagen: seine Chuzpe ­ gäbe es keine Weinkellerei Gustav Decker mehr; er rettete damit nicht nur ein Unternehmen, sondern auch ein Stück Tradition, denn in der Nachkriegszeit gab es noch 40 Großkellereien in Landau ­ heute gibt es nur noch eine: Gustav Decker.

Kunz arbeitete als Orthopäde mit eigener Praxis in Landau, als sein Schwiegervater plötzlich einem Schlaganfall erlag. Dieser Schwiegervater war Heinz Steiner gewesen, der einst in die Weinkellerei Decker eingeheiratet und sie lange Jahre geleitet hatte. Es gab keinen Nachfolger. "Meine Frau war mit Leib und Seele Ärztin, die kam nicht infrage", erzählt Kunz. Er selbst kam ebenfalls nicht infrage, denn er habe über Wein nur gewusst, dass es roten und weißen gibt, sonst gar nichts. Aber man fragte ihn. Jürgen Kunz nahm sich ein Wochenende Zeit zum Nachdenken ­ und sagte Ja.

Er hatte kaum sein Büro bezogen, Anfang 1998 war das, da ging es schon nach Düsseldorf, zum Jahresgespräch mit der Metro: "Ich musste bei den Verhandlungen so tun, als würde ich das schon ewig machen. Mengen, Konditionen, Rabatte ­ damit hatte ich ja überhaupt keine Erfahrung. Zum Glück hatte ich einen altgedienten Mitarbeiter dabei, auf dessen Urteil konnte ich mich verlassen."

Kunz hat eine Menge lernen müssen in jenen ersten Jahren. Das Pensum reichte von überzeugenden Außenauftritten bis hin zur Mitarbeiterführung. Er hat nicht jeden aus der Anfangszeit gebrauchen können, bei der Übernahme hatte der Betrieb 30 Beschäftigte, heute sind es noch 15. Die Guten, sagt Kunz, seien alle geblieben.

Der Mediziner dreht den Laden

Der 62-Jährige weiß, dass er es nicht gepackt hätte, wäre nicht Glück im Spiel gewesen und ein guter Berater. Glück war beispielsweise, dass er einen einfachen Techniker für die zur Firma gehörende Brennerei suchte ­ und mit dem Kasachen Juri Bergen einen Unternehmer fand, einen Mann, der in seiner Heimat ein Bergwerk mit fast 3000 Arbeitern geleitet hatte und nun den Markt Russland und Mittelasien betreut. Rat holt sich Kunz bis heute zweimal die Woche von einem Freund aus gemeinsamen Zeiten bei der Marine, dem Brigadegeneral Stefan Kretschmer aus Hamburg. "Dem Mann vertraue ich, der ist so gewieft in strategischen Fragen ­ ein Telefonat mit dem ist besser als jedes Coaching und jede Studie einer Unternehmensberatung."

Die Beratung trägt Früchte. Gab es bei Kunz' Antritt noch keinen Export ins Ausland, ist die Weinkellerei Decker nun breit und international aufgestellt. Die Firma macht für Eckes das komplette Frankreich- und Italienprogramm, lässt für den niederländischen Biergiganten Heineken Wein in Stahlfässer laufen, liefert Brandy nach Usbekistan, füllt für Racke Schorle ab und hat Bio- und Diabetikerweine im Sortiment. Hinzu kommt die Pflege regionaler Produkte wie der Williamsbirnenschnaps "Landauer Willi" oder der Weißweinverschnitt "Raddegiggl forzdrogge".

Begleitet man Kunz durch seine Katakomben, vorbei an haushohen Edelstahltanks, gigantischen Holzfässern und einer Abfüllanlage, an der 5500 Flaschen pro Stunde vorbeiziehen, kommt einem die Frage in den Sinn, ob der Chef nicht manchmal davon träumt, lieber ein kleines, feines Weingut zu führen, statt für andere Massen abzufüllen, ein Gut mit ein paar erlesenen Parzellen und einem Ruf bei Feinschmeckern, wie ihn die Gebrüder Keßler genießen, Landaus Spitzenwinzer vom Münzberg im Ortsteil Godramstein.

"Wir sind zu einem guten Teil Dienstleis-ter", sagt Kunz ohne zu überlegen, "das war mir von Anfang an bewusst." Dann holt er eine Flasche Cognac hervor, auf der eine Goldmedaille von der Deutschen Lebensmittelgesellschaft prangt. Sein Schwiegervater habe den Wein 1953, einem besonders guten Jahrgang in Frankreich, in der Charente gekauft, in Landau destilliert und "50 Jahre in Eichenfässern vor sich hin verdunsten" lassen. "Wir haben den ältesten Weinbrand Deutschlands!"

Ein paar Jahre noch, dann will sich Jürgen Kunz zurückziehen. Sein Sohn studiert Medizin, seine Tochter ist Juristin, wieder fehlt ein Nachfolger. Der Unternehmer bleibt gelassen. Es wird sich schon einer finden in Landau, der die Sache in die Hand nimmt.