International befreite Zone Germanshof

Wo studentische Polit-Aktivisten aus ganz Europa einst die Grenze stürmten, soll der Völkerfreundschaft ein Denkmal gesetzt werden – nicht auf Anordnung aus Brüssel, sondern auf Wunsch einer Pfälzer Bürgerinitiative.




Männer in Uniform, das sind auch nur Menschen. Da steckt man sie in ein schmuckes Wams, bestallt sie zum Beamten, übergibt ihnen ein Gewehr, vertraut ihnen eine staatstragende Aufgabe an ­ und dann muss doch nur ein hübsches Mädchen kommen, schon ist Polen offen. So auch die Pfalz.

Dass ihm da eine Aufrührerin in die Hände fällt, kann der französische Zöllner beim besten Willen nicht geahnt haben, als ihm die 23-Jährige allzu bereitwillig in die Arme sank. Der Studentin nicht misstrauischer begegnet zu sein, stattdessen "zwischen Bestürzung und Entzücken" geschwankt zu haben, wie der Spiegel später behauptet, rächt sich für ihn rasch. Während er und seine Kollegen glauben, einer Kreislaufschwachen ritterlich beizustehen, nähern sich deren verschwörerische Freunde hinterrücks und sperren die Schrankenwärter ins Zollhaus ein. Das Happening, das dann folgte, steht heute, 57 Jahre später, in Geschichtsbüchern.

An jenem verschlafenen Sonntagnachmittag des 6. August 1950 überraschten und überwältigten rund 300 Studenten die deutschen und französischen Beamten am Grenzübergang St. Germanshof. Der Krieg war gerade vorüber, die Vorläufer der Europäischen Gemeinschaft noch nicht in Sicht, da forderten sie die europäische Einigung ­ und das auf anschauliche Weise.

Sie machten sich an Schlagbäumen und Grenzpfählen zu schaffen und verbrannten sie unter völkerfreundschaftlichen Reden und feierlichem Sermon. Auf die Frage, woher sie kommen, gab ein Mitglied des "Bundes der Europäischen Jugend" (BEJ) nach dem anderen theatralisch seine Herkunft preis: "Aus Rom in Europa!" ­ "Aus München in Europa!" ­ "Aus Bern in Europa!" Nur ein 27-Jähriger verhaspelte sich aus alter Gewohnheit, "aus Brighton in England!", um sich nach dem Lapsus schnurstracks zu korrigieren.

Nach ein paar Stunden zogen die Anhänger wieder ab in ihre Ferien-Camps nach Bayern und ins Elsass, aus denen sie sich in Bussen und Autos aufgemacht und grüppchenweise von beiden Seiten der Grenze konspirativ angeschlichen hatten. Dank der Journalistenschar, die sie begleitete, war die Aktion in den nächsten Tagen europaweit in der Presse. Es war der Auftakt zu einer ganzen Reihe ähnlicher Aktionen des BEJ.

Der Demonstrationszweck

heiligte die Mittel

"Die Teilnehmer waren ihrer Zeit weit voraus", würdigt Herbert Breiner die Aktion in seinem Heimatort Bobenthal-St. Germanshof. Er meint damit nicht den innovativen trickreichen Demonstrationsstil, mit dem es Lämmern noch heute gelingt, den Wolf zu überrumpeln. Breiner hat nicht die "Fünf-Finger-Taktik" im Blick, den Anmarsch in getrennten Gruppen, den auch die Camp-Bewohner in Heiligendamm genutzt haben, um die Staatsmacht aus der Ferne zu verwirren, und auch nicht den noch immer populären Einsatz von Schminke und Schauspielerei, um als "Rebel Clown Army" in der Nahdistanz zu punkten. Breiner meint den Demonstrationszweck. Das Ende der Nationalismen zu fordern, die Vereinigten Staaten Europas auszurufen, "das war damals revolutionär", sagt er. Der Europarat hatte gerade eine Sitzungsperiode hinter sich gebracht, die Montanunion trat erst zwei Jahre später in Kraft. Inzwischen ist der Wunsch der Studenten Wirklichkeit. An der Grenze sind weder Schranken noch Zöllner zu sehen.

Die Wieslauter verläuft auf der einen, die Straße von Weißenburg nach Bobenthal auf der anderen Seite des Tals. Auf dem Platz dazwischen: Schafe und Germanshof. Der Ort war gut gewählt. Zum einen geografisch. Die Pfalz und das Elsass boten beste Bedingungen, sich in der Deckung von Tälern und Wäldern anschleichen und eine Weile unbemerkt den Aufstand proben zu können. Aus strategischen Gründen waren die Wege zur Grenze von den Erzfeinden nicht ausgebaut worden. "Jede Straße wurde ängstlich vermieden", sagt Gerhard Bourquin, der in diesem Niemandsland wohnt. Im unzugänglichen "Viehstrich" traf der Ersatz für die eingesperrten Zöllner denn auch erst ein, als längst alles vorüber war.

Obwohl bei der Auswahl des Demonstrationsplatzes diese taktischen Vorteile den Ausschlag gaben, ist St. Germanshof auch wegen seiner Geschichte als Symbol europäischer Versöhnung geeignet. Die exponierte strategische Lage in der "Roten Zone" zwischen Westwall und Maginot-Linie hatte die Bevölkerung am 1. September 1939 zu einem der ersten Kriegsopfer gemacht. Breiners und Bourquins Familien wurden bei Kriegsausbruch ins Hinterland deportiert, die Dörfer evakuiert, die Besitztümer beschlagnahmt. "Vieh, Autos und Maschinen hat man in Bergzabern versteigert, davon haben wir nichts bekommen", sagt Bourquin. "Das ist alles in die Kriegskasse."

Nach dem Krieg vergriff sich die andere Regierung an dem Landstrich. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion verpflanzte die französische Besatzungsmacht am 23. April 1949 die Grenzpfosten hinter St. Germanshof. Die winzige Siedlung, die aus einer Handvoll Häuser, einem Sägewerk und einem Bauernhof bestand, war über Nacht französisch geworden.

Um dem Ganzen einen offiziellen Anstrich zu geben, führte der Chef der französischen Besatzungstruppen in Deutschland, General Koenig, die Sicherung der Wasserversorgung der nahen Stadt Wissembourg/Weißenburg ins Feld. "Dabei war die noch nicht mal unterm Hitler gefährdet", sagt der 66-jährige Bourquin, dessen Familie das große Gehöft ­ heute Wirtshaus und Ponyhof ­ gehörte. "Jeden Tag bekam mein Vater Besuch von der Geheimpolizei", erinnert er sich. "Doch keiner wollte unterschreiben, dass er Franzose werden will."

Wer will Franzose werden?

Zumindest nicht die Einheimischen: Manch anderer Landsmann verlegte extra seinen Wohnsitz ins annektierte Tal, um auf diese Weise Bürger Frankreichs zu werden. "Man wusste ja nicht, was aus Deutschland wird", sagt Bourquin. Herbert Breiners Vater, damals Bürgermeister, protestierte gegen die Grenzverschiebung ­ hatte Frankreich doch verkündet, keine Wohngebiete annektieren zu wollen. "Der lief von Pontius zu Pilatus, aber keiner wollte zuständig sein", sagt Breiner. Nach einem knappen halben Jahr gaben die Franzosen die Siedlung frei und pflanzten Schranken und Grenzpfähle an die alte Stelle. Dort fielen sie ein Jahr später den Studenten in die Hände.

Das vaterlandslose Gesellenstück war wohlorganisiert und -terminiert. Am Tag darauf begann die zweite Sitzungsperiode des Europarats, und der bisherige Paria Deutschland durfte zum ersten Mal teilnehmen. Ein Sitzungsteilnehmer, der ehemalige französische Finanzminister und einer der Konstrukteure der Montanunion, André Philip, sprach vorher in St. Germanshof: "Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass junge Europäer sich an der Grenze treffen, nicht um sich zu bekriegen, sondern um für die Beseitigung der Grenze zu demonstrieren."

Gerade weil der nationale Hass noch so lebendig war, trieb es viele junge Leute, Intellektuelle und Politiker zur Versöhnung und unter die Fahne der "Europäischen Bewegung", einem grünen E auf weißem Grund. Helmut Kohl wird die Teilnahme an der Demo in St. Germanshof allerdings nur angedichtet. "Er hat mir geschrieben, er habe zwar einiges für Europa getan, aber hier sei er nicht dabei gewesen", sagt Breiner. Saarlands Ministerpräsident Peter Müller schmückt sich dagegen damit, einst Grenzpfähle zersägt zu haben ­ das muss aber lange nach 1950 gewesen sein. Er ist erst 1955 geboren.

"Die Aktion Germanshof war meines Wissens die einzige Grenzpfahlbeseitigung, von der es Fotos gibt", sagt Lutz Gude, Bundesgeschäftsführer der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF), die in Deutschland nach eigenen Angaben knapp 3000 und in Europa 30000 Mitglieder zählen. Haben seine Vorgänger im Jugendverband BEJ noch so aufregende Sachen wie Grenzrevolten oder die Besetzung der von England nach dem Krieg als Bombenziel genutzten Insel Helgoland aufgezogen, organisiert Gude vor allem Jugendaustausche und Seminare zur Förderung der Integration. "Zu verbrennen gibt es auch nicht mehr so viel", sagt er. "Schließlich herrscht in- zwischen Freizügigkeit in Europa."

"Sie kommen aus Europa ­ Sie bleiben in Europa." Schilder mit diesem Hinweis geografischer Herkunft hatten die Studenten 1950 an die Stelle montiert, wo auch heute Schilder den Grenzübertritt signalisieren: mal mit "Deutschland", mal mit "France" im Sternenkranz der blauen Europaflagge. Die von den Zöllnern wieder aufgebauten Schlagbäume verschwanden in den neunziger Jahren mit dem Schengener Abkommen ­ auch die deutsche Eisenschranke, die noch über Jahrzehnte eine Manschette zierte, wo das rot-weiße Rohr durch die Studentenrevolte einen Knick abbekommen hatte. Mit den Schranken hat auch der letzte Hinweis auf die Aktion von 1950 das Tal verlassen.

Wo einst Grenzposten kontrollierten, rasten heute Touristen. An geschichts-trächtige Ereignisse an diesem Ort erinnert sich ein älterer Herr, Ausflugsgast aus der Pfalz, überraschend schnell. Da er soeben eine elsässische Kirche hundert Meter die Straße runter besucht hat, kann er von einem Heiligen berichten, der an der ums Jahr 1200 errichteten Kapelle gewirkt hat, und von einem polnischen Ex-König, der sie wieder aufbauen ließ, nachdem ein Raubritter daran seine Wut ausgelassen hatte. Längst sei die Wallfahrtsstätte Maria G'hör eine der wichtigsten Kapellen für die Pfälzer, sagt der alte Herr und lächelt breit: "Wenn wir nicht beim Pfarrer zu Hause beichten wollten, sind wir hierher zu den Padres gegangen." Aber eine Studentenaktion? Davon hat er noch nie etwas gehört.

Ein Denkmal soll an die Geschichte erinnern

Das wird sich ändern. Herbert Breiner hat sich in den Kopf gesetzt, die Erinnerung wachzuhalten. Oder zu wecken. Der vitale 78-Jährige, Psychologe und ehemaliger Leiter des Pfalzinstituts für Hörsprachbehinderte, baut eine Gedenkstätte. Sie soll an das Ereignis erinnern, das nach seinen Worten "die erste europäische Vereinigung" war, in ihrer Bedeutung für Europa so wichtig wie die "Boston Tea Party" für die USA.

Ab September 2007 sollen auf der Wiese der Grenzpfahlverbrennung zwölf mannshohe Sandsteinstelen, im Kreis angeordnet, die Sterne der Europafahne symbolisieren. Im Modell sieht das Ganze aus wie ein Stonehenge mit drei Fahnenstangen. Das Sitzrondell für die Feuerstelle in der Mitte hat Breiner selbst aus Beton gegossen, aus Kostengründen: Das Denkmal ist weitgehend privat finanziert ­ die 40000 Euro kommen von ihm, Spendern und Sponsoren, darunter die Hertie-Stiftung und der grenzübergreifende Regionenverband Pamina.

Der Europa-Aktivist ist eine interessante Person. Wenn der kleine Mann hinter dem Steuer seines voluminösen Citroën XM durch die Täler heizt, dem Wagen, mit dem früher ein Geistlicher sich und den Kanzler Kohl zu lukullischen Genüssen ins Elsass kutschierte, und er dabei von seiner "Aktionsgemeinschaft Bobenthal-St. Germanshof" erzählt, gewinnt man den Eindruck, er betreibe so etwas wie eine Parallelbürgermeisterei. Die Bürgerinitiative, deren Vorsitzender er ist, hat er 2003 wegen der Verschuldung der Gemeinde gegründet. Weil sich das Dorf ein zu teures Gemeindehaus geleistet hat, das nun lieber geschlossen bleibt, um die Betriebskosten zu sparen, fehlt Bobenthal das Geld für sinnvolle Ausgaben. Stattdessen springt Breiners Initiative ein ­ baut Wanderwege, benannt nach Aposteln, errichtet Kinderspielplätze, bezahlt aus dem Erlös von Festen und Flohmärkten. Und nun das Europa-Denkmal.

Der Europa-Gedanke lässt

zu wünschen übrig

Im Angesicht des personifizierten Bürger-Engagements stellt sich die Frage nach seinem Motiv. "Ich bin so alt heute", kokettiert das Energiebündel. "Eine Seilschaft kommt nicht mehr infrage, also sind das die letzten Abenteuer." Seine Idee, eine Europa-Kultstätte zu errichten, entspringt wohl eher der Frustration. "Bei Europa denken viele nur noch an Formalismus aus Brüssel", sagt Breiner. So schön es ist, auf einen Katzensprung ins Elsass zu fahren, um mal eben Baguettes zu kaufen ­ die Europamüdigkeit seiner Mit-Europäer ist ihm nicht entgangen.

Auch nicht die hartnäckige Popularität nationalistischer Populismen. In einen angemessen getragenen Ton fallend, sagt er: "Es ist zu selbstverständlich geworden, dass wir in Sicherheit und Frieden leben." Dem 78-Jährigen stecken noch Erfahrungen anderer Zeiten in den Knochen. Er hatte sich im Alter von 15 Jahren zum Volkssturm gemeldet, sah, wie Jagdbomber über die Straßen schossen, und erinnert sich an seine damalige ideologische Normung. "Als die Amis gekommen sind, haben wir drei Tage gebraucht, um zu begreifen, dass die uns nicht an die Wand stellen wollen, sondern uns Kaugummi geben!"

Die Gedenkstätte soll zum Ort werden, an dem sich Geschichte wiederholt ­ und damit auch zu einem Ort, an dem im Vergleich deutlich wird, dass sich die Zeiten zum Besseren geändert haben. Aus Anlass der Einweihung kehren für einige Stunden die Zöllner und Schlagbäume nach Germanshof zurück. "Wir werden einfach mal eine Stunde lang wieder die Leute kontrollieren." Junges Volk wird die Revolte nachspielen. "Wir werden bestimmt auch schöne Frauen finden, die Zöllner durch ihren Charme bewegen, die Schranken zu öffnen." Breiner freut sich auf das Straßentheater. Schüler, Studenten, Radwanderer: Der Pädagoge hofft ohnehin, dass gerade junge Leute die Gedenkstätte, die sein Verein der Gemeinde geschenkt hat, aufsuchen werden.

Einen Monat vor der Einweihung wird diese Zielgruppe plötzlich zum Problem ­ für die französischen Nachbarn. Natürlich will Breiner auch sie für die Wiederholung der europäischen Zeremonie gewinnen. Soeben im benachbarten Wissembourg vorstellig geworden, um die Gedenktafel samt einiger Fotos von 1950 abzustimmen, ist er jedoch ratlos. Der französische Bürgermeister hat angesichts der Fotos protestiert und eine Gegenveranstaltung angedroht: Wenn die Jugend die brennenden Grenzpfähle sähe, hetze sie das nur zur Gewalt auf, fürchtet der Maître. Es gebe in Frankreich genug Probleme mit gewalttätigen Jugendlichen, zitiert Breiner den Quasi-Kollegen. Im beschaulichen Weißenburg allerdings weniger.

So amüsant die Vorstellung ist, dass Vorstadt-Kids aus Straßburg oder Paris ausgerechnet zur Europa-Gedenkstätte in die Pfalz reisen, um sich zum Abfackeln von Autos anregen zu lassen, so problematisch ist das Ganze für Breiner. Nach einer Weile aber kann er über das Argument des Bedenkenträgers ­ die Sachbeschädigung ­ endlich lachen. "Sie beschädigen Staatseigentum!" Das hat damals einer der Zöllner auch gesagt, bevor er charmant ins Abseits der Geschichte geschubst wurde.

Vielleicht ließe sich der Konflikt durch eine lehrreiche Schautafel lösen, die dokumentiert, dass gerade die Demons-tranten der fünfziger Jahre ein vorbildliches Gefühl für das Maß der Gewalt gegen Sachen hatten. Als sie merkten, dass sie mit ihrer Versammlung die Kartoffeln auf dem Acker von Bauer Bourquin zertrampelt hatten, sammelten sie spontan und übergaben ihm die Entschädigung. "Der war darüber glücklich", sagt sein Sohn, damals neunjähriger Augenzeuge. Es war ein kleiner Schatz: Münzen aus Italien, England, Frankreich, Holland, Belgien, der Schweiz, Luxemburg und Deutschland.