Ansichtssache

Früher, als die Welt noch überschaubar war, als Märkte klare Grenzen hatten und wir uns zum Einkaufen noch selbst bewegen mussten, als wir im Kaffeegeschäft Kaffee und an der Tankstelle Benzin kauften, da hatten Unternehmer noch Zeit, ihr Geschäft mit den Jahren groß und profitabel zu machen. Damals galt es als unternehmerische Leistung, Arbeitsplätze zu schaffen – und zu sichern. Auf lange Sicht, ein Arbeiterleben lang.




Dann kam die neue Technologie, die Entfernungen schrumpfen, Grenzen unscharf und Zeit relativ werden ließ. Mit ihr kamen neue Geschäftsmodelle und neue Gewissheiten, an denen so mancher bis heute festhält. Dass Größe gut und Wachstum per se erstrebenswert ist, beispielsweise. Dass zwei oder mehr Unternehmen zusammengenommen immer profitabler sind als eines allein. Dass der Aktionär nur am schnellen Geld interessiert ist. Die Börse an der schönen Geschichte. Der Analyst am optimistischen Quartalsbericht. Der Kapitalgeber am großen Reibach binnen Jahresfrist. Und die Führungskraft am rasant steigenden Börsenkurs, weil er Erfolg suggeriert, ganz egal, ob die Strategie für das Unternehmen langfristig Sinn macht oder nicht.

Für all diese Überzeugungen haben wir in den vergangenen Jahren eine Formel gefunden, die zum Inbegriff für Fehlentwicklungen und falsche Prioritäten, für Kurzatmigkeit und Kurzsichtigkeit mutierte. Dabei meint „Shareholder Value“ genau das Gegenteil: Wertsteigerung. Nachhaltigkeit. Die gesunde Balance verschiedener Interessen. Eine glaubwürdige Unternehmenspolitik. Tim Koller, McKinsey-Partner in New York, versucht im Interview, den zu Unrecht verteufelten Begriff zu rehabilitieren (Seite 8) – und macht damit das Feld auf für ein Heft, das sich um die vielen Facetten wertorientierter Unternehmensführung dreht.

Wie schafft man Wert?, haben wir uns gefragt. Und unterschiedliche Antworten gefunden. Der Autozulieferer Edscha zum Beispiel ist, um wachsen zu können, an die Börse gegangen – und Anfang des Jahres 2004 aus demselben Grund wieder von ihr weg (Seite 66). David Swensen, der Fondsmanager der Yale University, schafft Werte durch kluges Anlagemanagement. Seit seinem Amtsantritt 1985 wuchs das Vermögen der amerikanischen Hochschule von einer auf heute rund 13 Milliarden Dollar (Seite 124). Der Energiekonzern Vattenfall Europe hat zur Freude seiner Aktionäre gleich ein neues Unternehmen gebaut – und mit einem Post-Merger-Management-Prozess, der lange vor der eigentlichen Fusion begann, einen der kompliziertesten Merger der deutschen Industriegeschichte organisiert (Seite 102).

Das sieht der einzelne Mitarbeiter vielleicht anders? Ganz sicher sogar, das gehört zum Wesen des Wertes: Er unterliegt der subjektiven Betrachtung. Der Wert jeder Sache hängt von der Bedeutung ab, die der Einzelne ihr zuschreibt. Was der eine für marginal hält, ist dem anderen wichtig. Im Abgleich individueller Urteile werden Preise bestimmt – und letztlich auch Unternehmen bewertet: Die Börsennotierung ist nichts anderes als die Summe persönlicher Erwartungen. Subjektive Einschätzungen, die sich bis in den privatesten Winkel ziehen. Das Leben ist eine Kette von Bewertungen, meint Gary S. Becker, der mit seiner provokanten These 1992 den Nobelpreis errang: Jede menschliche Entscheidung basiert auf einer Kosten-Nutzen-Analyse, meint der Wirtschaftswissenschaftler und macht selbst vor der Liebe nicht halt. Sie sei vielleicht Romantik, sagt Becker, ganz sicher aber Kalkül (Seite 78). Ernüchternd? Kommt ganz darauf an, wie Sie es bewerten.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.