Info-Krieg

Es riecht nach Verschwörung im Keller der Uni von Aix-en-Provence. Fünf Teams bekämpfen sich, drei Tage lang und zwei Nächte. Bewaffnet mit Halbwahrheiten und Gerüchten, mit legal oder illegal beschafften Informationen. In der Schule für Wirtschaftskrieg lernen sie, unmoralisch zu sein. Das klingt verrückt, und das ist es auch.
Ist aber sehr ernst gemeint. Eine Reportage aus einer irrealen Welt.




Dies ist die Geschichte von Jochen*, Bruno* und Christian. Wir sind groß: Jochen ist einsachtundneunzig, Bruno einszwoundneunzig. Ich bin der kleinste, mit einsneunzig. Wir stehen im Bistro des TGV und fliegen auf Schienen von Paris nach Aix-en-Provence. 20 Minuten Verspätung. Die menschenleere, kuhvolle und sehr französische Landschaft flitzt vorbei. Bruno ist Promotion-Fachmann aus Hamburg. „Ich mache berühmt“, wird er seinen Job den Franzosen erklären. Er hat, sagt er, diese blonde Frau aus Stuttgart unter Vertrag. „So ein Busen“, sagt er, und seine Hände holen sehr weit aus; „so eine Taille“, sagen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand; „zwei Meter Beine, du siehst sie und denkst ...“, und dann sagt er etwas Unanständiges. Bruno ist gebürtiger Österreicher und hört sich lustig an. Jochen schwäbelt, ein übergewichtiger Teddybär mit Oliver-Kahn-Ehrgeiz. Der Ehrgeiz nützt ihm nichts. Mit 27 ist er noch zu ungestüm.

Wir drei sind das deutsche Team bei einem Planspiel der Ecole de Guerre Economique, der Schule für Wirtschaftskrieg. Fünf Teams werden sich bekriegen: in einem Keller der Uni von Aix-en-Provence, drei Tage lang und zwei Nächte. Es geht um das Risiko Desinformation, darum, zu vernichten, zu siegen und unmoralisch zu sein. Die Schule wurde 1997 von ehemaligen französischen Geheimdienstlern in Paris gegründet, anfangs war der Staat an ihr beteiligt. Das Konzept: Die Kunst des Wirtschafts- und Informationskrieges ist lernbar. Die Prämisse: Aggressive Unternehmenspolitik ist normal. Die Krieger kämpfen um Wettbewerbsvorteile. Sie bewaffnen sich mit Wahrheiten, Halbwahrheiten, Gerüchten, legal oder illegal beschafften Informationen, ein weites Feld. Als Beispiele nennt man in der Schule: Shell (Brent Spar), Intel (Fehler im Pentium), den Schiffbruch des Tankers Erika. Aber nichts kann hundertprozentig belegt werden. Es riecht immer ein bisschen nach Verschwörung in der Schule, die durchaus ernsthaft betrieben wird. Die Dozenten arbeiten nebenbei als Berater für Angriff und Verteidigung.

Und sie organisieren unser Sommercamp. Es wird Aufpasser geben. Jedes Team hat seinen Coach. Nur wahre Informationen dürfen ins Spiel. Medium ist das Internet. Am Ende präsentiert jedes Team seine Strategie der Jury. Welches Team welche Rolle besetzen wird, erfahren die Teilnehmer erst in Aix.

Ich, als Reporter, werde mitmachen, aber Abstand halten. Bruno will lernen, wie er seine Klientinnen verteidigen kann, wenn in der Bild steht, sie hätten Silikonbusen oder so was. Und Jochen, der Bär, hat in Poitiers Ökonomie studiert und ein Jahr Aufbaustudium an der Ecole de Guerre Economique drangehängt. Jetzt arbeitet er in Frankfurt als freier Mitarbeiter für ein Sicherheitsunternehmen eher zwielichtiger Natur. Gegen seinen Chef wird wegen Bestechung ermittelt. Jochen will der deutsche Sicherheitspapst werden. Also hat er das Janus-Institut für Wirtschaftskonflikte gegründet. Das soll sich mit Business Intelligence befassen und besteht im Kern aus einer Website. „Wir Deutschen haben Beißhemmung“, sagt Jochen. „Die Franzosen können sagen: Wir sind politische Freunde und wirtschaftliche Feinde. Das können wir Deutschen nicht.“ Informationskrieg, sagt Jochen, ist Realität. Auf den Krieg einstellen kann der Deutsche sich nicht, denn deutsche Unternehmen, sagt Jochen, werden naiv geführt. Es muss was getan werden, schnell, sofort. Er, Jochen, muss ins Spiel kommen. Jochen sagt: „Ich persönlich schätze mehrere Angriffsachsen.“ Oder: „Ich kämpfe immer bis zur letzten Patrone.“ Und: „Wir haben jetzt über die strategische Ausrichtung gesprochen, das ist gut.“ Jochen ist im Grunde genommen der Messias der deutschen Wirtschaft: für das Gute, gegen die Verschwörer.

Im TGV-Bistro sagt Jochen noch: Wir werden nicht die Genotrex spielen. Das wisse er aus sicherer Quelle. Die Deutschen, sagt Jochen, bekommen „etwas Spezielles“. Aber nicht die Genotrex. Wer die Genotrex spielen muss, hat ein echtes Problem. Wir werden vielleicht die Rolle der amerikanischen Regierung besetzen, sagt Jochen, oder die EU-Kommission spielen oder die europäische Konkurrenz oder eine NGO, eine Non-Government-Organisation. Aber nein, nicht die Genotrex.

Dann sind wir da. Wir bekommen die Rolle der Aktiengesellschaft Genotrex zugewiesen, Sitz Panama, mit einer Tochtergesellschaft in Rotterdam, das sind wir. Die Steuerfahndung hat Unregelmäßigkeiten bei uns entdeckt. Unser Gründer, Hauptaktionär und Präsident ist Kasache. Wir haben den Genpool von Samoa erforscht, wollen die Ergebnisse patentieren lassen und dann mit Medikamenten Milliarden verdienen. Gegen uns spielt die amerikanische Regierung, dargestellt von Kadetten der französischen Armee. Sie haben glatte Uniformen und auch sonst keine Fantasie. Extrem kurze Haare. Beim Mittagessen glucken sie unter den Zypressen.

Die Italiener kommen von einer Privatuniversität, an der man Jura, Wirtschaft und Politische Wissenschaften studieren kann. Sie spielen die EU. Studenten vom Pariser Stammsitz der Ecole de Guerre Economique und ein paar französische Wirtschaftsleute spielen eine NGO und sind damit sowieso gegen die Genotrex. Die Schweizer, teilweise echte Geheimdienstler und Privatdetektive, spielen unsere europäische Konkurrenz. Die Schweizer spinnen. Sie machen alles, aber auch alles falsch, was man falsch machen kann.

Wir, die Deutschen, haben sowieso ein Imageproblem. Und dann sind wir jetzt auch noch die Genotrex. Wir sind das am schlechtesten vorbereitete Team. Die Italiener, erfahre ich später, haben sich vorab neunmal für je drei Stunden getroffen. Wir sind das kleinste Team, wir haben nicht genug Kapazitäten, die Infoflut zu kanalisieren. Die französische Armee hingegen setzt elf Mann ein und eine Frau. Mademoiselle LeGal trägt auf ihrer Uniform das Fallschirmspringerabzeichen. Sie erklärt mir beim Essen, dass sie insgesamt sechs Sprünge absolviert hat und dass ihr das keinen Spaß macht. Die Schweizer haben sogar Controller dabei, die nur beobachten und ab und zu eine Manöverkritik veranstalten.

Wir haben Sprachprobleme: Jochen spricht perfekt Französisch, er muss viel übersetzen. Ich komme so durch. Bruno kann Essen bestellen. Claude Rainaudi, unser Coach, weigert sich, Englisch zu sprechen. Bruno und ich rebellieren. Schließlich sprich Claude doch Englisch, und zwar gar nicht schlecht. Nach einer halben Stunde in diesem dunklen Keller schreien wir uns an. Mich nervt, dass Jochen ständig mit seinem Taschenwerkzeug spielt, Leatherman, logisch. Ständig ändern wir Regeln, ständig wechseln Sympathien und Antipathien. Immer Streit.

Aus irgendeinem Grund ist dann noch Ludovic zu uns gestoßen, ein Franzose, der sechs Jahre Fallschirmspringer war, Bosnien, Kosovo. Dann hat er an einer Business School studiert. Jetzt ist er beim französischen Unternehmerverband in Sachen Sicherheit tätig. Er hat eine Glatze und sagt drei Tage lang nichts, außer wenn man ihn anspricht: Dann hält er die Hand ans Ohr, antwortet irgendwann auf Englisch, nach einem Satz sagt er: „Pardon.“ Und geht.

In einer Krise braucht man einen Boss, behaupte ich, einen, der weiß, wo es langgeht. Wir haben keinen.

Wir sind die Loser. Ich kann nur eine der beiden Nächte durcharbeiten. In der zweiten haue ich um vier Uhr ab. Bruno, der mit der drallen Stuttgarterin, hat sich einmal sogar schon um eins davongemacht. Er ist ein Netter, eigentlich. Jetzt ist er muffelig.

Wir waren auf Verlieren gepolt: Claude, unser Coach, trägt einen Strohhut und erscheint mir wie ein neuzeitlicher Henri de Toulouse-Lautrec. Wir sind anarchistisch, unberechenbar, böse, unmoralisch und kennen keine Skrupel. Deswegen werden wir, die Verlierer, am Ende gewinnen. Weil wir Amateure sind. Profis verlieren.

Ich glaube ja, dass Claude ins Militär verliebt ist, aber fürs Militär untauglich ist, und dass er das mit seinen genialen Strategien kompensiert. Er redet zu viel über Frauen und hat keine eigene Wohnung. Um die 50, grauer Bart, Dozent an einer Marine-Akademie, bei der Luftwaffe, bei der Armee, bei der Ecole de Guerre Economique, bei verschiedenen Wirtschaftsschulen. Er tourt durch Frankreich und bringt Unternehmen bei, Gerüchte zu verbreiten und Gerüchte zu unterdrücken. Claude ist nur ein einziges Mal uncool, ganz am Anfang. Da sage ich: Lasst uns die Firma an die Schweizer verkaufen. Wir wären reich und basta. Claude sagt: Geht nicht, dann wäre das Spiel doch zu Ende.

Einmal geht Claude nachts um drei aus dem Raum, um Kaffee zu holen. Er kommt nicht zurück. Ich gehe ihn suchen. Bevor ich sie sehe, höre ich sie stöhnen, mon dieu! Ich finde Claude vor dem Heißgetränkeautomaten, wo er dieser Bilderbuch-Italienerin den Nacken massiert.

Das Spiel hat mich längst gepackt. Ich denke nur: Claude ist ein Verräter, Claude füttert die Italiener mit Informationen, Claude ist ein Spion. Ich bin in einem Sog, bin kein neutraler Beobachter mehr: Ich will nur noch siegen, nur noch vernichten. Und Claude hat mich betrogen. Mir ist schlecht. Dieses Planspiel hat mich gepackt. Es ist meine Wirklichkeit. Ich lege mich drei Stunden ins Bett und träume: Ich dresche mit einem Baseball-Schläger auf einen Kürbis ein, und der matscht und spritzt an eine weiße Wand, und auf einmal ist alles rot, und ich erkenne das Gesicht des Teamchefs der Schweizer. Ich habe Angst um meine Seele.

In diesem Jahr hätten sich 24 Leute an der Ecole de Guerre Economique beworben. Davon nur zwei Frauen, erzählen sie dir hier. Die Welt der Verschwörungstheorien ist macho.

Das ist hier ein Panoptikum von Erwachsenen, die wieder zu Jungs werden, mit den entsprechenden vorpubertären Fantasien. Umsteigen, die Realität vergessen: Das passiert mir sonst nur, wenn ich mit meinem Sohn Mensch-ärgere-dich-nicht oder Malefiz spiele. Das ist hier eine irreale Welt, die sich nur um sich selbst dreht. Wenn die Franzosen erfahren, was ich denke, werden sie einen Killer schicken. Die nehmen das total ernst, diese seltsamen Menschen, die alle ein Handytäschchen am Gürtel haben.

Wir haben uns beim Essen in der Sonne unter den Zypressen über die Rainbow Warrior I unterhalten, das Greenpeace-Schiff, das der französische Geheimdienst versenkt hat. Ein Toter. Drei Franzosen erzählten mir unabhängig voneinander, ihr Land habe einen Kollektivkomplex gegenüber Deutschland. Ein Wirtschaftswissenschaftler sagte mir: Wir haben nie gegen euch gewonnen. Unsere Armee leidet darunter. Hm. Claude, ein netter Kerl, echt, sitzt mir gegenüber und sagt: Deutschland ist schuld am Jugoslawien-Krieg. Ihr habt sofort Kroatien anerkannt. Deshalb ging der los, der Krieg. Es gibt wieder einen Pan-Germanismus. Man kann euch nicht trauen. Claude ist Psychologe, auf seiner Karte steht „Psychosociologie de l’Influence“, und er hat Angst vor Deutschland.

Alle verrückt hier. Ich halte Claude ja für genial, vermute aber, dass Genie und Wahnsinn bei ihm Hand in Hand gehen. Ich mag ihn auch, weil er mich lobt. So tief bin ich in ihn reingerutscht. Gegen Ende, als wir gewonnen haben, klopft Claude mir auf die Schulter. Dabei muss er sich sehr strecken. Und er sagt auf Englisch: Du bist völlig unmoralisch, du hast keine Skrupel, du kennst keine Ethik. – Das ist klasse. Mann, bin ich stolz. 

Wir, die Gewinner, haben nicht mal unser Ziel definiert. Wir waren planlos. Ich habe dpa-, AFP- und Reuters-Meldungen gefälscht und durchs Intranet gejagt. Habe alles getan, um aus Dimitri Dostaikovski, unserem Aktionär aus Kasachstan, einen netten christlichen Antikommunisten zu machen, der in Harvard und Oxford studiert hat, Pazifist und eindeutig Pro-Westler ist und Geld an Kirchen spendet. Tipp von Claude. Claude sagt: Die Amis sind verrückt, dieses Kirchenzeug, da spinnen die völlig, nimm uns da aus der Schusslinie. Dimitri hat auch sein Heimatland großzügigst unterstützt, dafür habe ich gesorgt. Ich habe ihm ein Verhältnis mit Debra Winger, dem Hollywood-Star, angedichtet, inklusive Mitleid heischendem Liebeskummer. Hat funktioniert. Nicht eine Sekunde wurde er für einen Muslim gehalten. Außerdem habe ich ständig irgendwelche abstrusen Meldungen abgesetzt wie: Unser Aktienkurs ist wieder um zwölf Prozent gestiegen, zum siebzigsten Mal in Folge. Einmal kam eine Meldung, unser Kurs sei gefallen. Also habe ich eine Meldung rausgejagt, dass das eine Falschmeldung sei und dass wir das berühmte Unternehmen Control Risks beauftragt hätten, die Fälscher ausfindig zu machen. Und außerdem sei unser Kurs um 15 Prozent gestiegen. Mit so etwas kommt man durch. Jedenfalls in unserem Planspiel. Also ehrlich.

Ab und zu bin ich in die anderen Räume gegangen. Kleine Räume, große Tische und immer richtig miefige Luft. Hat sich nie einer getraut zu lüften; man könnte ja belauscht werden. Hab’ nie angeklopft. Die gebügelten Kadetten der Militär-Akademie sitzen einfach da, Hände auf dem Tisch, das war’s. Kein Papier. Die Italiener stellen sich paranoid vor ihre Bildschirme, damit ich nicht sehe, was sie auf Italienisch geschrieben haben. Die Schweizer schimpfen mich aus dem Raum. Zur NGO bin ich nie, hat mich nicht interessiert.

Ich bin der Einzige, der nicht anklopft. Habe so erfahren, dass die Schweizer – unsere europäische Konkurrenz – und die Amis zusammenrücken, dass die EU-Kommission mit den Schweizern redet und dass die NGO bei allen im Raum sitzt, nur nicht bei uns.

Manchmal habe ich einen Totenkopf oder so was an unsere Tafel gemalt. Jochen hat ihn dann immer sofort wieder weggewischt. Jochen ist Christian Harbulot untertan. Dem will er gefallen. Harbulot ist der Direktor der Kriegsschule. Er scheint mir jähzornig zu sein. Wirklich. Er brüllt. Seine Begrüßungsrede war heiß, echt. Mein Französisch lief noch nicht so richtig rund, aber ich verstand: Krieg, kämpfen, töten, zuschlagen, gewinnen, siegen. Das wirkte stark, wegen Harbulots Gesicht. Wenn er spricht, kämpft er. Seine Mimik ist ein Schlachtfeld, seine Gestik Krieg. Die Hände: ständig in krampfiger Bewegung.

Klar, gibt Jochen zu, Harbulot sei schon hart und laut, aber er habe durchaus auch nette Seiten und sei ein Fachmann. Jochen will, dass Harbulot ihn liebt. Und außerdem will Jochen in Deutschland auch so eine Kriegsschule aufmachen und braucht Unterstützung aus Frankreich.

Ludovic sitzt immer noch da und starrt auf das Notebook, alle paar Minuten hebt er den Kopf. Könnte ja sein, dass er gehen muss, weil jemand sich ihm nähert. Claude erzählt einen dreckigen Witz. Die E-Mails plingen im Sekundentakt. Wir haben nichts im Griff, sind Rehe auf der Autobahn im Scheinwerferlicht. „Können wir eigentlich einen Killer losschicken“, frage ich Claude, „der ein oder zwei Italiener umbringt?“ Das sei okay, sagt Claude. Und auch nicht irréaliste. Aber unmoralisch. Wir stimmen ab. Ich bin dafür, alle anderen sind dagegen. Also schlage ich Bestechung vor, sage: Italiener, Mann, das müsste klappen. Claude findet die Idee sympathique. Die anderen sind dagegen, wieder wegen unmoralisch und so. Ich schreie, das ist ein Spiel, hier geht es nicht um Moral, hier geht es ums Gewinnen. Ruhe im Raum.

Als Nächstes schlage ich vor, die EU-Kommission zu erpressen. Die Spielleiter haben nämlich eine Seuche ausbrechen lassen, gegen die nur wir ein Medikament haben. „Wir sagen denen in Brüssel, ihr kriegt das Mittel, wir das Patent, dann haben wir gewonnen, die können nicht anders, die müssen Ja sagen.“ Bruno schaut mich an, als wäre ich Hannibal Lecter. „Unmoralisch“, sagt er. Jochen sagt: „Kann man nicht machen.“ Claude erzählt, dass die französische Superduper-Elite-Uni ENA bei solchen Spielen oft versage, weil die Studenten sich selten auf einen Chef einigen.

Es ist 18 Uhr. Das Spiel ist zu Ende. Wir haben Zeit bis acht Uhr am nächsten Morgen, um einen Bericht zu schreiben. Zehn Seiten Protokoll, mit Strategie, Planung, Prognosen, allen möglichen Reaktionen auf alles Mögliche. Claude erklärt, wie so ein Ding auszusehen hat. Wir schreiben an zwei Computern, diskutieren, streiten, um ein Uhr geht Bruno ins Bett, ich um vier. Die Verantwortung liegt bei Jochen. Morgens um acht Uhr sitzt er am Bildschirm und behauptet, einige Dateien seien weg. Ein Problem. Ich lese Ausdrucke und sehe, dass meine Dateien zwar noch da sind, aber einige Sätze und Absätze gelöscht wurden. Ich gehe frühstücken, zur Präsentation bin ich wieder da, und als ich an unserem Raum vorbeigehe, ruft Jochen: „Mist.“

Ich höre mir die Präsentationen an. Am besten sind die Italiener: perfekt angezogen, Anzüge und Kleider mit Stil, lässig, genau richtig. Francesco Vitalis Vortrag ist eine Show, viel Emotion, Cinecitta, Grandezza. Und dann will Vitali, Chef der Italiener, der Jury doch tatsächlich klar machen, dass sie, die EU, die Sieger sind. Ich kann mich nicht halten, rufe auf Englisch und zu laut: „Ist euch nicht klar, dass ihr keine Option mehr hattet, ihr hättet uns das Patent geben müssen, sonst wäre Europa ausgerottet worden. Wir sind Kasachen, unmoralisch, mafiotisch, wir hätten euch verrecken lassen und wären abgehauen auf die Bahamas.“ Christian Harbulot, der Chefkrieger, schaut mich an, dann nickt er.

Wir sind dran. Jochen trägt vor. Bruno und ich wollten, dass er Englisch spricht, damit wir mithalten können. Aber Claude sagt: Französisch. Also schmiert Jochen auf Französisch rum. Seine Rede ist zu lang, aber nonchalant. Seine Krawatte gefällt mir nicht. Er kommt etwas zu glatt rüber. Aber ich habe das Gefühl: Inhaltlich ist der Vortrag gut. Der Aktienkurs stimmt, das Patent haben wir in der Tasche. Wir haben uns behauptet, obwohl wir gestartet sind mit dem Gesicht im Dreck und den Füßen der anderen Teams im Nacken. Die Juroren halten kurze Reden: Es werde keinen offiziellen Sieger geben, die EU wird gelobt, aber wir, die Genotrex, seien „perfekt zynisch“ gewesen, sagt Harbulot. Einer aus dem schweizerischem Verlierer-Team, Executive Director einer Informationsbeschaffungsfirma, sagt, er sei während der Veranstaltung abgelenkt gewesen. Er habe einen dringenden Fall am Handy erledigen müssen.

Rein in den TGV. Bruno erklärt Jochen, dem Untertan, dass er ihn PR-technisch nicht betreuen kann. „Das ist ein professionelles Statement: Du hast keine neue Botschaft. Nichts Kommunizierbares“, sagt Bruno. Wow, das war hart. Ich tröste Jochen im rollenden Bistro, während Bruno arbeitet, also Zeitungen liest. Du bist noch jung, sage ich, das dauert einfach.

Ganz langsam werden wir wieder normal und friedlich und nett. Vielleicht war ich tatsächlich nur in einer Scheinwelt. Aber die hat mir beigebracht: Ich kann ein fieser Knochen sein. Ich muss besser Französisch lernen. In Krisen ist Zeit ein wichtiger Faktor, Hierarchie wichtig, und einen Boss muss es geben. Und ich muss, wenn jemals eine Krise kommen sollte, möglichst weit weg sein von Jochen. 

*Namen von der Redaktion geändert

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.