Berlin gewinnt

Öffentliche Krankenhäuser profitabel machen? Das geht.
Die vor zwei Jahren noch defizitäre Vivantes GmbH in Berlin macht es vor.




Das soll die Zukunft sein? Leere Klinikflure, mit Plastikfolie abgedeckte Betten, verwaiste Pflegezimmer, geschlossene Stationen. In der Berliner Humboldt-Klinik sind ganze Gebäudeteile geräumt. Doch was auf den ersten Blick nach Pleite aussieht, markiert tatsächlich die Zukunft: Die Menschen sind nicht seltener krank als früher – aber sie liegen nicht mehr so lange.

Die Leerstände im Norden Berlins sind ein Symbol für die größte Umstrukturierung, die einige Berliner Krankenhäuser je erlebt haben. Ihr Ziel: aus eigener Kraft überleben. In drei Jahren, 2008, soll die Krankenhausreform der Hauptstadt abgeschlossen sein. Dann will die Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH, einer der größten Klinik-Betreiber in öffentlichem Besitz, zu den fünf führenden Krankenhausunternehmen zählen. Vivantes wird in Zukunft mehr Patienten betreuen – und mit Gewinn arbeiten.

Die Reform, die aus defizitären Kliniken profitable Wirtschaftsunternehmen machen soll, lässt keinen Bereich innerhalb des Klinikums aus. Im Verwaltungstrakt wird sie mitgestaltet. Hier grübelt Andreas Schmitt, der stellvertretende Vivantes-Regionaldirektor Nord im Humboldt-Klinikum, über Balken- und Kurvendiagrammen. Wie entwickeln sich Leistungen und Kosten? Wie lange dauert es, bis die Dokumentation einer Behandlungsleistung in der Rechnungsstelle eintrudelt? Welche der Kliniken, die zum Standort gehören, sind beim Abrechnen auf Zack? Wie lassen sich auch die anderen motivieren, abgeschlossene Fälle umgehend weiterzuleiten?

Auf Schmitts Schreibtisch steht eine kleine Pyramide aus Karton: „Unser Ziel ist der größtmögliche Unternehmenserfolg“ steht da ganz an der Spitze der Verhaltensregeln. Im Grunde eine Selbstverständlichkeit: Schon bei der Eröffnung des Humboldt-Klinikums im Jahr 1985 bemühte der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen – wohl nichts Gutes ahnend – die Parole: „Menschlichkeit, medizinische Spitzenleistung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sind keine Gegensätze“.

Dass die finanziellen Ressourcen endlich sind und ein guter Planer damit auskommen sollte, war im Grunde immer klar. Und doch: Die Medizin machte große Fortschritte und gerade in den Boomzeiten der sechziger und siebziger Jahre wuchsen die Behandlungskosten von Patienten angesichts modernerer aber teurerer Verfahren. Auch die Ansprüche von Ärzten, Schwestern, Labor- und Verwaltungsangestellten stiegen beständig. Besonders West-Berlin, das als Leuchtturm im sozialistischen Meer seine Strahlkraft nicht einbüßen sollte, wurde von der Politik üppig mit Ausstattungen und noblen Salärs befeuert. Doch spätestens mit dem Fall der Mauer, als die Stadt ihren Sonderstatus verlor, war die gesamtdeutsche Bevölkerung nicht mehr willens, den jetzt nutzlosen Turm weiter zu hegen. Mit Lippenbekenntnissen zur Sparsamkeit war es nicht mehr getan.

Bündeln, neu strukturieren, sanieren

Erste Maßnahme: Bei zuletzt 80 Millionen Euro Verlust vereinigte das Berliner Abgeordnetenhaus im Jahr 2000 seine damals noch zehn, heute neun landeseigenen Krankenhäuser unter dem Dach der Vivantes GmbH. Eigentümer ist Berlin. Es entstand ein Unternehmen mit rund 13.500 Mitarbeitern, das jährlich fast 200.000 Patienten, und damit jeden dritten Berliner Kranken, stationär behandelt.

Zweite Maßnahme: Vivantes gewann Wolfgang Schäfer als Geschäftsführer, der bereits das Klinikum Kassel neu aufgestellt hatte. Schäfer wollte „Vivantes eine Vision geben“, sagt er. Und das ging nur über grundlegende Reformen. Die Strukturen, die Kleinstaaterei aus Aufnahme, Anästhesie, Chirurgie, Labor und allen anderen Bereichen, die über Jahrzehnte gewachsen und mehr oder weniger schlecht aufeinander abgestimmt waren, mussten von Grund auf umgekrempelt werden.

Dritte Maßnahme: Der Senat billigte ein Sanierungskonzept, das Schäfer anfangs mit seinem eigenen Team, später unterstützt durch McKinsey-Berater entwickelte. Für anderthalb Jahre sind derzeit rund 15 Unternehmensberater in der zentralen Verwaltung und in den einzelnen Häusern unterwegs, um mit Management und Klinik-Mitarbeitern in elf Teilprojekten viele Reformideen, die Schäfers Team bereits entwickelt hatte, umsetzbar zu machen. Ihre Herangehensweise ist dabei so simpel wie neu: Es geht darum, die Erwartungen des Patienten einzubeziehen, seinen Weg im Krankenhaus nachzugehen und dabei ständig zu fragen, wo es hakt.

Die erste Zwischenbilanz: Vivantes ist auf einem guten Weg und hat noch jede Menge vor. Nach einem Verlust von 70 Millionen Euro in 2003 schrieb das Unternehmen im vergangenen Jahr erstmals seit seiner Gründung ein positives Ergebnis von 4,9 Millionen Euro – deutlich mehr als die eigene Prognose von 1,6 Millionen Euro Überschuss. „Wir liegen im Augenblick im Sanierungszeitplan sogar voraus“, sagt Vivantes-Chef Schäfer. Bis 2008 soll der „gewaltige Restrukturierungsprozess“, so Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau, abgeschlossen sein. Dann will sich Vivantes als öffentlich geführtes Unternehmen gegen die private Konkurrenz behaupten und aus eigener Kraft zu einem der führenden Anbieter im Gesundheitswesen werden.

Überall sonst gibt es dafür naturgemäß zwei Möglichkeiten: die Ausgaben senken oder die Einnahmen erhöhen, am besten beides. Zumindest was die Einnahmen betrifft, folgt das Gesundheitswesen jedoch seinen eigenen Regeln, insbesondere in Berlin. Innovationen wie der Carving-Ski, der Family Van oder der digitale Fotoapparat mögen neue Kunden anlocken und ihren Branchen Auftrieb geben – das Krankenhauswesen spürt bestenfalls demografische Langzeitbewegungen. Selbst die modernste Operationstechnik lockt keinen in die Klinik, der nicht unbedingt muss. Und mehr Kunden durch Angebote wie Schönheits-Operationen oder Vorsorgechecks zu gewinnen ist nur in engen Grenzen möglich.

Keine weiteren öffentlichen Zuschüsse, keine Preiserhöhungen

Solange die Gelder aus dem Westen flossen, konnten die Berliner Häuser sich ihre Löcher in der Kasse von der Stadt oder dem Land stopfen lassen. Heute ist die Forderung nach weiteren Zuschüssen illusorisch, Berlin muss eisern sparen. Und selbst wenn sie wollten: Wie sollten die Senatoren beispielsweise den Anwohnern im Märkischen Viertel vermitteln, dass das Geld für die Sanierung ihres verjauchten Anlagenteichs fehlt, während sie die benachbarten Kliniken mit Millionenbeträgen bezuschussen? Noch dazu, wenn die private Konkurrenz ohne derartige Zuwendungen Gewinne einfährt. Auch Preiserhöhungen als Strategie verbieten sich im Gesundheitswesen. Die Vergütungen werden von den Kassen diktiert, und das rigider denn je. Während in der Vergangenheit noch für die Zeit bezahlt wurde, die ein Patient im Krankenhaus lag, regeln heute Pauschalen, wie viel die Klinik für einen Fall, etwa einen Blinddarm, abrechnen darf. Liegt ein Patient, weil es zum Beispiel Komplikationen gab, deutlich länger als vorgesehen, gibt es kleine Aufschläge; liegt er kürzer, deutliche Abzüge.

Noch gelten in Berlin zwar höhere Pauschalen als in anderen Bundesländern. Ab 1. Januar 2008 sollen jedoch bundeseinheitliche Vergütungen eingeführt werden. Wenn die Vivantes-Macher also anstreben, für die Behandlung eines Falls nicht mehr auszugeben als sie dafür einnehmen, heißt das, dass die heute kaum erreichbaren Ziele morgen schon viel weiter gesteckt werden müssen. Vivantes kämpft mit zusätzlichen Handicaps: Bis 2006 muss das Unternehmen sein Kassenbudget um 100 Millionen Euro reduzieren. So einigte man sich mit den örtlichen Kassen, die selbst finanziell unter Druck stehen. Fest vereinbarte, tarifliche Gehaltsaufstockungen kosten insgesamt weitere 60 Millionen Euro. Aber Lamentieren sei müßig, meint Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau. Es nütze nichts, zu fragen, ob die Einnahmen angemessen seien. „Man muss eben gute Medizin so effizient machen, dass das Geld reicht.“

Wie man doch etwas für die Haben-Seite tun kann, haben Schäfer und seine Experten in den vergangenen Monaten an unterschiedlichen Stellen erprobt. Je früher Ärzte die erbrachten Leistungen an die Rechnungsstelle melden, desto reibungsloser und schneller kann auch mit den Kassen abgerechnet werden. Ein zweites Projekt zielt darauf ab, den Service für die niedergelassenen Ärzte zu verbessern. Schließlich entscheiden sie zumeist, in welcher Klinik die Patienten landen. Wohlgesinnte Ärzte sorgen demnach für Kundschaft – wenn sie informiert sind. Laminierte, DIN-A5-große Bögen mit allen wichtigen Klinik-Telefonnummern sollen es den niedergelassenen Kollegen so bequem wie möglich machen, schnell den richtigen Ansprechpartner in der Klinik am Hörer zu haben. Seit neuestem bietet eine Hotline-Nummer einen ständigen Draht zum Klinikarzt.

Wo auf der Habenseite nicht viel zu holen ist, muss das Soll gedrückt werden, damit am Ende die Balance stimmt. Und so paradox es klingt: Es geht dabei nicht eigentlich ums Sparen, denn nicht Rationierung ist das Ziel, sondern Rationalisierung, wie Wolfgang Schäfer betont. Also gleiche oder bessere Qualität bei angepassten Kapazitäten und besserer Organisation. Dabei ergeben sich manche Einsparungen praktisch von selbst. Beispiel Bettenabbau: Der Trend zur ambulanten Behandlung macht viele Betten überflüssig. Lagen Frauen bislang für eine Gewebeentnahme aus dem Gebärmutterhals obligatorisch zwei Tage in der Klinik, können die meist jungen Frauen heute, wenn sie fit genug sind, das Haus nach einer Stunde wieder verlassen.

Vor allem die Fallpauschalen zwangen zum Umdenken. So lange es sich rechnete, musste ein Patient in jedem Krankenhaus der Republik möglichst lange stationär betreut werden. Seit Einführung der Diagnosis Related Groups oder DRGs für alle Bereiche der Somatik soll der Patient nicht länger bleiben als nötig – nötig für ihn und nicht für die Klinik, wohlgemerkt. Die Folgen sind dramatisch: Lagen die Vivantes-Patienten im Jahr 2001 noch durchschnittlich zehn Tage auf Station, so reichen heute 7,8 Tage für die Behandlung. 2010 sollen es 5,1 Tage sein. Eine deutliche Reduktion, aber selbst gemessen an dieser kurzen Zeit sei die Situation im Ausland immer noch besser, sagt Franziska Mecke, Direktorin für Pflege- und Betreuungsmanagement bei Vivantes.

Je kürzer der Aufenthalt in der Klinik, desto geringer ist auch der Bettenbedarf. In Schweden beispielsweise hat sich seit der Einführung der DRGs im Jahr 1992 die Zahl der Betten von 58.000 auf 32.000, also um 45 Prozent, reduziert. Vivantes belegte 2001 noch 6135 Betten, 2004 waren es rund 5300 – bei sogar leicht gestiegenen Fallzahlen.

Aber wie lassen sich die Behandlungszeiten so stark verkürzen? „Jedenfalls nicht, weil wir die Patienten blutig nach Hause schicken“, sagt Franziska Mecke, nach eigenem Bekunden leidenschaftliche Optimiererin von Strukturen. Es geht eleganter: Zum einen müssen die Abläufe in den verschiedenen Abteilungen aufeinander abgestimmt sein. Personelle, räumliche und materielle Ressourcen müssen optimal genutzt werden. Während die Schwestern früher durchaus häufiger auf Patienten trafen, die in ihrem Zimmer seit Stunden vergebens darauf gewartet hatten, zur Operation abgeholt zu werden, sind die Prozesse heute aufeinander abgestimmt. Einer der Hotspots ist der Operationssaal. Dort müssen Teams verschiedener Disziplinen, von Chirurgen über Anästhesisten bis hin zu den OP-Schwestern Hand in Hand arbeiten. Um die Prozesse erst einmal analysieren und dann Verbesserungsvorschläge erarbeiten zu können, hat Andrea Grebe, Vivantes-Direktorin für Medizin und Qualitätsmanagement, Klinik-Teams mit besonders motivierten Mitarbeitern gebildet. Für Operationssaal, Radiologie, Intensivstation und Rettungsstelle ist jeweils ein Zentralteam plus ein Team in jedem Krankenhaus verantwortlich. Jede Zentralmannschaft, zusammengesetzt aus zwei Betriebsräten, einem Anästhesisten, einem Personalmanager und einem McKinsey-Berater trifft sich einmal im Monat in Grebes Büro. Die Zentralteams wiederum beraten sich mit den Mannschaften vor Ort. Jeweils zwei Häuser zur gleichen Zeit werden auf diese Weise umstrukturiert.

Optimal ist nicht gleich ideal

Nach anfänglicher Skepsis eilt Grebe inzwischen der Ruf voraus, die Mitarbeiter mit einzubeziehen. Viele begrüßen sogar, dass endlich etwas passiert. Allerdings, so Grebe, müsse sie immer wieder klarstellen, dass an den Rahmenbedingungen nicht zu rütteln ist. Es geht nicht um den idealen Prozess, sondern um den optimalen. Ideal wäre es beispielsweise, wenn selbst im Falle eines Erdbebens genügend OP-Plätze vorhanden sind. Optimal ist der Prozess dann, wenn man durchkalkuliert, wie oft tatsächlich ein Notfall zu versorgen und wie viel Kapazität dafür freizuhalten gerechtfertigt ist.

Die zweite Maßnahme, die helfen soll, die Zeitvorgaben pro Fall zu erfüllen, geht mit der Prozessoptimierung Hand in Hand. Weil die beste Organisation nichts nützt, wenn man nicht weiß, was als Nächstes kommt. Zwar müssen 60 Prozent aller Patienten nach individuellem Muster behandelt werden, etwa Patienten aus der Psychiatrie oder Kranke, die an vielen Gebrechen gleichzeitig leiden. Die anderen 40 Prozent aller Vivantes-Patienten lassen sich jedoch zukünftig nach einheitlichen Schemata behandeln. Denn wie ein Leistenbruch oder selbst ein Brusttumor zu behandeln oder was bei einem Verdacht auf Herzinfarkt zu tun ist, lässt sich relativ gut festschreiben.

Das passiert ohnehin, und zwar in den Empfehlungen der jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften. Folgt ein Arzt diesen Leitlinien, die ständig an die neuesten internationalen Erkenntnisse angepasst werden, kann er sicher sein, seinen Patienten bestmöglich zu behandeln. Um die Berücksichtigung dieser Empfehlungen jedoch zu automatisieren, gossen Unternehmensberater und Klinikmanager die Leitlinien in so genannte medizinische Pfade. Als Checkliste zeichnen sie heute den Weg des Patienten vor. Verantwortlich für die Checkliste sind die 183 Stationspflegeleiterinnen, die früheren Oberschwestern, die in jeweils zehntägigen Kursen auf ihre neue Aufgabe vorbereitet wurden.

Mehr Voraussicht durch medizinische Pfade – auch für Patienten

Von den rund 40 verschiedenen Pfaden von Vivantes sind bereits 28 im Einsatz. Bei einem Leistenbruch etwa sieht die Stationsleiterin auf einen Blick, dass sich der Patient am zweiten Tag nach der Operation bereits selbstständig versorgen können sollte und am dritten Tag, wenn er jünger als 56 und seine Wunde nicht entzündet ist, das Haus verlassen darf. Aus anderen Pfaden kann sie ablesen, dass ein Termin in der Röntgenabteilung gebucht und der Transport dorthin organisiert werden muss. Auf diese Weise können die Abteilungen wesentlich effektiver arbeiten.

Auch der Patient profitiert von den medizinischen Pfaden – sie machen ihn zum Kunden auf Augenhöhe. Im Klinikalltag bedeutet die Prozessoptimierung beispielsweise: keine grotesk frühen Weckzeiten mehr, um in den dicht gedrängten Vormittagsstunden einen Platz im Labor oder der Röntgenabteilung zu ergattern, kein endloses Warten auf die Chefarzt-Visite. Auch die heikle Frage nach dem Entlassungstermin, früher eher abhängig von der Bettenauslastung als vom Genesungsfortschritt und daher nur kurzfristig beantwortbar, wird nun schon bei der Aufnahme gestellt. Sobald die Diagnose feststeht, kann der Patient seiner Familie und seinem Arbeitgeber Bescheid geben, wann sie ihn zurückerwarten dürfen.

Die Transparenz und Planbarkeit sind keine Nettigkeiten am Rande. Eine Umfrage des Hamburger Picker Instituts ergab, dass Patienten die „Koordination der einzelnen Versorgungsleistungen“ sowie die „Kontinuität beim Wechsel der Versorgungssektoren“ als wesentliche Qualitätskategorien betrachten. Hier liegen bislang auch die größten Defizite: Die Vorbereitung auf die Entlassung nennen die Befragten als das häufigste Problem.

Straffer in der Organisation sein heißt bei Vivantes heute auch, nach Möglichkeiten zu suchen, Dienstleistungen zu bündeln, sich zu spezialisieren. Nicht jede Klinik muss auf alle Eventualitäten vorbereitet sein – bei immer größerem Fachwissen in den einzelnen Disziplinen ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Die Strategie für Vivantes lautet deshalb: Nur die Grundversorgung wird in jeder Klinik angeboten, Spezialdisziplinen werden in einzelnen Häusern gebündelt. Es gibt ein Brustzentrum und zwei Zentren für Endoprothetik, eine Altersklinik sowie weitere Spezialeinrichtungen. Insgesamt sind es mehr als 120 medizinische Kliniken.

Auch die Nacht- und Notdienste lassen sich rationeller organisieren – ohne Abstriche an die bestmögliche Versorgung. Das zu später Stunde gemachte Computertomogramm beispielsweise muss nicht vor Ort ausgewertet werden. Eine dicke Leitung wird in Zukunft die Daten des Humboldt-Klinikums an ein benachbartes Krankenhaus schicken, so dass ein Experte in Bereitschaft für zwei Häuser ausreicht. Zudem müssen alte Überzeugungen weichen. Während kleine Stationen mit ihrem vermeintlich hohen Kuschelfaktor lange als vorbildlich galten, fragt die Klinikleitung heute zu Recht danach, ob ein Nachtdienst in der Pflege eigentlich ausgelastet ist. „Eine Station mit 15 Betten ist nicht tragbar“, weiß Franziska Mecke, die vor ihrem Wirtschaftsstudium als gelernte Krankenschwester den Stationsalltag hautnah miterlebt hat. Erst Stationen mit mindestens 30 Betten gelten als rentabel.

Spezialisierung geht auch einher mit Zentralisierung. Vor einigen Jahren musste noch jedes selbstständig arbeitende Krankenhaus seine eigene Infrastruktur aufbauen: eigenes Zentrallabor, eigene Notfallaufnahme, eigene Verwaltung, eigene Küche mit eigenem Einkauf – eine wahre Fundgrube für Prozessoptimierer.

Beispiel Labor: „Es ist nicht einzusehen“, sagt Wolfgang Schäfer, „dass jede Klinik in ihrem Labor dieselben Verfahren anbietet.“ Bald werden die aufwändigen Analysen an ein großes zentrales Labor geschickt, vor Ort werden nur noch halb so große Notfall-Labors unterhalten.

Beispiel Verwaltung: Früher hatte jede Klinik ihre eigene Buchhaltung. „Ich brauche nur eine“, sagt Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau. Auch die Lizenzen für die SAP-Software lassen sich so von neun auf eine reduzieren. Für den jetzt zentralen Einkauf in Händen der Vivantes-Tochter ChronoMedic bedeutet das: Von 3300 Lieferanten sind noch 1600 übrig geblieben, die dafür größere Mengen liefern. Diese „Sortimentsoptimierung“ lässt größere Rabatte zu. Der Preis für einen Herzschrittmacher sank in den vergangenen zwei Jahren von 1400 auf 1100 Euro.

Beispiel Küche: In seine Versorgungsstellen müsste Vivantes in den nächsten Jahren rund 70 Millionen Euro investieren. Grund genug, über Alternativen nachzudenken. Service-Geschäftsführer Harry Düngel setzt jetzt auf das Sous-Vide-System, das, wie so viele der Optimierungsmaßnahmen, letztlich auch dem Patienten zugute kommt. Das neue Verfahren wird die traditionelle Zubereitung des Essens in den Küchen ablösen. Stattdessen wird die Verteilung der Speisen an die Patienten und Mitarbeiter in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen des Unternehmens auf vier neue Verteilzentren konzentriert. Dazu werden etwa 27 Millionen Euro investiert, statt den 70 Millionen, die langfristig für die Sanierung der bisherigen Küchenbetriebe erforderlich wären. In Zukunft kauft eine Zentralstelle im Vakuumbehälter schonend vorgegarte, schockgekühlte Essenskomponenten in großen Mengen ein. In den Verteilstationen kommen sie bei wenigen Plusgraden portionsgerecht auf die Teller, die ein Lieferservice dann an die einzelnen Stationen in den neun Kliniken austeilt. Erst dort wird das Essen erhitzt. Das heißt für den Patienten: Statt lauwarm und verkocht bekommt er seine Mahlzeit heiß und frisch auf den Tisch. Ein weiterer Vorteil der Zentralisierung: tägliche Auswahl unter 50 frei wählbaren Menükomponenten, die für Abwechslung sorgen und Sonderwünsche und Spezialdiäten problemlos ermöglichen. Eine Computerüberwachung sorgt dafür, dass jeder Patient auch wirklich das bekommt, was er bestellt hat.

Mehr Optimierung, flachere Hierarchien, weniger Personal

All die Sanierungsmaßnahmen wie Bettenanpassung, Prozessoptimierung, Zentralisierung und Spezialisierung bedeuten zwangsläufig, dass auch weniger Personal nötig ist. Von 2000 bis 2004 sank die Zahl der Vollzeitkräfte unter den Ärzten, Pflegern und anderen Beschäftigten in den Vivantes-Krankenhäusern von 13.499 auf 10.581. Auch im Management wurden Positionen gestrichen, im Pflegedienst etwa fielen zwei komplette Hierarchieebenen weg. In den nächsten Jahren wird die Zahl der Mitarbeiter auf der Grundlage von Strukturabbau und Prozessoptimierung weiter sinken. Wird das zu schaffen sein, wo Ärzte und Pflegepersonal doch schon heute keine geringe Arbeitsbelastung haben? „Gute Medizin geht nicht unbedingt einher mit vielen Medizinern“, meint Wolfgang Schäfer. Allerdings räumt er ein: „Wir fordern Ärzten schon viel ab.“

Diesbezüglich ist Vivantes keineswegs Vorreiter. Während 2003 in privat geführten Kliniken ein Arzt 146 Fälle versorgte, musste sich der Kollege in den Häusern der öffentlichen Hand nur um 83 kümmern. Wird eine Stelle gestrichen, muss der Mitarbeiter nicht gehen. Er kann mit einer Abfindung das Haus verlassen oder in andere Bereiche wechseln. Derzeit gibt es einen Pool von knapp 100 Mitarbeitern, die verfügbar sind.

Auch die technischen Angestellten bleiben unter dem Dach von Vivantes. Ein Großteil der Dienstleistungen der nicht medizinischen Bereiche übernehmen nun Vivantes-Töchter. Um Sauberkeit und die Anlagen kümmert sich etwa VivaClean. Wo nötig, so Service-Direktor Harry Düngel, holt sich das Unternehmen externes Know-how dazu – und damit oft auch die in der Wirtschaft straffere Arbeitsmoral. Das war nötig, meint Düngel, denn Schlendrian kann sich Vivantes nicht mehr leisten.

Stationen und Daten

1999
Die Stadt Berlin ist Träger von zehn über das Stadtgebiet verteilten Krankenhäusern. Zusammen betreiben die Häuser 7038 Betten und erwirtschaften bei einem Umsatz von 921 Millionen Euro einen Verlust von 29 Millionen Euro. 14 603 Vollkräfte versorgen 183 579 Patienten. Ein Patient liegt im Schnitt 11,3 Tage.

2000
Der Berliner Senat überführt die zehn Krankenhäuser in die Vivantes GmbH. Dadurch entsteht eine der größten Klinikgruppen in Deutschland.
Umsatz: 913 Millionen Euro; Verlust: 80 Millionen Euro; Betten: 6634; Vollkräfte: 13.499; Patienten: 186.680; Verweildauer: 10,8 Tage.

2001
Hauptgeschäftsführer Wolfgang Schäfer, Jörg-Olaf Liebetrau, Geschäftsführer Finanzen und Controlling, und Ernst-Otto Kock, Geschäftsführer Personal und Soziales, nehmen ihre Arbeit auf. Der Aufsichtsrat billigt das von der neuen Geschäftsführung vorgelegte Umstrukturierungs-Konzept. Die zehn Kliniken werden in die Regionen Süd, Nord und Mitte zusammengefasst. Die Bereiche Versorgung, Finanzen, Personal und Krankenhausmanagement werden zentralisiert. Ein Fünf-Jahres-Plan sieht bereits kleine Gewinne im Jahr 2003 vor.
Geschäftsführung und Betriebrat beschließen, bis 2006 keine betriebsbedingten Kündigungen zuzulassen. Bei der Gründung von Tochtergesellschaften, die Dienstleistungen für Vivantes erbringen, bleiben die dorthin wechselnden Mitarbeiter bei Vivantes.
Mit den Krankenkassen wird eine Reduzierung des Budgets um 20 Millionen Euro jährlich bis 2006 vereinbart, was zwar weitere Belastungen von 100 Millionen Euro, aber auch langfristig finanzielle Sicherheit mit sich bringt.
Umsatz: 795 Millionen Euro; Verlust: 153 Millionen Euro; Betten: 6135; Vollkräfte: 12.443; Patienten: 180.854; Verweildauer: zehn Tage.

2002
Erste Erfolge der Reorganisation werden deutlich: Einsparungen beim Einkauf werden erzielt, Leitlinien für die rationelle Behandlung erarbeitet und Kompetenzzentren etabliert. Der Aufsichtsrat spricht sich dafür aus, das Unternehmen in seiner Größe zu erhalten. Langfristig wird ein Verkauf jedoch nicht ausgeschlossen.
Eine Befragung ergibt, dass 93 Prozent der Patienten die Vivantes-Kliniken weiterempfehlen würden, damit liegt Vivantes 20 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Die Zahl der Vivantes-Krankenhäuser sinkt nach einer Zusammenlegung auf neun.
Der Aufsichtsrat billigt einen neuen Strategieplan. Bis 2010 soll die Bettenzahl auf 4200 reduziert werden. Mit Neuinvestitionen von 270 Millionen Euro wird gerechnet, die zu 78 Prozent aus Fördermitteln des Landes und zu 32 Prozent selbst erbracht werden sollen.
Umsatz: 805 Millionen Euro; Verlust: 19 Millionen Euro; Betten: 6073; Vollkräfte: 11.581; Patienten: 180.329; Verweildauer: 9,4 Tage.

2003
Die Mitte 2002 gegründete Tochterfirma ChronoMedic, die unter anderem den gesamten Einkauf abwickelt, agiert jetzt selbstständig. Die Geschäftsführung hat bislang 180 Millionen Euro Kosten abgebaut. Dennoch wird das ursprüngliche Sanierungsziel, bereits 2003 Gewinne zu erwirtschaften, nicht erreicht.
Umsatz: 771 Millionen Euro; Verlust: 70 Millionen Euro; Betten: 5414; Vollkräfte: 10.860; Patienten: 177.739; Verweildauer: 8,9 Tage.

2004
Bundesweit werden Fallpauschalen (DRGs) eingeführt. Mit Unterstützung von McKinsey erarbeitet die Geschäftsführung ein Sanierungsprogramm bis 2008, das der Aufsichtsrat bestätigt. Es sieht unter anderem kürzere Verweildauern der Patienten durch verbesserte Behandlungsabläufe, eine höhere Auslastung der Vivantes-Häuser und eine bessere Ausnutzung von OP-Sälen, Laboren und Intensivstationen vor. Zehn Projektgruppen mit insgesamt 150 Mitarbeitern sollen Maßnahmen zur Umsetzung des Konzeptes erarbeiten. Der Senat wandelt das Gesellschafterdarlehen von 230 Millionen Euro in Eigenkapital um, womit eine solide Finanzgrundlage geschaffen wird. Zinsforderungen in Höhe von 5,3 Millionen Euro entfallen. Zudem verzichten alle Mitarbeiter bis 2008 auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, das spart weitere 32 Millionen Euro ein.
Umsatz: 746 Millionen Euro; Gewinn: 4,9 Millionen Euro; Betten: rund 5300; Vollkräfte: 10.581; Patienten: 185.903; Verweildauer: 8,3 Tage.

2005
Ein Team von 15 McKinsey-Beratern unterstützt die Geschäftsführung für anderthalb Jahre bei der Umsetzung des Sanierungsplanes. Weitere Kliniken werden umstrukturiert.
Plan: Umsatz: 730 Millionen Euro; Gewinn: vier Millionen Euro; Betten: weniger als 5000; Vollkräfte: 10.590; Patienten: 187.247; Verweildauer: 7,8 Tage.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.