„Vielleicht konzentrieren sie sich auf die falschen Dinge?“

Toyota-Veteran Art Smalley über das Erfolgsgeheimnis der schlanken Fertigung.




McK: Herr Smalley, wie wurden Sie Teil des Toyota-Systems?

Art Smalley: Per Zufall. Mitte der achtziger Jahre habe ich in Japan studiert. Zwei Monate vor meinem Rückflug nach Los Angeles fragte mich eine Bekannte aus Japan, ob ich sie in einem Bewerbungsgespräch bei Toyota vertreten könne. Ich war 23, hatte nie zuvor einen festen Job und kannte Toyota nur vom Hörensagen. Die Firma suchte einen zweisprachigen Ingenieur und konnte keinen finden, obwohl sie sich an fünf Universitäten in Japan umgesehen und 100 Kandidaten interviewt hatte. Nun ja, ich hatte Physik und Ökonometrie studiert und kam dem Wunschkandidaten wohl am nächsten. Per Handschlag haben wir den Job besiegelt.

Und damit waren Sie einer der ersten ausländischen Toyota-Angestellten.

Unter 27.000 Mitarbeitern war ich der siebte Ausländer. Damals war die gesamte Toyota-Fertigung noch in Japan, aber der Konzern plante bereits, im nächsten Jahrzehnt global zu expandieren. Dazu sollten Amerikaner in Japan die Unternehmenskultur kennen lernen und dann in die USA zurückgeschickt werden, um vor Ort die neuen Werke zu leiten. Eine genauere Job-Beschreibung gab es nicht. Ich wusste nur, dass es 18 Monate später so weit sein würde. Das war faszinierend – und für einen 23-Jährigen ziemlich einschüchternd.

Wie lernten Sie, worauf es beim Toyota-Produktionssystem (TPS) ankam?

Wie jeder, der im Unternehmen einstieg: unter Schmerzen. Und von der Pike auf. Am meisten schockte mich damals, dass ich als Absolvent eines Colleges monatelang am Fließband arbeiten musste. Aber das ist Teil der Kultur: Jeder – ob Managersohn oder High-School-Abbrecher – fängt damit an, Autos zu bauen. Mich steckte man in ein Motorenwerk im japanischen Kamigo, weil ein solches Werk als erstes in Amerika geplant war und ich dabei helfen sollte, dort die späteren Fertigungsstraßen in Betrieb zu nehmen. In einem einjährigen Trainingsprogramm lernte ich vor allem Ingenieurwesen, Wartung und Qualitätskontrolle. Aber die ersten Monate verbrachte ich ausschließlich damit, nach einem standardisierten Arbeitsplan Motorenteile zusammenzubauen. Ich lernte, wie man nach Vorgabezeit fertigt, und wenn ich einen Fehler machte, zog ich an der Schnur, die das Band stoppte und dafür sorgte, dass der Teamführer herbeirannte, um mir zu helfen. Der Anfang war ein einziger Überlebenskampf.

Das muss sich irgendwann geändert haben. Schließlich sind Sie sechs Jahre bei Toyota geblieben.

Ich lernte langsam zu verstehen, wie man Fertigungsstraßen anlegt, Werke in Betrieb nimmt, wie man Leute ausbildet, Systeme baut und in die USA transferiert. Man lernt durch ständige Wiederholung, und man wird immer besser, das ist das Spannende daran. Wir brachten das erste Motorenwerk schrittweise nach Kentucky: eine Straße für Zylinder, für Pleuelstangen, Kurbelwellen und Nockenwellen, schließlich Straßen für Zylinderkopf und Zylinderblock. Das war ein dreijähriger Prozess.

Unternehmen in aller Welt haben inzwischen versucht, das Modell zu kopieren. Und doch reichen viele noch nicht an das Vorbild heran. Warum?

Weil sich die meisten zu sehr auf die Tools konzentrieren. Das reicht aber nicht. Man muss sich überlegen, was dahinter steckt und wie man damit das meiste aus seiner Industrie herausholt. Wer nur Toyotas Werkzeuge kopiert, hat nicht viel davon. Das Toyota-Produktionssystem ist eine Haltung, kein Tool. Sehen Sie, viele Unternehmen haben die Idee euphorisch aufgegriffen. Sie haben ihre Produktion umgestellt, ihre Bänder neu organisiert, Prozesse optimiert – und sich über die gestiegene Effizienz zu Recht gefreut. Und meist blieb es dabei.
Ganz anders Toyota: Die senken jedes Jahr die Preise über die gesamte Supply Chain um fünf Prozent. Ihr Materialeinkauf ist 40 Prozent günstiger als bei der europäischen Konkurrenz. Sie benötigen nur halb so viel Arbeitszeit, die Hälfte der Werkzeugkosten und der Herstellungsfläche für vergleichbare Produktionsziffern. Sie haben in den USA zwei Wochen Lieferzeit – die anderen brauchen Monate. Und während die Konjunktur weltweit lahmt, hat Toyota voriges Jahr zwölf Milliarden Dollar verdient.

Was also macht der Konzern besser als die anderen?

Die Leute sind nie zufrieden mit dem, was sie erreicht haben. Toyota steht für unerbittliches Streben nach kontinuierlicher Verbesserung und weniger Verschwendung. Das haben mir meine Schichtführer vom ersten Tag an eingehämmert. Wenn etwas 60 Sekunden dauert – wie können wir es auf 57 bringen? Wenn eine Maschine im vorigen Monat zehnmal für insgesamt fünf Stunden ausfiel – wie können wir die Ausfallzeit um zehn Prozent runterfahren? Wenn wir 100 Fehler oder Stück Ausschuss hatten – wie schaffen wir es, auf 70 zu kommen? Alles, was sich in den Größen Qualität, Kosten und Lieferzeit messen ließ, war permanent im Brennpunkt, um verbessert zu werden. Und immer wieder die Fragen: Wo stehen wir? Was sind die Gründe? Und wie können wir Wiederholungen vermeiden? Die Optimierung gilt immer und überall. Natürlich sind Philosophie und Tools seit 30 oder 40 Jahren konsistent geblieben, aber sie verbessern sich ständig. Als ich anfing, waren die Laufkarten aus Papier. Die verliert man natürlich. Da Seriennummern auf ihnen stehen, mussten wir jeden Monat kontrollieren, ob wir noch alle Kanbans hatten. Also wechselten wir schnell zu Strichcodes und einer automatischen Sortiermaschine. Also: Auch die Werkzeuge verbessern sich ständig.

Hat das System auch von Ihnen und den ausländischen Kollegen gelernt?

Es ist stets offen für Neues, für die unterschiedlichsten Einflüsse. Jeder Ausländer, der dort arbeitet, benutzt zunächst einmal die Werkzeuge und versucht sie anderen Mitgliedern unserer westlichen Kultur verständlich zu machen. Und dann nimmt man natürlich auch Einfluss. Japaner sind beispielsweise an lebenslange Anstellung und lange Lehrzeiten gewöhnt. Es dauert fünf bis zehn Jahre, um einen vollständig ausgebildeten Arbeiter hervorzubringen.
In den USA dagegen bleibt kaum jemand fünf oder zehn Jahre im selben Betrieb. Wir müssen in sechs bis zwölf Monaten einen voll einsatzfähigen Arbeiter für die Fertigung ausbilden, einen Fachmann in ein bis zwei Jahren. Also habe ich dabei geholfen, das System für die US-Kultur fein zu justieren. Ich musste die Japaner davon überzeugen, dass wir Trainingspläne beschleunigen und von Anfang an mehr Betonung auf Ausbildung legen müssen.

Kann man das Toyota-Modell auf jedes Unternehmen und jede Branche übertragen?

Die Preisfrage lautet vielmehr: Warum hat sich dieses Fertigungssystem nicht viel schneller ausgebreitet? Warum haben die Leute nur stückweise davon profitiert? Das System ist eine überlegene Art und Weise, ein Unternehmen zu leiten. Aber natürlich braucht es dazu Führungsstärke und Visionen in der Chefetage. Ich glaube, es ist das alte Problem: Groß angelegter Wandel passiert nicht per Zufall an der Basis und pflanzt sich nach oben fort, sondern wird zu 80 Prozent von oben vorgegeben. Das ist in nur wenigen Fällen in US-Unternehmen geschehen. Ich weiß nicht, wie das in Europa ist, aber alle guten Beispiele schlanker Fertigung, die ich hier in den USA sehe, sind auf ein Werk beschränkt, in dem der Chef das System kapiert. So gut wie nie breitet sich dieses Denken von allein auf einen gesamten Konzern aus.

Toyota ist es gelungen, dieses System von der Pkw- auf seine Lastwagen-Sparte und sogar auf Fertighäuser auszudehnen. Auch da mit Erfolg: Während viele Konkurrenten rote Zahlen schreiben, legt Toyota Home knapp 16 Prozent zu und macht Gewinn (siehe Seite 18). Es muss also einen Weg geben.

Stimmt. Aber als Toyota damit anfing, war das eine kleine Firma, zwei Werke und 1000 Mitarbeiter. Wenn man so klein ist, ist es einfach, solch eine Unternehmenskultur von innen wachsen zu lassen. Wenn man bereits 100.000 Mitarbeiter an mehreren Standorten hat, erfordert das einen massiven Wandel.

Dann mühen sich die Konzerne in aller Welt womöglich vergebens ab und geben Unsummen aus – ohne Aussicht auf Erfolg?

Vielleicht konzentrieren sich die erfolglosen Unternehmen auf die falschen Dinge. Sie starren auf das Produktionssystem, aber das ist nicht die Barriere. Sondern die Prinzipien, wie man Wandel managt. Oder das Konzept, wie man ein Modell entwickelt, das man rasch auf die gesamte Organisation anwenden kann. Dazu bedarf es wohl einigen Umdenkens in westlichen Kulturen.

Das heißt, wir müssen nicht nur die Unternehmenskultur umkrempeln, sondern auch vom westlichen Denken abrücken?

Nein, der Erfolg hat nichts mit japanischer Kultur zu tun. Es gibt auch genügend Firmen in Japan, die das System nicht kopieren können. Bei Toyota gibt es so etwas wie einen ungeschriebenen „Toyota-Weg“. Das ist das Erbgut der Firma, das alle Mitarbeiter verinnerlichen. Eine bestimmte Weise, wie man über Verbesserungen nachdenkt und Probleme löst.

Und was bedeutet das für die Nachahmer?

Die Chefetage muss sich die Frage stellen: Wie gelangen wir am schnellsten von der Bestellung zur Auslieferung mit den geringsten Reibungsverlusten bei Arbeit und Ressourcen? Das hat auch die Dell Computer Corporation erreicht – und ich glaube, sie hatten sich gar nicht das Ziel gesetzt, TPS zu kopieren. Was sie verstehen, ist die Vision auf höchster Ebene. Sie wissen, wie man den Schwund auf ein Minimum reduziert, Bestellungen einsammelt, ausliefert und Geld einnimmt. Sie nennen es nicht einmal schlanke Fertigung, sondern „Dell Direct“. Aber das spielt keine Rolle: Dell macht im Grunde dasselbe, was Toyota mit Autos macht.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.