Stau im Kopf?

Im Jahr 2050 ist jeder Dritte in Deutschland älter als 60.
Wie mobil werden wir dann sein? Was bedeutet Alter für unsere Beweglichkeit? Abwarten.




Am Anfang ist alles ganz einfach. Die Guten, die Bösen, der Skandal. Aber es ist jedes Mal das Gleiche: Je weiter man vordringt, desto komplizierter wird es. Aus Schwarz und Weiß wird Grau. So ist es auch diesmal. Beginnen wir mit ein paar Fakten. Obwohl wir damit, zugegebenermaßen, gleich das erste Dilemma haben. Alle paar Wochen gibt ein Institut, ein Amt oder eine Partei die angeblich richtigen Zahlen heraus, die belegen sollen, was wir inzwischen ohnehin längst wissen: Wir werden alt. Auf ein paar Prozentpunkte nach oben oder unten kommt es dabei nicht an, vielleicht einigen wir uns zunächst einmal auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Europas Bevölkerung schrumpft. Und sie vergreist.

„Die Lebensbedingungen in modernen Gesellschaften haben die Phase des Alters zu einem Lebensabschnitt gemacht, den die meisten Menschen erleben werden“, schreibt ohne jede Ironie die Sachverständigen-Kommission des Familienministeriums im Vierten Altenbericht Anfang 2002. In Deutschland wird nach aktuellen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes die Anzahl der mindestens 60-Jährigen bis zum Jahr 2050 von knapp 20 auf rund 28 Millionen wachsen, gleichzeitig geht die Bevölkerungszahl von 82,5 auf 75 Millionen zurück. Der Anteil der älteren Menschen nimmt also drastisch zu – in 50 Jahren werden 37 Prozent der Bevölkerung 60 Jahre und älter sein. „Auch in die Phase des sehr hohen Alters werden immer mehr Menschen eintreten“, heißt es in dem Bericht weiter. Zurzeit sind rund 3,2 Millionen Menschen 80 Jahre und älter. In 50 Jahren werden es – konservativ gerechnet – rund 9,1 Millionen sein; das entspricht dann etwa zwölf Prozent der Bevölkerung.

Der demografische Wandel wird die Gesellschaft verändern. Die Situation ist in der Geschichte ohne Beispiel: eine Umkehrung des Verhältnisses zwischen Jungen und Alten. In einigen Gebieten des Saarlandes oder Sachsens bekommt man bereits heute eine Ahnung davon. Tagsüber sind fast nur noch Leute ab 60 auf der Straße. Die Jungen ziehen weg. Künftig werden immer weniger da sein, die noch Reißaus nehmen können.

Was das für den Sozialstaat bedeutet, wissen wir längst. Die Renten sind schon seit Jahren nicht mehr sicher. Mehr noch: „Die Unbezahlbarkeit der sozialen Sicherungssysteme könnte für den Zusammenhalt der Gesellschaft verheerend sein“, sagt Rolf Kreibich, Chef des Berliner Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung IZT. Meinhard Miegel, der Gründer des Bürgerkonvents und Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG), warnt schon seit Jahren vor einem Zusammenbruch der Gesellschaft und einem „Aufstand der Jungen“. Wenige Arbeitende müssten über die Verteilung öffentlicher Gelder die Mehrzahl der Alten finanzieren, Steuern zahlen für einen enormen Anstieg der Sozialausgaben und für eine Infrastruktur, die überwiegend von Alten genutzt wird.

Welche Infrastruktur? Genau die wollten wir finden. Wir wollten wissen, wie wir in 30 Jahren leben werden. Wie wir uns bewegen, wie wir reisen, Besorgungen machen, Freunde oder Kinder besuchen. Und wie sich eine Gesellschaft definiert, zu deren größten Errungenschaften die Mobilität zählt. Heute. Also: Was ist morgen?

Wir werden, logisch, nicht mehr so fit sein wie heute. Unsere Blendempfindlichkeit nimmt zu, das Wahrnehmungsvermögen in der Dämmerung nimmt ab. Die Reflexe lassen nach. Wer noch selbst Auto fährt, wird versuchen, altersbedingte Defizite durch einen defensiveren Fahrstil zu kompensieren. Aber wir wissen schon jetzt: Ab dem 75. Lebensjahr werden wir zwei Drittel all unserer Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem öffentlichen Personennahverkehr zurücklegen. Ab dem 80. Lebensjahr vier Fünftel.

Wir sollten uns darauf einstellen, dass unser Alltag weniger bunt sein wird: Der Lebensradius eines alten Menschen reduziert sich von 18 Kilometern im Lebensdurchschnitt auf fünf. Mobilität bedeutet dann nicht mehr Geschwindigkeit oder Entdeckung, sondern Freiheit nahe zu Hause – einkaufen, spazieren gehen, gesundheitliche Versorgung. Und wir brauchen Sicherheit. Alte sind überproportional häufig an tödlichen Unfällen beteiligt – als Opfer. Verkehrssicherheitsexperte Michael Emsbach von der Universität Flensburg weiß: „Das Todesrisiko eines 65-jährigen Fußgängers ist fast viermal höher als das eines jüngeren Menschen, bei Radfahrern ist das Risiko fast sechsmal so hoch.“

Wir wissen das alles, zumindest ahnen wir es. Aber wir lassen es ruhig angehen, begnügen uns mit wissenschaftlicher Haarspalterei und tun, was wir sonst ziemlich albern finden: Wir glauben der Werbung. Soziologen unterscheiden zwischen jungen und alten Alten. Die jungen Alten, von der Werbeindustrie gern Silver Surfer oder Golden Generation genannt, sind zwischen 55 und 75 Jahre alt, fühlen sich aber zehn Jahre jünger. Sie haben Geld und Zeit, sind mit einem Lebensstil aufgewachsen, den sie nicht missen möchten. Die Ausstellung in Speyer, die Enkelin in Bonn, zum Abendessen wieder zu Hause. Reise und Auto gehören zum Leben. Junge Alte möchten nachholen, worauf sie manchmal ein Arbeitsleben lang verzichtet haben. Und sie wollen Spaß. Mit aufgekrempelten Hosenbeinen in die Wellen hüpfen, sich mit dem Enkel um die Schlüssel des Sportflitzers kabbeln, einen Sonnenuntergang genießen. Im Süden, versteht sich. LTU hat seit 1998 eine Jahreskarte nach Spanien oder Portugal im Angebot. 10.000 Euro für eine unbegrenzte Zahl auch kurzfristig buchbarer Flüge.

Rampen, Ruhebänke, längere Grünphasen

Nicht, dass wir uns missverstehen. So stellt sich jeder seinen Lebensabend vor, und tatsächlich hilft die moderne Medizin uns ja auch, der Werbe-Idylle ein wenig näher zu kommen – vorausgesetzt, wir sind bereit, dafür zu zahlen. Aber machen wir uns nichts vor: In 30 Jahren wird es weniger unser Problem sein, welchen Wein wir beim Diner in der malerischen Bucht zum Fisch bestellen sollen. Wir werden froh sein, wenn wir die Karte noch lesen können. Genauso wie wir hoffen, dass uns bis dahin jemand ein Telefon baut, das wir mit unseren müden Fingern noch bedienen können oder einen Ticket-Automaten, dessen Display uns nicht verschreckt.

Wie wird das sein, später? Was müssen wir befürchten, worauf dürfen wir hoffen in einer Zeit, in der es immer weniger Junge gibt, die uns über die viel befahrene Straße helfen? In der Recherche ist das der Punkt, an dem nichts mehr geht. Meinung gegen Meinung, Prognose gegen Ahnungslosigkeit. Niemand fühlt sich verantwortlich. „Für die Projekte der EU sind wir nicht zuständig“, erklärt etwa die Pressestelle des Bundesverkehrsministeriums. Dabei setzt die deutsche Verkehrs-Oberbehörde die Beschlüsse der EU in Deutschland um. Aber Auskünfte, so heißt es in Berlin, gibt es nur bei der EU. „Mit Ansprechpartnern können wir leider auch nicht weiterhelfen.“ Wo es Gesprächspartner gibt, existieren mindestens zwei Meinungen. Die Zukunft der Deutschen und die Frage ihrer Mobilität ist ein Thema, über das sich nicht nur Politiker streiten. Verkehrsplaner wüten gegen Städtebauer, Soziologen gegen Ingenieure, Ökonomen gegen Psychologen, selbst ernannte Experten gegen bornierte Bürokraten. Jeder hat Recht, und ein Sündenbock ist schnell gefunden: Schuld, so heißt es oft, sei vor allem die Automobilindustrie.

„Die Autoindustrie musste schon immer zum Jagen getragen werden“, sagt Kurt Möser, streitbarer Buchautor und Konservator am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Sobald es um Innovationen gehe, wehrten die Konzerne erst einmal ab, flankiert von Verbänden: Geht nicht, ist zu teuer, der Konsument sei noch nicht reif. Dann würden Studien über die Wirksamkeit in Auftrag gegeben, gefolgt von freiwilligen Selbstverpflichtungen. Erst bei gesetzlichen Vorschriften würden umweltgerechte oder lebensrettende Verbesserungen eingeführt werden.

Mit Verlaub, das ist natürlich Unsinn. Richtig ist, dass wir schon ein paar Vorstellungen davon haben, wie das Auto aussehen sollte, das wir im Alter noch fahren können. Es hätte etwa Schiebetüren zum bequemeren Einsteigen, Spiegelsysteme wegen der nachlassenden Gelenkigkeit, hohe und drehbare Sitze, Einparkhilfen und einfach zu bedienende Navigations-Systeme. Richtig ist jedoch auch, dass es dieses Auto noch nicht gibt.

Angeblich wollen es die Alten nicht fahren, und das stimmt sicher auch. Wie es auch richtig ist, dass eine Menge Konsumenten auf den neuesten technologischen Schnickschnack im Handy ganz wild ist – während sich der Großteil der Kundschaft nur nach einem bedienbaren Telefon sehnt. Natürlich würden wir, wenn wir alt sind, den altengerechten Wagen fahren, schon weil wir müssten. Womöglich sogar mit Vergnügen. Als Modell, das für Fortschritt, Bequemlichkeit, höchsten Komfort und hohe Sicherheit steht und vielleicht sogar gut aussieht, würden wir es sogar heute schon kaufen. Es könnte Gefahr laufen, Kult zu werden. Weil es schlau ist. Und weil alle Ausstattungsmerkmale, die das Leben im Alter erleichtern, auch so manches Beschwernis der Jugend reduziert. Aber ein solches Auto ist so weit weg wie die anderen dringend benötigten Verkehrsmittel oder all das, was die Mobilität älterer oder behinderter Menschen schon heute erhöhen würde.

Unter dem Vorwand, dass wir Alten es nett haben sollen, werden wir in Wohngettos am Stadtrand kaserniert. Residenz heißt so etwas gern, das klingt nach erhabener, selbst gewählter Abgeschiedenheit – aber der Name täuscht uns nicht: Wir sind draußen.

Unsere abnehmende Lebenskraft dient höchstens als Forschungsgegenstand. Immer häufiger sieht man in jüngster Zeit angehende Architekten, Mediziner oder Produktplaner in Raumanzügen durch Supermärkte tappen. Gewichte an Armen und Beinen sollen die müden Knochen symbolisieren, der Helm auf dem Kopf, durch den jedes Geräusch wie durch Watte dringt, simuliert unsere abnehmende Hörfähigkeit, das Visier vor den Augen lässt die Probanden unsicher durch die Gänge stolpern. Und? Bauen wir deshalb die Supermärkte um? Vergrößern wir die Schrift auf den Dosen oder stellen zwischen kilometerlangen Regalen eine Ruhebank auf?

Es fehlt nicht an Geld, sondern an Möglichkeiten

Und was organisieren wir draußen? Die Verkehrsflüsse für Fußgänger, Radfahrer und Autos sollten möglichst getrennt werden. Ältere Fußgänger brauchen längere Grünphasen an den Ampeln, ein flächendeckendes Fußwegenetz, mehr Zebrastreifen und Mittelinseln, breite und beleuchtete Gehwege. Fahrräder benötigen einen niedrigen Durchstieg, müssen auch bei geringeren Geschwindigkeiten stabil sein, ein Hilfsmotor würde bei Steigungen die Gelenke schonen.

Wir brauchen komfortable und sichere Zugangswege zum öffentlichen Nah- und Fernverkehr, Rampen, Geländer und Ruhepodeste, überdachte Sitzplätze, leicht verständliche Tarifsysteme, Liniennetze und Fahrpläne, Niederflurfahrzeuge, kurze Takte, ausreichend Sitzplätze, sanftes Anfahren, frühe und gut hörbare Informationen über den nächsten Halt, ebenerdige Umsteigehaltestellen, genügend Zeit für den Gleiswechsel und intermodale Konzepte, damit wir die mühsamen Prozeduren beim Übergang zwischen Auto, Bahn, Fahrrad, Taxi und U-Bahn bewältigen können.

Wir haben nichts, außer unserem guten Recht. In einer Grundsatzerklärung stellt das Bundesverkehrsministerium fest: „Mobilität ist ein fundamentales Bedürfnis jedweder menschlichen Existenz. Deshalb ist es Aufgabe von Staat und Gesellschaft, Sorge dafür zu tragen, dass mehr Mobilität möglich ist.“ Auch die EU hat sich das Anbieten von Möglichkeiten zum Ziel gesetzt: zu jeder Zeit mobil zu sein und aus eigenem Entschluss überall hinfahren zu können.

Vor 50 Jahren dachten wir, Autos würden spätestens ab den achtziger Jahren mit Kernenergie angetrieben und durch die Lüfte fliegen. Aber wir bewegen uns immer noch auf Asphalt und verbrennen dabei Benzin. Es stimmt: Die Dinge entwickeln sich anders, als man denkt.

Vielleicht ändern sich morgen ein paar Werte. Nach einer neuen, noch nicht veröffentlichten Studie ist einem großen Teil der Generation unter 35 nicht mehr der Besitz eines Autos wichtig, sondern nur die Verfügbarkeit – was nebenbei auch die Grundvoraussetzung für das Funktionieren des intermodalen Konzeptes ist. „In 25 Jahren wird ein Großteil der Unternehmen und Konsumenten Eigentum wahrscheinlich für altmodisch halten“, schreibt US-Zukunftsforscher Jeremy Rifkin. „In einer Ökonomie, deren einzige Konstante der Wandel ist, macht es wenig Sinn, bleibende Werte anzuhäufen.“ Aber kommt es wirklich so?

Vielleicht ändern sich die Rahmenbedingungen, und eine veränderte Familienpolitik führt dazu, dass die Zahl der Kinder wieder zunimmt. Vielleicht werden Einwanderungsprogramme aufgelegt, um wie in der Vergangenheit in den USA oder Kanada junge Leute ins Land zu holen. Die Vereinten Nationen haben vorgerechnet, dass Deutschland eine Zuwanderung von rund 500.000 Menschen jährlich benötigt, damit das Verhältnis zwischen Arbeitenden und nicht Arbeitenden gleich bleibt.

Vielleicht wird sogar die virtuelle Mobilität die tatsächliche ersetzen. Sozialwissenschaftlerin und Altersforscherin Stefanie Wahl vom Bonner IWG-Institut ist sogar sicher: „Der ältere Bevölkerungsteil ist verstärkt auf Computer und Internet angewiesen. Die Tatsache, online sein zu können, befriedigt das Bedürfnis älterer und immobiler Menschen nicht nur nach Kommunikation, sondern auch nach Sicherheit.“

Vielleicht wird es dann irgendwann auch den Computer mit einer Tastatur geben, die wir Alten lesen und bedienen können. Wir sind ja nicht zu dumm für die Technik, wir sehen nur schlecht und haben geschwollene Gelenke. Oder es gibt ein paar Dienstleistungen, die wir uns kaufen können, weil es – wie auch heute schon – weniger am Geld als an der Möglichkeit mangelt.

Wir sollten nicht darauf hoffen. Sondern anfangen, all das umzusetzen, was wir heute schon wissen. Denn eines ist ganz sicher: Mobilität, die beginnt im Kopf. Das haben schon Oma und Opa immer gesagt.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.