Ein Fenster zum Gang

Es gibt wenige Dinge, die wir so lange tun wie das einfache Gehen. Aus dieser archaischen Bewegung leitet ein Wiener Verhaltensforscher die unterschiedlichsten Erkenntnisse ab: die Schnelligkeit des Schrittes als Metapher für die Schnelligkeit des Lebens. Eines fernen Forscher-Tages will Klaus Atzwanger mit Architekten, Ärzten und Historikern errechnen, was seiner Ansicht nach dem Glücksrezept schon sehr nahe kommt: die erste weltweit gültige Gehgeschwindigkeitsformel.




McK: Herr Atzwanger, Sie untersuchen die Gehgeschwindigkeiten von Menschen – ein merkwürdiger Forschungsgegenstand.

Klaus Atzwanger: Ja, das klingt bizarr, ist es aber ganz und gar nicht. Zeit dominiert das soziale Leben mehr als vieles andere. Die Wissenschaft weiß längst, dass Menschen in einer fremden Kultur nicht nur mit dem Essen, den Bräuchen oder dem Klima Probleme haben – sondern auch mit der anderen Interpretation von Zeit. Hier zu Lande versteht man unter pünktlich etwas anderes als beispielsweise in Brasilien. In Deutschland heißt 15 Uhr plus/ minus 15 Minuten, in Brasilien sagt keiner etwas, wenn man zu einer 15-Uhr-Verabredung erst um 20 Uhr erscheint. Aber sogar innerhalb Deutschlands gibt es erhebliche Unterschiede in Bezug auf die soziale Zeit, also die Interpretation von Pünktlichkeit und Prioritäten.

Die deutsche Pünktlichkeit ist aber doch wohl ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Da täuschen Sie sich. Unser Umgang mit der Zeit hat etwas mit dem Ort zu tun, an dem wir leben, also Stadt oder Dorf, mit dem Klima, mit dem Nord-Süd-Gefälle und dem Charakter des Menschen: Das Gemüt wirkt sich ganz wesentlich auf die Geschwindigkeit aus. Und ein Tempo, das nicht zu einem passt, macht auf Dauer krank.

Die Folgen von Stress sind heute hinlänglich bekannt. Und dass das ruhige Landleben vermutlich gesünder ist, wissen wir auch.

So einfach ist die Regel eben nicht. Es gibt Langsam-Lebe-Typen und Schnell-Lebe-Typen. Zwar erkranken Schnell-Lebende eher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen, dafür sind die Langsamen anfälliger für alle Arten von Depressionen und Angsterkrankungen. Tendenziell kann man sagen: Schnell-Lebende wohnen lieber in einer Großstadt, Langsam-Lebende auf dem Land.

Was ist daran neu oder ungewöhnlich? Großstädte sind schnell, Dörfer eher langsam.

Ja, das denkt jeder. Auch die Wissenschaft ist lange von der einfachen Regel ausgegangen. Aber sie stimmt nicht. Es sind nicht nur die spezielle Architektur, der dauernde Verkehr, die Masse oder das überbordende Konsumangebot, die die Geschwindigkeit der Menschen in einer Metropole ausmachen. Es sind auch die Menschen selbst. Wer volle Städte liebt, zieht nach Berlin – und „verschnellt“ zusätzlich die Stadt. Berlin als Großstadt ist schnell und wird durch die Bewohner und deren Anspruch noch schneller gemacht.

Schneller gemacht? Was heißt das konkret?

Die Leute gehen schneller, gewöhnen sich an, schneller zu essen oder auch zu arbeiten. Das alles lässt sich eindeutig messen. Mein amerikanischer Kollege Robert Levine hat eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen zusammengetragen. Er hat beispielsweise untersucht, wie lange Postbeamte im Schnitt brauchen, um eine Standard-Briefmarke zu verkaufen. Daran hat er unter anderem die Arbeitsgeschwindigkeit gemessen. Er hat die öffentlichen Uhren mit der Zeitansage verglichen und die Abweichungen notiert. Er hat aber zum Beispiel auch verfolgt, wie viele Passanten in einer Stadt einem offensichtlich blinden, orientierungslos wirkenden Menschen über die Straße helfen. Der allgemeine Trend zeigt, dass in langsamen Städten die Hilfsbereitschaft leicht höher ist. Wobei der entscheidende Parameter für die Hilfsbereitschaft die Bevölkerungsdichte ist. Menschen in dicht bewohnten Städten sind in der Regel weniger hilfsbereit.

Sie konzentrieren sich in Ihrer Forschung ausschließlich auf die Gehgeschwindigkeit von Menschen. Warum?

Weil wir die Korrelationen zwischen den einzelnen Maßen nicht replizieren konnten. Nehmen wir nur das Beispiel mit der Post. In Japan werden Briefmarken liebevoll in kleine Päckchen verpackt. Kann man jetzt wirklich sagen, die japanischen Postbeamten arbeiten langsamer als andere?
Wir haben in Deutschland den Versuch mit Buchhändlern gemacht. Wie lange braucht ein Buchhändler am Telefon, um herauszufinden, ob ein bestimmtes Buch vorrätig ist? Um die Ergebnisse seriös vergleichen zu können, müssten wir sicherstellen, dass alle untersuchten Buchläden gleich groß sind, jeder Händler müsste mit dem Computerprogramm, das er bedient, ungefähr gleich lang vertraut sein. Kurz: Es gibt bei jeder dieser Fragestellungen zu viele unkalkulierbare Faktoren, die das Ergebnis verfälschen können, ohne dass man es merkt.

Sie messen also, wie Menschen gehen. Und wie tun Sie das? Marschieren Sie mit? Oder hängen Sie Ihren Probanden eine Stechuhr um?

Eine typische Untersuchung dauert mehrere Wochen. Wir schwärmen mit einem Team von zehn Leuten aus und beobachten in 15 Städten jeweils 100 Fußgänger. Vorher haben wir beim örtlichen Straßenverkehrsamt möglichst neutrale Straßenzüge recherchiert. Die Teststrecken müssen ja vergleichbar sein. Also: keine Flaniermeile mit vielen Schaufenstern, da geht man langsamer. Keine Straße mit vielen Hochhäusern, also Häuserfluchten, denn da gehen Menschen stets schneller. Die Leute laufen eine abgemessene Strecke, sagen wir 20 Meter. Ebenerdig, ohne Steigung. Und anschließend werden sie von uns befragt: Alter, Beruf, Anlass, sind Sie in Eile oder verspätet? Wir fragen aber auch Werte und Einstellungen ab. Wer depressiv ist, demonstriert das auch mit seiner Schrittlänge und der Schrittgeschwindigkeit. All das messen und sammeln wir. In den unterschiedlichsten Ländern.

Welche ist die schnellste Stadt Deutschlands?

Braunschweig, und zwar in jeder Hinsicht. Die Braunschweiger sind am schnellsten in Bezug auf die Gehgeschwindigkeit von Fußgängern, aber auch, wenn man die Geschwindigkeitsfaktoren Arbeiten und Essen dazu rechnet. Das angeblich so hektische Berlin rangiert erstaunlicherweise erst auf Platz sechs der Gehgeschwindigkeit. München landet auf Platz 14, hinter Schweinfurt und vor Freiburg. Dafür essen die Münchner am drittschnellsten in ganz Deutschland.

Und was lässt sich mit diesen Ergebnissen anfangen? Ist die Gehgeschwindigkeit ein ernst zu nehmender wissenschaftlicher Maßstab?

Ja natürlich, weil es ein ganz archaischer Wert ist. In der Evolution des Menschen gibt es Verhaltensweisen, die sehr, sehr alt sind. Dazu gehören Essen, Schlafen, Sich-Fortpflanzen und eben Gehen. Verhaltensweisen, die eine lange evolutive Geschichte haben, sind universell, also weltweit gleich und daher für uns besonders interessant. Weil sie nur schwer veränderbar und beeinflussbar sind.
Deshalb ist die Gehgeschwindigkeit auch schon recht gut erforscht. Farbpsychologen wissen, dass sich die Gehgeschwindigkeit ändert, wenn die Umgebungsfarben sich ändern. Also spielt Stadtbegrünung eine ganz wichtige Rolle. Architekten vermuten, dass das Gehen von der Bebauung beeinflusst wird: je höher und enger die Häuser, umso schneller der Schritt. Mediziner wissen, dass einem depressiv verstimmten Patienten Joggen nicht nur deshalb hilft, weil es so genannte Glückshormone freisetzt. Regelmäßiges Joggen kann die Schrittlänge eines Menschen verlängern und ihn schneller machen. Das heißt: Der Patient hilft sich „laufend“ selbst. Ethnologen wissen um die weltkulturellen Unterschiede von gehenden Menschen. Klimaforscher können Ihnen sagen, dass die lokale Temperatur nichts mit der Gehgeschwindigkeit von Menschen zu tun hat – wohl aber das Klima.
Und wenn man alle diese Erkenntnisse bündeln könnte, ließe sich eines Tages eine universelle Formel zur Berechnung des Ganges entwickeln. Man könnte die Geschwindigkeit von Menschen berechnen, ohne sie gehen zu sehen.

Und wozu braucht man das?

Um Prognosen zu erstellen. Die Ergebnisse interdisziplinärer Untersuchungen helfen der Innovationsforschung. Und was wir aus der Gehgeschwindigkeitsforschung lernen, lässt sich auch für andere Fortbewegungsarten nutzen. Mich interessieren zum Beispiel Voraussetzungen und Bedingungen für das erste, selbst fahrende, teilweise computergesteuerte Fahrzeug. Im Moment sieht es ja noch so aus, dass wir Kunden uns lieber einem x-beliebigen Taxifahrer anvertrauen würden als einem Auto, das ohne Fahrer auskommt. Meine Aufgabe als Verhaltensforscher bei der EFS-Unternehmensberatung in Wien ist es nun, anhand der Daten aus der Vergangenheit verlässliche Aussagen für die Zukunft zu entwickeln. Was hemmt uns, was müsste passieren, damit Innovationen einen Markt finden? Diese Erkenntnisse können dann in die Produktentwicklung der Automobilindustrie einfließen.

Und? Wie lauten die Ergebnisse?

Detaillierte Ergebnisse gibt es nur für den Kunden. Aber auch für ein selbst fahrendes Fahrzeug spielen natürlich Status eine Rolle, Kontrollbedürfnis und auch ein hohes Maß an inszenierter Individualität. Wenn zum Beispiel der Status eines solchen Fahrzeugs die Hauptrolle spielt, werden sich zunächst mehr Männer dafür interessieren als Frauen.

Weil Männer technikaffiner sind?

Ja, auch, aber nicht nur. Männer versuchen in vielen Lebensbereichen Status zu signalisieren. Beim Autofahren genauso wie beim Gang. Männer waren früher als Jäger unterwegs, und ein kräftiger, schneller Schritt verhalf nicht nur zu besserer Beute, er signalisierte auch Agilität, Gesundheit und Macht. Das gilt bis heute: je höher der soziale Status, desto ausladender und zügiger der Schritt. Ganz oben in der Hierarchie gilt der Zusammenhang übrigens nicht mehr: Päpste, Könige, Popstars schreiten. Die können es sich schon wieder leisten, langsam zu gehen, um entsprechend wahrgenommen zu werden.

Und die Frauen?

Für Frauen hat wahrscheinlich schon in der Evolution das Sozialverhalten eine größere Rolle gespielt. Das gemeinsame Aufziehen der Kinder, die sozialen Beziehungen in der Gruppe waren möglicherweise wichtiger als die individuelle Mobilität beim Sichern der Reviergrenzen. Weiblicher Status lässt sich aus ihrer Gehgeschwindigkeit nicht ablesen. Frauen inszenieren ihren Schritt anders als Männer. Sie werben für sich eher durch die Rundheit der Bewegungen – der Mann wirbt durch seinen durchgreifenden Schritt.

Die Gehgeschwindigkeit hängt aber doch auch von den aktuellen Umständen ab. Wer Zeit hat, geht langsamer als derjenige, der seinen Terminkalender im Kopf hat.

Es mag merkwürdig klingen, aber davon ist die Schrittgeschwindigkeit am wenigsten abhängig. Aber man kann zum Beispiel sagen: je gesünder die Wirtschaft eines Ortes, desto höher sein Tempo.
Schon die Sozialforscherin Marie Jahoda hat 1933 in der Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal“ an einem kleinen Fabrikdorf nahe bei Wien gezeigt, wie gravierend die Beschäftigungsquote das Lebenstempo bestimmt. Als die Firma schließen musste und mehr als Dreiviertel aller Marienthaler plötzlich arbeitslos wurden, hat sich auch das Tempo der Stadt signifikant verlangsamt.
Robert Levine behauptet sogar, dass sich Menschen in individualistischen Kulturen schneller bewegen als in vom Kollektivismus geprägten. Viele Forscher, so sagt er, seien der Überzeugung, dass die Zeitverschwendung eines der Grundleiden war, die schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion führten.
Ich ärgere mich noch heute darüber, dass wir kein Datenmaterial aus der früheren DDR haben. Was hätte man nicht alles untersuchen können: Wie wichtig ist für die Geschwindigkeit die Politik, die Wirtschaft, die Kultur – und umgekehrt? Wie schnell passt sich bei einer Wiedervereinigung der eine Staat dem anderen an? Wird die ehemalige DDR mit zunehmender Arbeitslosigkeit langsamer? Oder schneller, weil auch der Sozialismus verschwindet?

Die Daten hätten Aufschluss über eine spezifische Konstellation gebracht. Ihre Grundsatzforschungen wären damit wohl kaum vorangeschritten.

Doch natürlich, wir wären der Universalgehformel näher gekommen, weil alles so hübsch kompakt nebeneinander liegt. Die Berechnungen sind deshalb so schwierig, weil das System nur multifaktoriell funktioniert. Klima, Gesundheit, Gemüt, Geschlecht, Architektur: Es gibt viele Begründungen, warum ein Mensch schnell oder langsam geht. Und wir wollen letztlich herausfinden, wie viel der einzelne Faktor jeweils ausmacht.

Damit sind wir wieder am Anfang, beim individuellen Erleben des Einzelnen. Aber dann steckt Ihre Forschung doch in der Sackgasse. Wozu also brauchen wir Verhaltensforscher, die sich mit der Zeit beschäftigen?

Durch die zunehmende Urbanisierung wird auch das Zeitproblem immer gravierender: Das Leben wird schneller. Verhaltensforscher haben die Aufgabe, die Entwicklung aufzuzeigen, die eine derartige Zivilisations-Apokalypse nach sich zieht.
Würde jeder sich bei der Suche nach seinem Lebenstempo ähnlich viel Mühe geben wie bei der Jobsuche oder der Partnerwahl, wäre das ein ganz großer, messbarer Erfolg für mehr Lebensqualität. Nur: Wer beschäftigt sich mit einem Phänomen, das banal und gottgegeben scheint? Wir müssen dem Menschen klar machen, wie abhängig er von seiner individuellen Zeitvorstellung und Zeiteinteilung ist. Im Konsum, bei der Arbeit, in seinem gesamten Leben. Und dafür brauchen wir Verhaltensforscher.

Dr. Klaus Atzwanger, 38, studierte Zoologie und Humanbiologie. Sein Doktoratsstudium absolvierte er an der Max-Planck Forschungsstelle für Human-Ethologie in Andechs. Heute arbeitet der Verhaltensforscher bei der EFS Unternehmensberatung und lehrt am Institut für Anthropologie der Universität Wien.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.