Die Einsamkeit der Trolleys

Reisen mögen schön sein und bilden. Für den, der viel unterwegs ist, sind sie nicht selten vor allem ermüdend. Eintönig. Austauschbar. Rüdiger Schmitz-Normann beschreibt die düstere Seite der Mobilität. Zwischenstationen – ein Leben an den Umschlagplätzen der Globalisierung.




Haltlos, ohne Anfang, ohne Ende. Räume, die keine Geschichte haben, keine Identität. Du passt dich an, wirst ihnen immer ähnlicher, verlierst deine Vergangenheit, deine Gegenwart. Du schwimmst in der globalen Mobilität, alles fließt, Staus entstehen, lösen sich auf, dazwischen passiert viel, passiert wenig, das ist dein Leben.

Gratuliere, sagen die anderen, wenn du von deinem Job erzählst, aber was wissen sie denn, sie wissen nichts.

Freitagnachmittag, S-Bahn, in Hallbergmoos leert sich der Zug. Nur noch Geschäftsreisende. Draußen gleitet die Welt vorbei, hinter getönten Scheiben. Am Besucherpark Stahl und Glas und die Autobahn, Endstation Flughafen. Du verlässt die rollenden Stahlkästen, um in einen fliegenden Stahlkasten umzusteigen. Schwarze Anzüge und graue Kostüme verdunkeln den Bahnsteig, drängen die Rolltreppen hoch. Quick-Check-in, Laufbänder, du fühlst den Rhythmus. Auf halbem Weg, verloren, eine Spielecke für Kinder. Handys klingeln. Wann hört sie auf, die Erreichbarkeit?

Sicherheitscheck, wieder ein Stau. Hinein. Der Zeitungsstand, stehen bleiben, und weiter. So fließt Wasser, so laufen Ameisen und Menschenmassen und Informationsströme. Auch das Blut pumpt so durch den Körper, der Herzschlag des Kapitalismus. Du gehörst zum Adel der mobilen Gesellschaft, zückst die Senator Card. Ausweis wovon? Du erkennst die anderen an kleinen Gesten, Darf ich mal?, an Aktenkoffern, am 500er-Pack Aspirin. Und?

Zwischenstationen – das mobile Leben ist nicht mehr ohne Transferräume denkbar. Du weißt nicht mehr, wann sie zu einem festen Teil deines Lebens geworden sind. Flüchtige Orte, zum Durchqueren geplant: Wartehallen, Bahnhöfe, Autobahnkreuze, Tankstellen, Einkaufszentren, Supermärkte. Nicht-Orte nennt der französische Anthropologe Marc Augé diese Transitstellen für die Bewohner des Global village – anonyme Plätze, die nur noch Gegenwart sind. Räume ohne Eigenschaften, ohne Umwelt, Räume des Vorübergehens, die eine Funktion haben – und die sich in dieser Funktion erschöpfen. Autobahnen, Züge, Flughäfen und Hotelketten sind reibungslos arbeitende Durchsatzmaschinen, rational, normiert, überall gleich.

In diesen Brückenköpfen der Globalisierung ist der Weg nicht mehr das Ziel. Es geht nur noch darum, möglichst schnell von A nach B zu kommen. Aber wenn der Weg immer Sinnbild für das Leben war, was ist das Dazwischen dann jetzt? Dein Körper wird transportiert, weil dein Geist anderswo benötigt wird, du hältst still in der Beschleunigung, bewegungslos im Sitz, im Flieger, im Auto, im Zug. Dabei ist das erst der Anfang, die nächste Evolutionsstufe der Mobilität hat bereits begonnen: Vor dem Computer, unterwegs durchs Internet, wird der Körper endgültig nur noch benötigt, um das Gehirn zu durchbluten.

Du willst nur noch nach Hause. Das hier, das ist das Gegenteil von Heimat. Das Auge rutscht ab. Gekachelter Boden, Neonlicht, Fensterwände. Eine Vision: Die Fenster springen auf, ein Windstoß, zerzauste Haare, Unterlagen fliegen weg. Aber nein – hier lassen sich keine Fenster öffnen. Lebenslust? Eine Dusche im Flughafen ist das höchste der Gefühle, drei Pfund kostet das in Heathrow, die Kacheln noch lauwarm vom Vorduscher.

Warten: der alltägliche Alptraum

Natürlich kommt es immer noch schlimmer, Murphy lässt grüßen. Eine Maschine fällt aus, die Frau am Schalter sagt etwas, und sie sagt nichts. Nur wer das Leid kennt, kennt auch das Glück. Der alltägliche Alptraum: Die Zeit verrinnt, nichts geschieht, so sinnlos. Die Einsamkeit der Trolleys. Und es gibt nichts, womit du es beeinflussen kannst. Die Vielflieger-Gelassenheit beginnt zu bröckeln. Die Zeit dehnt sich, unendlich, nach zehn Minuten möchtest du schreien, das Leben läuft weg da draußen, du bist gefangen in der Zwischenstation.

Du erinnerst dich an dieses Interview in Paris, nachmittags um drei. Der erste Flieger um neun fiel wegen Sturm aus, der zweite um zehn auch. Der nächste ging erst um zwei. Für den Thalys war es zu spät. Also warten, zum Mittagessen eingeschweißte Sandwiches und Tomatensaft, hasten durch Aéroport Charles de Gaulle, dieses architektonische Wunderwerk von Paul Andreu, mit dem Taxi in die Stadt, Stau, Guten Tag Frau Hite, da war es 16 Uhr. Ein Händeschütteln für den Fotografen, und nach zehn Minuten wieder zum Flughafen, um den letzten Flieger zurück nicht zu verpassen. Der natürlich anderthalb Stunden Verspätung hatte. Jeder kennt solche Geschichten.

Alles halb so schlimm, sagen Psychologen und Zeitforscher. Ein Fünftel des Lebens, schätzen Soziologen, besteht aus Warten. Sie reden es zur unverhofften Auszeit schön. Lesen Sie ein Buch, sagen sie, machen Sie Ihre Spesenabrechnung, lernen Sie Entschleunigung. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung erstellt seit kurzem Delaytainment-Konzepte, um bei zunehmendem Verkehrsaufkommen den Passagieren beizubringen, dass Warten Spaß machen kann: mit zusätzlichen Steckdosen, speziellem Catering und Entspannungssesseln. Ob Wissenschaftler auch reisen?

Eine Bar am Eck vielleicht

„Menschen in Hotels sind einsam, sie sind immer nur zu Gast, ewige Vertreter, die jeder Kunde hasst.“ Das hat einer gesungen, der in seinem Leben zu viele Hotels gesehen hat, Udo Lindenberg. Filmstars und Musiker lassen ihre Suiten mit persönlichen Möbelstücken einrichten und fordern die gewohnten Säfte und Wasser. Dein Gesicht ist am Ende des Tages teigig von zu viel Klimaanlage, das Schuhausziehen ist der erste Glücksmoment des Tages. Die teuren Hotels sind konturlos, in den billigen liegen noch fremde Haare auf den Laken, die gehobene Mittelklasse ist aus der Designabteilung des Baumarktes eingerichtet, matter Stahl mit Goldspitzen, und dieser Geruch in deinem Zimmer ist von den Vormietern, gute Nacht.

Wo willst du auch hin in dieser fremden Stadt? In eine Bar am Eck vielleicht, müde von der Arbeit, zwei Leute drin, du trinkst ein Bier, so sieht ein gelungener Abend aus. Die Städte kühlen auch nachts nicht mehr ab. Hinter erleuchteten Fenstern leben sie ihr Leben. Eine Frau, die lacht, Kinder, die ein Buch lesen. Wie ist der Geschmack von Wasser, wie hört sich der Wind an, dringt der Regen in die Haut ein? Die Stimme deines Sohnes am Telefon klingt so erwachsen. Wem wünscht man ein solches Leben, dir wird die Zeit gestohlen wie im Gefängnis, aber du machst es freiwillig, so wie alle, warum?

Der Kopf-Kokon

Die Sonne geht unter, du verlässt die Stadt. Die Autotür schlägt zu, und die Welt bleibt draußen. Die Klimaanlage hält die Hitze fern und die Scheiben den Lärm. Menschen sitzen in Straßencafés, du sitzt am Steuer, durchmisst das Land. Der Wagen zieht über die Autobahn, fahren, Gas geben, überholen, nichts anderes zu tun, egal. Großtankstellen im Neonlicht, sie haben idyllische Namen wie Moselblick oder Tecklenburger Land. Ein Kaffee aus dem Getränkeautomat und dazu ein Snack, wortlos, Monitore der Überwachungskameras hinter der Kasse, auf dem Kassenbon steht Danke schön.

Nachts ist die Einsamkeit am größten. Wer einmal nach Mitternacht in Frankfurt auf einen Zug warten musste, der hat einen Blick in die Vorhölle geworfen. Da entleert einer seine Nase über dem Papierkorb, in den Warteräumen suchen Penner nach Wärme. Das Hoffen auf Muße, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Die Künstlerin Jennie Pineus hat im letzten Jahr mit einem Kopf-Kokon Aufsehen erregt, einem Sack, der über den Kopf gestülpt wird, um sich „vorübergehend vom Fluss der Dinge abzukoppeln“ – ein letzter persönlicher Raum, die Sehnsucht nach Zuhause in einer Welt der Nicht-Orte, da hat keiner drüber gelacht.

Der Mensch verschwindet

Von der Auswanderung aus dem Paradies bis zum Beginn der mobilen Gesellschaft, von der Postkutsche bis zu Hochgeschwindigkeitszügen hat der Mensch den gesamten Globus erobert. Von den ersten Krabbelversuchen an erschließt er sich die Welt. Unser Planet wird kleiner, wir queren ihn mit Autos, Zügen, Düsenjets. Zwischenstationen werden zu Umschlagplätzen des kollektiven Bewusstseins. Doch trotz der Geschwindigkeit stehen wir nicht am Ende, sondern erst am Anfang der Entwicklung. Je schneller wir werden, desto bewegungsloser verharren wir. Früher sind wir gelaufen und geritten, heute sitzen wir festgeschnallt im Auto oder im Flugzeug. Die nächste Stufe der Evolution, eine konsequente Weiterentwicklung, findet im Internet statt. Die Mobilität wird virtuell. Der Mensch, so scheint es, er verschwindet ganz, löst sich auf in diesem ortlosen Ort, der kein Zentrum hat und nur aus Peripherie besteht. Er wird Bestandteil des erdumspannenden Rauschens.

Deine Söhne, fahl

Schließlich wird der nächste Flug abgesagt, und das war der letzte. Handys werden gezückt. Einige schlafen im Flughafenhotel. Der Großteil der schwarz-weiß gekleideten Masse wälzt sich zurück zur S-Bahn, zurück in die Stadt. Im Zug bekommst du das letzte Schlafabteil, teilst es mit einem, der gerade aus Asien zurückkommt. Er hat einen Koffer voller antiker Rolex-Uhren dabei, will dir eine verkaufen, ein kleines Abenteuer in einer Nacht ohne Schlaf. Das Leben besteht aus Geschichten, und die Geschichten schreiben das Glück, oder das Unglück, und wer viele davon erlebt, lebt ein erfülltes Leben.

Morgens um fünf steigst du ins Taxi, deine Familie schläft noch. Auch die Liebe, sie wird schwerer zu fühlen. Deine Söhne, fahl. Und am Montag musst du wieder los.

Diese Zeit geht vorbei. Unser Gehirn ist nicht ohne Grund so konstruiert, dass die fahlen Tage und Wochen in der Erinnerung zusammenschmelzen zu einem einzigen grauen Moment – während die Augenblicke des Glücks leuchten und alles andere überlagern. Das ist dein Leben, es passiert wenig, es passiert viel, Staus entstehen, lösen sich auf. Alles fließt, ohne Anfang, ohne Ende, haltlos ...


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.