Runde Sache

Die Hamburger Architekten von Gerkan, Marg und Partner (GMP) entwerfen seit Jahrzehnten Flughäfen, Bahnhöfe, Messehallen, Museen und Stadien. Nun bauen sie eine ganze Stadt für 800.000 Menschen. Ein Logistikprojekt der besonderen Art.




Gibt es die ideale Stadt? Die Frage ist uralt und bisher höchstens theoretisch beantwortet. Malerische, aufregende, lebenswerte Städte gibt es zwar viele, doch perfekt ist keine: Die Antike schwärmte von Alexandria und Rom, aber ihre Schönheit war nur einer kleinen Oberschicht vorbehalten. Heute gelten Paris und New York als Leitstädte der Moderne, doch auch deren kosmopolitisches Vibrieren hat seine Kehrseite in Form von Staus, Smog und trostlosen Vorstadtgürteln, in denen die Kulturen nicht verschmelzen, sondern Funken schlagen. Viele Menschen leben deshalb lieber in Kleinstädten, wo die Wege kurz, die Gemeinschaften vertraut und Naherholungsgebiete – der Name sagt es – nah sind. Provinzielle Lange- weile ist meist der Preis dafür. Könnte man die Dynamik von New York mit dem Pariser Charme auf die Größe von Bad Segeberg reduzieren und ins Grüne setzen, käme man der idealen Stadt vielleicht näher. Aber diese Vorstellung ist wohl nicht einmal als Utopie glaubwürdig.

Leben in der Stadt – ein Geflecht aus tausenden von Abläufen

Und doch ist genau das der Maßstab, an dem Meinhard von Gerkan eines Tages gemessen werden wird. Er hat es so gewollt. 2002 beteiligte sich der Hamburger Architekt in China an einem Wettbewerb, wie er in den vergangenen hundert Jahren weltweit nur viermal ausgeschrieben wurde: für den Bau einer Stadt. Nicht nur einen Vorort oder Industriebezirk galt es zu planen, sondern eine eigenständige 800.000-Menschen-Metropole mit allem Drum und Dran: Büros, Schulen, Krankenhäusern, Museen, Parks, Verwaltung, Universitäten und öffentlichem Verkehr. Gut vier Monate arbeitete von Gerkan mit einem Team aus Architekten sowie Experten für Verkehrs-, Wasser- und Hafenplanung an seinem Entwurf. Und gewann. 

Seit 2003 werden seine Pläne 60 Kilometer außerhalb von Schanghai von tausenden Arbeitern umgesetzt. Weil die Zahl der Menschen in der Region rund um Chinas Boom-Metropole bis 2020 von derzeit 13 Millionen auf 20 Millionen wachsen dürfte, will die Regierung rechtzeitig genügend Stadtfläche schaffen. In zehn bis fünfzehn Jahren soll die „Lingang New City“, die „Neue Stadt am Hafen“ vollständig bewohnt sein – und dann wird sich zeigen, ob der 71-Jährige und sein Team aus Jahrtausenden menschlicher Siedlungsgeschichte die richtigen Schlüsse gezogen haben. Ihr Anspruch ist hoch: Sie wollen den Spagat schaffen zwischen großstädtischer Dynamik und kleinstädtischer Lebensqualität. „Die Stadt muss ein pulsierender Organismus sein“, wünscht sich von Gerkan, „mit kurzen Wegen, die man zu Fuß oder mit der Bahn zurücklegen kann.“

Eine Vision, die nur dann Realität wird, wenn die Architekten alle Abläufe im täglichen Leben der 800.000 Einwohner richtig vorausgesehen haben. Eine logistische Mammutplanung. Denn das Stadtleben ist ein Geflecht tausender voneinander abhängiger Abläufe. Dass der Mensch heute nicht mehr wie seine Steinzeit-Vorfahren sein unmittelbares Überleben organisieren muss, weil er bequem mit Auto oder Bus zur Arbeit fährt, weil Mülltonnen geleert und Toiletten gespült werden, weil Lebensmittel im Laden um die Ecke verfügbar sind, weil Wasser aus dem Hahn und Strom aus der Steckdose kommt – all das ist Logistik. Und all das will beim Stadtbau bedacht sein.

Die Bereitstellung von genügend Wohnhäusern, Büros, Kindergärten, Schulen, Einkaufszentren, Krankenhäuser, Gemeindeeinrichtungen, Ämtern, Kanalisation und Telefonleitungen ist dabei noch das geringste Problem. Weitaus schwieriger ist die Frage, wie sich die Menschen in ihrer Stadt bewegen: Wie weit wird ihr Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen sein? 

Wie viele von ihnen werden mit dem Auto fahren, die Straßenbahn nehmen oder zu Fuß gehen? Wie breit müssen also Straßen und Gehsteige sein; in welchem Takt soll die Stadtbahn fahren, und wie viele Parkplätze oder Parkhäuser werden gebraucht? Was muss man heute tun, damit Menschen in zwanzig Jahren ihr Auto stehen lassen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen?

Selbst wenn alle diese Fragen schlüssig beantwortet wären, hätte von Gerkan sein Ziel noch nicht erreicht. Den feinen Unterschied zwischen einer Stadt, in der Menschen gut leben können, und einer, in der sie gern leben, macht die Ästhetik: Die Straßen sollen den Verkehr gut bewältigen, sich aber nicht wie unüberwindbare Betonschleifen durchs Stadtbild fräsen. Wege sollen kurz sein, aber nicht um den Preis, dass die Menschen dicht gedrängt in anonymen Wohnsilos leben. All das sind Probleme, für die von Gerkan Lösungen braucht, die so überzeugend daherkommen, dass sich kein Bewohner je fragt, ob man dies oder jenes nicht hätte besser planen können. Über Geschmack soll in Lingang nicht gestritten werden.

Große Aufgaben, die das Architekten-Team allerdings nicht allein und auch nicht von null bewältigen muss. Zum einen ist die moderne Stadtplanung eine logistische Wissenschaft, die praktische Erfahrungen seit Jahrzehnten in Konzepte, Normen und Formeln gießt und Instrumente entwickelt hat, mit denen sich komplexe Abläufe simulieren lassen. Zum anderen ist von Gerkan seit Jahrzehnten darauf spezialisiert, Architektur um große Menschenmengen und anspruchsvolle Logistik herumzubauen. Das Büro „von Gerkan, Marg und Partner“ (GMP), das er 1965 zusammen mit seinem Kommilitonen Volkwin Marg gründete, hat mittlerweile mehr als 200 Großprojekte verwirklicht, darunter Flughäfen, Bahnhöfe, Einkaufszentren, Messehallen, Stadien, Bibliotheken und mehrere Stadtteilplanungen.

Auch wenn die Planung einer Stadt ungleich größer ist als die eines ein- zelnen Gebäudes, ist der Prozess prinzipiell doch ähnlich: eine Mischung aus gesundem Menschenverstand, sorgfältiger Grundlagenforschung, minutiöser Detailarbeit und ästhetischem Raumgefühl. „Am Anfang steht ein gestalterisches Gesamtkonzept mit der grundsätzlichen Strategie für die Organisation der Abläufe“, erklärt von Gerkan „davon ausgehend wird der Plan dann Schritt für Schritt immer feiner ausgearbeitet.“

Für den Grundgedanken Lingangs griff von Gerkan auf zwei Ikonen der Stadtplanungsgeschichte zurück: Platon und Le Corbusier. Deren Vorstellungen von einer idealen Stadtanlage könnten allerdings kaum unterschiedlicher sein: Der griechische Philosoph träumte von einem runden Grundriss, der von einem Mittelpunkt strahlenförmig in alle Richtungen ausgeht. Zwölf Stadtteile sollten wie Kuchenstücke abgeteilt und von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen bewohnt werden; im Zentrum würden alle Menschen zusammenkommen. Für die Gesellschaften der Antike könnte das funktioniert haben, doch als rund 2400 Jahre später der französische Architekt Le Corbusier (1887 – 1965) zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Frage nachging, wie man in den Großstädten des Industrialisierungszeitalters mehr Lebensqualität schaffen könnte, waren gerade die Stadtzentren zum Problem geworden. Dass alles Leben sich zur Mitte hin ausrichtete, führte zu Verkehrschaos, Umweltverschmutzung, winzigen Wohnflächen und hohen Lebenshaltungskosten – eine „Stadtmittelpunktkrankheit“, die Le Corbusier durch die Trennung verschiedener Stadtfunktionen wie Wohnen, Arbeiten und Erholen zu heilen versuchte.

Perfekte Logistik-Planung am Reißbrett – und in der Realität?

Von Gerkan versucht die Synthese aus Platon und Le Corbusier: eine runde Stadt ohne Zentrum. Für den Grundriss inspirierte ihn ein Tropfen, der auf einer Wasseroberfläche konzentrische Kreise hervorruft. Im Zentrum der Stadt liegt ein riesiger See, kreisrund, mit 2,5 Kilometer Durchmesser und einer acht Kilometer langen Uferpromenade. Drum herum entfalten sich ringförmig die verschiedenen Stadtfunktionen: innen Büros, Einkaufszentren und Entertainment; darum ein Parkgürtel, in dem die öffentlichen Einrichtungen untergebracht sind, und außen die Wohnbezirke, eingeteilt in Einzelsiedlungen für jeweils 13.000 Menschen.

Logistisch ist das eine äußerst vorteilhafte Anlage, glaubt von Gerkan. „Alle Stadtfunktionen sind von außen nach innen schnell zu erreichen“, sagt er, „und trotzdem ergibt sich in der Mitte kein überfülltes Zentrum, sondern ein offener Platz zum Flanieren und Erholen.“ Der Autoverkehr lässt sich durch die Kreisform gut leiten: Drei Ringstraßen sollen rund um die Stadt führen, und das Verkehrsaufkommen dürfte Richtung Zentrum immer weiter abnehmen, weil die Bewohner gut zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln in ihre Büros oder an den See gelangen können. Um die Promenade soll eine Straßenbahn fahren, und auf drei Inseln sollen Vergnügungsangebote wie Museen und Theater entstehen.

Damit diese Reißbrettlogik auch in der Realität funktioniert, muss jedes Detail sorgfältig durchdacht sein. „Wenn es auch nur an einer Stelle zu einem Engpass kommt, fällt die ganze Planung in sich zusammen“, sagt Architektin Annika Schröder, die das Projekt mit geplant hat und heute im Schanghaier GMP-Büro die Bauherren bei der Umsetzung berät. „Dabei waren die Angaben, die wir zu Beginn der Ausschreibung bekommen haben, eher spärlich.“ Eine Stadt für 300.000 Menschen, hieß die Anforderung zunächst. Doch schon während der Planung wurde die Zahl den neuesten Hochrechnungen für das Bevölkerungswachstum in der Region Schanghai angepasst und auf 800.000 erhöht. Was das bedeutete, mussten die Architekten selbst herausfinden. Zunächst versuchten sie, die Zahl mithilfe demografischer Daten in einzelne Bevölkerungsgruppen zu zerlegen: Zwei Prozent der Bewohner würden in Kindertagesstätten gehen, schätzten sie, 4,2 Prozent in Kindergärten, 7,4 Prozent in Grundschulen, 6,5 Prozent in weiterführende Schulen und so weiter.

Aus diesen Annahmen ließen sich Rückschlüsse auf den Bedarf an städtischer Infrastruktur ziehen. Als Grundlage dafür nahmen sie die in Deutschland geltenden Städtebauvorgaben. Denn dort sind über die Jahrzehnte in einer Mischung aus Erfahrungswerten und Idealvorstellungen alle Aspekte des Bauens vermessen, genormt und mit Formeln niedergelegt worden. So nimmt der deutsche Planer beispielsweise für Familienwohnungen in Mietshäusern eine Fläche von 23 bis 30 Quadratmetern pro Bewohner als Standard an; bei Eigenheimen kalkuliert er mit 30 bis 40 Quadratmetern. Im Einzugsbereich von 2000 bis 3000 Menschen sollte ein Kindergarten liegen, in dem jedem Kind 20 bis 25 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Eine zweizügige Grundschule kommt auf 4000 Einwohner, ein Gymnasium auf 20.000 bis 40.000.

Die nötigen Straßen richten sich nach der Wohndichte: Wo nur 100 Menschen pro Hektar leben – wie auf dem Dorf –, genügen pro Person 13 Quadratmeter Wegfläche; in einer Stadt mit viermal höherer Dichte kommen auf jeden Menschen vier Straßenquadratmeter – all das berechnet am deutschen Autoaufkommen von 517 Pkw pro 1000 Menschen. Vergleichbare Kennwerte gibt es für Spielplätze, Sammelgaragen, Krankenhäuser, Altenheime, Sportplätze, Grünflächen, Gaststätten oder die Kanalisation.

Doch aus einer Rechnung mit tausend bekannten Faktoren ergibt sich noch lange keine Stadtplanungsformel mit eindeutiger Lösung. Die Architekten kalkulierten bei ihrer Planung deshalb mit verschiedensten Methoden: Sie recherchierten in deutschen Vergleichstädten, darunter Hamburg, das mit der Alster auch von einem See im Zentrum geprägt ist, oder Bonn und Braunschweig, die mit Köln und Hannover ähnlich von der Existenz naher Großstädte abhängen wie Lingang von Schanghai. Sie beauftragten Fachplaner, um mit Computermodellen etwa den künftigen Verkehrsfluss zu simulieren und daraus die nötigen Straßenbreiten, Parkflächen und öffentlichen Verkehrsmittel abzuleiten. Und sie suchten ästhetische Vorbilder, um Ideen für Größe und Stil der Gebäude zu bekommen.

Das Ergebnis dieses Prozesses war ein detaillierter Masterplan für die Nutzung einer 74 Quadratkilometer großen Stadtfläche, den GMP den Bauherren, der Schanghaier Stadtregierung, 2003 vorstellte – zusammen mit Zeichnungen, Modellen und Animationen. Auch ein australisches und ein italienisches Büro präsentierten ihre Visionen von Lingang. „Zum Abschluss des Wettbewerbs gab es ein Bankett“, erinnert sich von Gerkan, „und als mir der Platz neben dem Bauherrn zugewiesen wurde, wusste ich, dass wir gewonnen hatten.“ Die Umsetzung liegt seitdem in der Hand eines staatlichen Unternehmens der Stadt Schanghai; die Deutschen sind nur noch beratend tätig.

Das ist Arbeit genug. Denn wie immer beim Bau endet die Planung nicht, wenn der letzte Strich gezeichnet, sondern erst wenn der letzte Stein gesetzt ist – frühestens. Seit zweieinhalb Jahren wird in Lingang gearbeitet. Mehr als die Hälfte der Stadtfläche wurde zunächst aufgeschüttet. Wo heute der runde See liegt, war kürzlich noch Meer; die Küste ist jetzt zwei Kilometer entfernt. An der Seepromenade sind schon Palmen und Stiefmütterchenrabatten gepflanzt, und auf der inneren Rundstraße schalten die Ampeln, obwohl hier nur eine Hand voll Bauwagen und Besucherbusse fahren. Ein Besucherzentrum und ein paar Bürohäuser für die Baufirmen sind bislang die einzigen richtigen Gebäude: Nachdem die Stadt die Basis-Infrastruktur entwickelt hat, sollen die Wohn- und Bürogebäude nun von privaten Investoren gebaut werden. Um die noch gähnende Leere zu übertünchen, sind die temporären Hütten der Arbeiter zur Straße hin mit Hausattrappen verdeckt. Über die Höhe der bisherigen und angestrebten Investitionen schweigen die Bauherren sich aus.

Deutsche Normen – chinesische Normen

Doch erst jetzt, wo die Stadt Formen annimmt, beschäftigen sich die Bauherren mit den Details der Planung und vergleichen sie mit den chinesischen Standards. Nicht immer zur Freude der Architekten. So decken sich etwa die deutschen Baunormen nur selten mit den chinesischen. In Schanghai, einer Stadt mit rund 13 Millionen Einwohnern und 5000 Hochhäusern, die mehr als 18 Stockwerke hoch sind, herrschen andere Raumvorstellungen als in Bonn oder Hamburg: Durch die hohe Bevölkerungsdichte wird nicht im Einzugsbereich von 2000 bis 3000 Einwohnern ein Kindergarten gebaut, sondern einer pro 10.000; die Raumfläche pro Person ist entsprechend kleiner. Würde man aber in Lingang, wo die Gebäude wenige Geschosse haben sollen, 10.000 Bewohnern nur einen Kindergarten zuweisen, wären die Wege ungleich weiter als geplant. „In solchen Fällen versuchen wir, Überzeugungsarbeit zu leisten und zu zeigen, dass unsere Planung zu einer höheren Lebensqualität führt“, sagt Schröder. Das ist nicht immer leicht. Denn die Chinesen haben nicht nur andere Städtebaunormen, sie haben auch andere Lebensgewohnheiten als die Deutschen. So versuchte GMP bei seiner Planung etwa, die Fußgänger in den Mittelpunkt zu rücken und den Autoverkehr in der Innenstadt möglichst gering zu halten. In China ist der eigene Wagen jedoch Statussymbol Nummer eins, jeder will zeigen, was er hat. Also wurde die Straße um den See von den Bauherren kurzerhand um mehrere Spuren erweitert, die Straßenbahn gestrichen. Die GMP-Planer mussten schwer schlucken – und plädieren jetzt im Innenstadtring für eine Busspur, die sich später mit einer Straßenbahntrasse ausbauen ließe. Sie sind überzeugt, dass die neureiche Autobegeisterung vor Ort eines Tages abebben und man den Deutschen dann für ihre vorausschauende Planung noch dankbar sein wird.

Privatinvestoren – Hilfe zur Identitätsstiftung

„So sorgfältig man auch plant – es bleiben immer Unsicherheitsfaktoren“, erklärt von Gerkan. „Wir können zum Beispiel nur hoffen, dass die Stadt tatsächlich von den Menschen angenommen wird, für die wir sie planen – einer kaufkräftigen Mittelschicht.“ Davon hängt viel ab: die Zahl der Autos, die Art der Wohnungen, das Freizeitangebot oder die Steuereinnahmen, mit denen die Stadt öffentliche Einrichtungen betreiben kann. Um die Besiedlung anzuschieben, werden derzeit Gebäude für die Verlegung der Schanghaier Universitäten für Seefahrt und Fischereiwesen nach Lingang gebaut, die nächstes Jahr bezugsreif sein sollen. Wie schnell aus dem kargen Aufschüttungsgelände dann eine Stadt wird, hängt trotzdem vor allem von privaten Investoren ab.

Damit Lingang keine anonyme Entwicklungszone wird, sondern eine Metropole mit Identität, will von Gerkan seiner Stadt einen Sinn stiften- den Mittelpunkt geben. Im Zentrum des Sees soll sich aus dem Wasser ein 300 Meter hoher Turm mit einer Nebelmaschine erheben. „Lingang ist aus einem Tropfen geboren“, sagt der Architekt, „und so hinge immer eine Wolke über der Stadt, aus der neue Tropfen fallen, aus denen sich Lingang ständig erneuert.“ Durch einen Tunnel sollen Besucher unter Wasser in einen gläsernen Lift steigen und durch die Wolke hindurch bis an die Turmspitze fahren, von wo sie die Stadt zu ihren Füßen bewundern können.

Am Anfang waren die Bauherren von der Wolkennadel begeistert, inzwischen sind sie sich nicht mehr so sicher, was sie von dem Metapher-Turm halten sollen. Die endgültige Entscheidung für den Bau ist noch nicht gefallen. Sollten sich die Chinesen doch noch dagegen entscheiden, wäre das für von Gerkan wohl eine bittere Enttäuschung. Schließlich steht nicht nur sein Lebenswerk auf dem Spiel, sondern auch der Schlussstrich unter die Stadtbaugeschichte – die ideale Stadt.

GMP – Architektur und Logistik

Schon mit seinem ersten großen Projekt bewies das Büro Gerkan, Marg und Partner (GMP) logistische Innovationskraft. Frisch von der Uni beteiligten sich die Jungarchitekten am Wettbewerb für den Flughafen Berlin-Tegel – und bekamen prompt den Zuschlag. Ihr Plan war ein Lehrstück an Kundenfreundlichkeit. Durch dezentralisierte Logistikabläufe minimierten sie die Wege, die Passagiere, Personal und Gepäck zurücklegen müssen. Ein Prinzip wie beim Gugelhupf: Jede Flugabwicklung findet innerhalb eines schmalen Kuchenstückes statt.

Auf der Innenseite des ringförmig (genau genommen sechseckig) gebauten Gebäudes befinden sich die Parkplätze und Straßen. Wer sich mit dem Auto bringen lässt, kann direkt vor der Tür aussteigen, die zu seinem Check-in-Schalter führt. Daneben gelangt der Passagier durch eine Pass- und Sicherheitskontrolle zum Gate und weiter zum Flugzeugzubringer auf der Außenseite des Ringes. Weil das Kuchenstück außen breiter ist als innen, passt neben jedes Gate ein Gepäckband, so dass ankommende Passagiere beim Verlassen des Flugzeugs gleich auf ihre Koffer stoßen und sich wenige Schritte weiter mit dem Auto abholen lassen können. Auch für den Flughafenbetreiber ist die Anlage praktisch: Gepäck und Personal müssen nur kurze Wege zurücklegen. Das Risiko, dass die vielen verschiedenen Abläufe sich verheddern, weil etwa eine Ladung Gepäck in der falschen Maschine landet, ist weitgehend minimiert.

Der Tegel-Ring setzte GMP auf die deutsche Architekturlandkarte. Es sollte nicht der letzte Flughafen sein, den das Büro verwirklichte. Doch das Gugelhupfprinzip kam nach Tegel nie wieder zum Einsatz. „Die Passagierzahlen sind in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen, und die Anforderungen an Flughafen-Logistik haben sich grundlegend verändert“, erklärt GMP-Partner Jürgen Hillmer, der für das Büro unter anderem das Terminal 3 in Stuttgart sowie den Flughafen Hamburg mit gebaut hat. Nicht nur lässt sich der Ring nicht für beliebig viele Flugzeuge ausdehnen. Viel wichtiger: Dezentralisierte Abläufe sind nicht mehr gefragt. Denn Tegels Kundenfreundlichkeit hat den Preis eines gewaltigen Personalaufwands. Jeder Flug benötigt eigene Check-in- Schalter, Sicherheitsschleusen, Gepäcktransport und gegebenenfalls Pass- und Zollkontrollen. Viel effizienter und flexibler ist es, diese Funktionen zu bündeln. Moderne Technik hilft dabei, etwa wenn es darum geht, Koffer zuverlässig im richtigen Flugzeug zu verstauen. Auch kurze Wege für Passagiere sind nicht mehr gefragt. „Flughäfen sind heute weitaus mehr als Ein- und Aussteigestationen für den Flugverkehr“, so Hillmer. Stattdessen vermarkten die Betreiber sie als Erlebniszentren mit einem vielfältigen Shopping- und Restaurant-Angebot. Fluggäste und ihre Begleiter sollen auf dem Weg vom Auto zum Flieger deshalb an möglichst vielen Schaufenstern vorbeigeleitet und zum Konsum verführt werden. Für Hillmer eine Herausforderung: „Dem Geschick des Architekten ist es überlassen, dass die Passagiere dies nicht als Belastung, sondern als Bereicherung empfinden.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.