Mankind's Greatest Hospital

Das Massachusetts General Hospital in Boston, die Charité in Berlin – zwei Krankenhäuser mit glänzender Vergangenheit. Einst lernten die Bostoner von den weltberühmten Berliner Ärzten. Heute kann sich für die Deutschen der Blick in die Neue Welt lohnen – auf der Suche nach einem Vorbild für die Zukunft akademischer Kliniken.




Beide sind Ikonen der Medizin mit einer Historie, die Jahrhunderte zurückreicht. Beide haben eine Fusion hinter sich, machen rund eine Milliarde Euro Umsatz und zählen zu den größten Arbeitgebern ihrer Stadt. Trotz Tausender Kilometer Distanz und unterschiedlicher Gesundheitssysteme stehen sich das Massachusetts General Hospital (MGH) in Boston und die Berliner Charité erstaunlich nah. Einst schien das Renommee der 1710 gegründeten Charité, des späteren Lehrkrankenhauses der Berliner Universität Humboldt’scher Prägung, für die Bostoner unerreichbar. Heute nimmt sich Charité-Vorstandschef Detlev Ganten die US-Klinik zum Vorbild. Denn das MGH steht bereits für das, was Ganten in Berlin noch etablieren will und muss: Hochschulmedizin mit unternehmerischer Ausrichtung.

Zu diesem Ziel gehört auch ein neuer Begriff von effizienter Gesundheitsversorgung. Während die Berliner mit 2417 Ärzten 3240 Betten betreiben und 123.000 Patienten pro Jahr stationär sowie 900.000 ambulant versorgen, schafft das MGH mit 3557 Medizinern rund 60.000 stationäre und 1,4 Millionen ambulante Patienten bei nur knapp 900 Betten. In der Charité liegt ein Patient durchschnittlich 7,6 Tage auf der Station, in Boston kann er fast zwei Tage früher nach Hause. Insgesamt beschäftigen die Amerikaner mit 19.500 Mitarbeitern gut 5000 Menschen mehr als die Berliner Kollegen (14.400) – und sind trotzdem – anders als die Deutschen, die Verluste schreiben – hochprofitabel.

Auch das MGH musste hart für den Erfolg kämpfen

Hinter der Effizienz der Amerikaner stehen Entwicklungen, mit denen auch deutsche Krankenhäuser heute konfrontiert sind. Und genau wie hierzulande liefen und laufen die Wandlungsprozesse auch in den USA nicht reibungslos ab. Die Modernisierung eines Klinikums gelingt oft nur gegen innere Widerstände und unter schwierigen äußeren Bedingungen.

Die US-Klinik hat aus wirtschaftlichen Zwängen heraus einen erfolgreichen Fusionsprozess hinter sich gebracht. Und was die Charité gerade erst in Angriff genommen hat, ist am MGH schon seit Jahren Realität: ein Netzwerk aus Hochleistungsklinik, Vor- und Nachsorge-Institutionen sowie ländlichen Krankenhäusern. Mit dieser Strategie sichern die Bostoner die flächendeckende medizinische Versorgung der Bevölkerung und können teure Therapien sowie die Behandlung nicht versicherter Patienten durch gut bezahlte Fälle gegenfinanzieren. Gutes Geld verdienen die Amerikaner mittlerweile auch mit dem 1983 eingeführten Abrechnungssystem der Diagnosis Related Groups (DRG), das in deutschen Krankenhäusern erst seit 2003 in Etappen umgesetzt wird. Am MGH wird Kostenmanagement heute als Basis guter medizinischer Versorgung angesehen. Unterm Strich steht bei der Non-Profit-Klinik, die nicht primär auf Gewinne ausgerichtet ist, in den vergangenen beiden Jahren ein durchschnittlicher Überschuss von jeweils rund 200 Millionen Dollar, der für Investitionen in neue Verfahren und Kapazitäten verwendet wird. Zu der Summe trugen 2005 nicht zuletzt Erlöse in Höhe von knapp 100 Millionen Dollar bei, die mit Patenten aus der hauseigenen Forschung erzielt wurden. Die Charité rechnet bis 2010 mit einer Finanzierungslücke von 266 Millionen Euro, falls die Klinik keine wirksamen Gegenmaßnahmen findet.

Der Mann, der den unternehmerischen Geist des MGH verkörpert, residiert im ältesten und geschichtsträchtigsten Gebäude des Hospitals. Peter Slavins Büro befindet sich im Ether Dome, in dessen vergoldeter Kuppel noch immer der Hörsaal zu besichtigen ist, in dem die weltweit erste öffentliche Operation mit Äther-Betäubung stattgefunden hat. Slavin ist der Präsident von „Mankind’s Greatest Hospital“, wie das MGH in Boston halb scherzhaft, halb stolz genannt wird. Tatsächlich hat das MassGeneral, so die übliche Abkürzung, eine Reihe von Superlativen zu bieten – von der ersten Röntgenaufnahme in den USA über das erstmalige Annähen eines Armes bis zur Identifizierung diverser Gene, die für Erbkrankheiten verantwortlich sind. Gegründet wurde die Klinik 1811, um vor allem die medizinische Versorgung der Armen zu gewährleisten. Als eines der ersten Lehrkrankenhäuser der medizinischen Fakultät der Harvard University erarbeitete es sich rund um den Globus Ansehen.

Doch mit dem Ruhm geht man in Amerika spätestens dann sehr nüchtern um, wenn es ums Geld geht. Das bekam das MassGeneral Anfang der neunziger Jahre deutlich zu spüren. In den USA handelt jedes Krankenhaus mit den einzelnen Versicherungen individuelle Preise für die Fallkostenerstattung aus. Das nutzten seinerzeit die privaten Krankenversicherungsunternehmen wie Blue Cross Blue Shield, Aetna, Cigna oder United Healthcare weidlich aus und drückten die Preise auf ein – aus Kliniksicht – inakzeptables Niveau. Sie hatten leichtes Spiel: Die verschiedenen Bostoner Krankenhäuser litten unter großen Überkapazitäten und unterboten einander in einem ruinösen Wettbewerb, um zu einem Abschluss mit den Krankenkassen kommen und ihre Betten füllen zu können.

Vereint verhandelt es sich besser

Schärfster Konkurrent des MGH war das Brigham and Women’s Hospital, ebenfalls ein Lehrkrankenhaus der Harvard-Universität, mit entsprechend hoher medizinischer Qualität. Und denselben Finanzproblemen. Um nicht Jahr für Jahr Erlöseinbußen hinnehmen zu müssen und ihre Verhandlungsposition gegenüber den Kassen zu stärken, schlossen sich 1994 beide Häuser zusammen.

Seitdem wacht im 16. Stock des Bostoner Prudential Buildings die Dachorganisation der beiden Kliniken, Partners HealthCare System, über die Entwicklung von MGH und Brigham. Abschlüsse werden nur noch über Partners abgewickelt. „Die Versicherer mussten sich entscheiden: Zusammenarbeit mit allen Häusern der Gruppe oder mit keinem“, sagt Peter Slavin. Partners verlangte von den Versicherungen fortan nicht nur kostendeckende Erlöse für die medizinischen Leistungen, sondern darüber hinaus eine Gewinnmarge. Sie wird für Reinvestitionen in die Organisation verwendet sowie für die Quersubventionierung nicht versicherter Patienten, die Lehrkrankenhäuser per Gesetz umsonst behandeln müssen – in den USA haben rund 45 Millionen Menschen, also etwa 15 Prozent der Bevölkerung, keine Krankenversicherung.

Ein weiterer Grund für den Zusammenschluss war „der Aufbau eines Netzwerks von Community Hospitals“, sagt Thomas Lee, CEO von Partners Community Healthcare, einer Tochter von Partners HealthCare System. Dazu holte die Dachorganisation Krankenhäuser im Norden und Westen der Stadt sowie ein weitverzweigtes Netz niedergelassener Ärzte ins Boot – mittlerweile kontrolliert Partners 20 Prozent des Gesundheitsmarktes im Großraum Boston. „Wir wollen die ganze Bandbreite der medizinischen Behandlung von der Erstversorgung bis zur Rehabilitation anbieten“, sagt Lee. Die Ausweitung hat aber auch einen finanziellen Hintergrund: In den ländlichen Gegenden, die von den Community Hospitals versorgt werden, ist der Anteil der krankenversicherten Patienten höher als in der Stadt, ihre Behandlungen sind aber nicht so kostspielig – beide Faktoren sind bares Geld wert. Denn an den Universitätskliniken wie MGH oder Brigham häufen sich die komplizierten, langwierigen und damit teuren Fälle, deren Behandlungskosten durch die entsprechenden Einnahmen oft nicht vollständig gedeckt werden. Die Erlöse aus den Community Hospitals gleichen diese Defizite aus.

Zusätzliche Mittel akquiriert Partners durch besondere Vereinbarungen mit den Versicherern, die auch der medizinischen Qualität zugute kommen. Gemäß der Devise „Nach der Entlassung ist vor der nächsten Einweisung“ rufen die Krankenhäuser des Partners-Netzwerkes entlassene Patienten zu Hause an, fragen nach ihrem Gesundheitszustand und Lebenswandel, erinnern sie gegebenenfalls daran, ihre Medikamente zu nehmen und empfehlen ambulante Rehabilitationseinrichtungen. „Wir werden finanziell dafür belohnt, dass wir durch unsere Nachsorge die Zahl der Krankenhausbesuche senken“, sagt Lee. Die Versicherer zahlen Partners eine Prämie – konkrete Zahlen nennt Lee nicht –, wenn es gelingt, die Anzahl erneuter Krankenhauseinweisungen zu reduzieren.

Partners schließt mit den Krankenkassen auch Verträge ab, in denen sich der Verbund konkrete Ziele zur Verbesserung von Effizienz und Qualität setzt. Erreicht die Organisation die Vorgaben, zahlt die Kasse eine Belohnung. 90 Millionen Dollar hat Partners auf diese Weise im vergangenen Jahr bekommen – Geld, das auch an die Mitarbeiter weitergereicht wird. Denn ohne deren Kooperationsbereitschaft geht es nicht. „Die Ärzte freuen sich natürlich über die Prämien. Dass sie dafür eingefahrene Gewohnheiten ändern müssen, begeistert sie allerdings weniger“, sagt Lee.

Früher hatte Partners beispielsweise die Entscheidung über den Einsatz neuer, teurer Medikamente allein den Ärzten überlassen. Bis in der Herz-Kreislauf-Abteilung ein neues Produkt verwendet wurde. Dessen positive Wirkung sprach sich schnell herum, anders als der Preis pro Dosis: 10.000 Dollar. „Binnen kurzem verursachte allein das MGH zehn Prozent der Ausgaben für dieses Medikament in den gesamten USA“, sagt Lynne Eickholt, Vizepräsidentin Geschäftsplanung und Marktentwicklung bei Partners. „Mittlerweile empfiehlt ein Expertengremium, wann und wie ein neues Mittel eingesetzt werden soll.“

Auch der Computer assistiert den Ärzten: Hausinterne Sofware-Programme listen den Medizinern die besten und gleichzeitig günstigsten Medikamente auf. Bei Herz-Kreislauf-Patienten mit zu hohem Blutdruck beispielsweise wirken wenige Cent teure ACE-Inhibitoren ebenso gut wie Angiotensin-Rezeptorblocker für zwei bis drei Dollar. Momentan wird diskutiert, ob die Ärzte des Netzwerkes Rezepte ab 2007 nur noch elektronisch ausstellen dürfen statt wie bisher handschriftlich. Diese Maßnahme würde den Verwaltungsaufwand erheblich reduzieren, weil das anschließende Einpflegen ins System überflüssig wäre. Zudem erhöht eine bessere Lesbarkeit die Sicherheit bei der Medikamentenabgabe in der Apotheke. Die Entscheidung sei noch nicht gefallen, sagt Lee – denn Richtlinien wie diese stellen immer auch einen Eingriff in die ärztliche Autorität dar, und darauf reagieren viele Mediziner empfindlich.

Vorbild Industrieproduktion

Es ist Lee wichtig, auf derlei Vorbehalte einzugehen, auch wenn sich Entscheidungen dadurch verzögern. Eine Organisation wie das MGH basiere auf dem „Common Sense“, auf Überzeugungsarbeit statt Anordnungen. Und nur wenn alle mitziehen, rechnet sich das Prinzip auf Dauer für das Unternehmen. Teure Mehrfach-Röntgenuntersuchungen zum Beispiel sind überflüssig geworden, seit fast alle Ärzte von Partners online auf Patientendaten zugreifen können. „Wir haben den Medizinern erklärt, wann sie einen Test brauchen und wann nicht. Unsere Kosten für Röntgenaufnahmen liegen heute rund 20 Prozent unter den sonst üblichen in der Region“, sagt Lee stolz.

Mit solchen allmählichen Veränderungen und Verschlankungen der Prozesse konnten MGH und Brigham letztlich auch die Zahl der Betten reduzieren und den Patienten-Durchlauf erhöhen. Dass die Qualität der Versorgung darunter nicht leiden muss, sei jedoch bei manchen Ärzten noch immer nicht angekommen, glaubt William Huyett, Director bei McKinsey & Company in Boston: „Mediziner und Krankenhausverwaltungen haben zu lange geglaubt, dass hohe Qualität und niedrige Kosten ein unüberwindbarer Gegensatz seien.“ Dabei wenden mittlerweile weltweit alle großen Kliniken Qualitäts- und Prozessverbesserungsprogramme an, die in der Industrie entwickelt wurden. Das Ziel lautet immer, Fehler und Verschwendung zu vermeiden. Um es zu erreichen, werden defekte Produkte und überflüssige Geräte entsorgt, sinnlose Wege und weniger produktive Arbeiten minimiert, parallel dazu sollen Operationssäle, vergleichbar der Produktion in der Industrie, möglichst rund um die Uhr genutzt werden.

Das MGH baut profitable Fachabteilungen aus

Vorgaben wie diese erforderten ein Umdenken, das auch im Partners-Netzwerk noch nicht jeder Arzt vollzogen habe, sagt Lee. Manchmal dauere es, die Zweifler zu überzeugen: „Als 1983 in den USA das DRG-System eingeführt wurde, waren die meisten überzeugt, dass es eine Katastrophe auslösen würde.“ Ähnlich wie in Deutschland fürchteten die Kliniken, dass sich die Bezahlung an unrealistischen Durchschnittswerten orientieren und zu einer drastischen Unterfinanzierung führen würde. Stattdessen merkten die Krankenhäuser, dass sich durch kreative Umstrukturierung der Arbeit mit den DRG richtig Geld verdienen lässt: Wenn die Kosten einer Therapie durch gute Organisation der Abläufe unter die gezahlte Fallpauschale gedrückt werden können, bleibt ein nennenswerter Profit übrig. Auch das MGH erkannte, wo die meisten Kosten entstehen und in welchen Strukturen Rationalisierungspotenzial steckt. „Aus der vermeintlichen Katastrophe wurde das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Lee.

Systematisch hat MGH-Präsident Slavin in den vergangenen Jahren vor allem jene Bereiche ausgebaut, die dem Krankenhaus die besten Einnahmen garantieren, darunter die Onkologie und die Herz-Kreislauf-Abteilung. Denn nur mithilfe ihrer Erlöse kann er es sich auf Dauer leisten, unrentable Abteilungen – wie Psychiatrie oder Pädiatrie – zu subventionieren. Durch die unterschiedliche Vergütung der Krankheitsbilder seien in den USA Transferleistungen zwischen den einzelnen Disziplinen durchaus üblich, sagt McKinsey-Berater William Huyett. Bedrohlich wird diese Praxis für die großen Lehrkrankenhäuser immer dann, wenn sie mit Spezialkliniken vor Ort konkurrieren, die sich auf die profitablen Krankheitsbilder konzentrieren. „Wenn beispielsweise die Herz-Kreislauf-Abteilung höhere Erstattungen von den Versicherern verlangt, um die unrentablen Bereiche mitzufinanzieren, verliert das Haus Patienten an spezialisierte Herzkliniken, die günstiger arbeiten können.“

Finanziellen Nutzen dagegen können akademische Krankenhäuser aus ihrem Vorsprung in Sachen Forschung ziehen. Das MGH hat mit einem Budget von rund 500 Millionen Dollar das größte Forschungsprogramm einer Universitätsklinik in den USA. Das zahlt sich nicht nur bei der Rekrutierung ambitionierter Ärzte und Forscher aus: „Vergangenes Jahr haben wir fast 100 Millionen Dollar Lizenzgebühren für die Nutzung unserer Patente eingenommen“, sagt Peter Slavin. Allein zwei Drittel davon zahlte das Biotech-Unternehmen Amgen, das jährlich etwa 2,5 Milliarden Dollar mit dem Medikament Enbrel verdient, einem Mittel gegen rheumatische Arthritis. Der Wirkstoff des Medikamentes wurde 1990 am MGH entwickelt und anschließend als Patent angemeldet. Für den regelmäßigen Geldfluss aus den Patenten sorgt eine Abteilung, die sich ausschließlich um die Verwertung des geistigen Eigentums der fusionierten Häuser MGH und Brigham kümmert.

Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten weist der Zusammenschluss der beiden Kliniken eine Besonderheit auf: Bei der Fusion wurden keine medizinischen Fachdisziplinen verschmolzen – eine Maßnahme, die üblicherweise den Mehrwert generieren soll. Die medizinischen Abteilungen blieben verschont, weil „die kulturellen und politischen Probleme, die sich aus einer Zusammenlegung der überlappenden klinischen Disziplinen ergeben hätten, unüberwindbar schienen“, sagt Partners-Vizepräsidentin Lynne Eickholt. Eine medizinische Koryphäe hätte zwangsweise gewinnen, die andere verlieren müssen. Eine gegen den Widerstand renommierter Ärzte erkämpfte Fusion zweier Kliniken, die zu den prestigeträchtigsten Universitätskrankenhäusern der Welt gehören, hätte eine fatale Signalwirkung gehabt. „Diesen Talentmagneten zu zerstören, nur um vielleicht fünf Prozent Kosten zu sparen, wäre mit der Konzeption von MGH und Brigham unvereinbar gewesen“, sagt McKinsey-Director Huyett.

Auch der nicht medizinische Bereich blieb in Boston weniger stark von Rationalisierungen betroffen als üblich: Zum einen stand für die Elite-Krankenhäuser Qualität im Vordergrund und nicht rigides Sparen. Zum anderen hätten die großen Unterschiede in der Verwaltungsstruktur beider Kliniken nur durch einen radikalen und damit enorm teuren Neuaufbau beseitigt werden können.

Welche Folgen ein Zusammenschluss von Kliniken mit Weltruf haben kann, der ihren Wert als Marke nicht berücksichtigt, hatte das unschöne Beispiel in unmittelbarer Nähe gezeigt: Als die beiden anderen Bostoner Harvard-Lehrkrankenhäuser, das Beth Israel und das Deaconess, fusionierten, mussten Ärzte ihren Platz räumen, weil doppelte Fachrichtungen abgeschafft wurden. „Anschließend gingen die Häuser fast pleite“, sagt Lynne Eickholt, denn mit den namhaften Doktoren schwanden auch die Patienten – und mit ihnen die Einnahmen.

Die Geschäftsleitung von Partners nimmt deshalb auf die Eigenheiten der wichtigsten Angestellten Rücksicht. „Das ist hier keine Top-Down-Organisation“, sagt CEO Thomas Lee. „Ärzte und Professoren kommen nicht zum MGH und ans Brigham, um wie ein Soldat in der Army zu dienen, sondern weil sie selbst berühmt werden wollen.“ Die Folge: Das MGH sei in viele kleine Einheiten aufgeteilt, die von hervorragenden Persönlichkeiten geleitet würden. Und diese Ärzte versuchen naturgemäß und durchaus erwünscht, erst einmal den eigenen Fachbereich zu optimieren. Das große Ganze kommt an zweiter Stelle. Um das System zu bewegen, muss Partners all diese Persönlichkeiten immer wieder überzeugen. „Und dazu“, sagt Lee seufzend, „braucht es eine Menge Meetings.“

In den Sitzungen geht es auch um Geld und Arbeitszeiten. Während sich die Klinik-Manager in den vergangenen Jahren stetige Gehaltssteigerungen gönnten und jetzt bis zu zwei Millionen Dollar jährlich verdienen, mussten die Ärzte zwischen 1995 und 2003 inflationsbereinigt etwa zehn Prozent Einbußen hinnehmen – bei den hohen Bostoner Lebenshaltungskosten eine gefährliche Entwicklung. Darüber hinaus belegt eine Studie, veröffentlicht im Journal der Amerikanischen Mediziner-Vereinigung, dass 15 von 16 Lehrkrankenhäusern in Massachusetts arbeitsrechtliche Bestimmungen nicht einhalten, nach denen eine Schicht nicht länger als 30 Stunden und die Arbeitswoche nicht mehr als 80 Stunden umfassen darf.

Hilfe für das staatliche Gesundheitssystem

„Natürlich können müde Mitarbeiter mehr Fehler machen“, räumt MGH- Präsident Peter Slavin ein. „Aber Fehler geschehen auch, wenn sich zu viele Personen um einen Patienten kümmern.“ Es sei offen, wie die richtige Balance zwischen Ruhepausen und Kontinuität aussehe und ob das Arbeitsrecht zu einer besseren Gesundheitsversorgung geführt habe. Nach Slavins Angaben dokumentieren die MGH-Mitarbeiter ihre Arbeitszeiten jetzt zumindest, aber vorerst nur, damit Partners einen Überblick bekommt, welche Bereiche sich in Zukunft effizienter organisieren lassen. Langfristig stehe den Medizinern eine kulturelle Revolution bevor, sagt Thomas Lee: „Ärzte müssen lernen, mit Pflegepersonal, Apothekern und Managern im Team zu arbeiten und nicht nur den einzelnen Patienten, sondern Patienten-Populationen über eine ganze Zeitspanne zu versorgen.“ Was viele Ärzte noch nicht verstünden: Ein Krankenhaus sei eben auch ein Geschäft, das wie ein Unternehmen geführt werden muss.

Was für die einzelne Klinik gilt, gilt für das ganze System: Was wirtschaftlich ist, hilft auch den Patienten. Davon ist Peter Slavin überzeugt. Der Mediziner mit MBA-Abschluss, der das MGH seit 2003 leitet, sieht sich immer noch in erster Linie als Arzt und gerade deshalb in der richtigen Position. „Im Gesundheitsmanagement kann ich viel mehr Patienten helfen, als es mir die Arzttätigkeit je ermöglichen würde.“

So hofft Slavin etwa, Einfluss auf die Zukunft des Medicare-Programms nehmen zu können, einer staatlichen Krankenversicherung, die haupt- sächlich Menschen über 65 und Behinderte versorgt. Das Defizit der Versicherung wächst ständig, und wegen der demografischen Entwicklung müssen die jungen Steuerzahler in Zukunft immer mehr für die Gesundheitsversorgung der Alten aufwenden – ein Problem, das auch das deutsche Gesundheitssystem belastet. „Die Gesellschaft muss eine Lösung dafür finden. Und sie darf nicht darin bestehen, die Kosten einfach auf die Kliniken abzuwälzen“, sagt Slavin. Das MGH arbeitet daran. Mit dem „Medicare-Management-Performance-Demonstration“-Projekt lotet Partners aus, inwieweit besseres Management die Kosten der Pflege von Medicare-Patienten senken und die Qualität steigern könnte.

Kulturelle Einigkeit – im Widerstand der Ärzte

Die Rettung eines Pfeilers des staatlichen Gesundheitssystems – diese Aufgabe wäre für die Charité eine Nummer zu groß. Auf anderen Gebieten jedoch hat sich die Berliner Klinik ihr Bostoner Pendant bereits zum Vorbild genommen. Bei der Idee des Netzwerks beispielsweise, in dem Patienten entsprechend der Ausstattung und Spezialisierung der einzelnen Häuser wirtschaftlich optimal behandelt werden können. „Wir haben das ‚Charité Gesundheitssystem‘ analog zu Partners HealthCare gegründet“, sagt Martin Paul, Dekan der Charité, der das MGH aus eigener Anschauung als junger Arzt kennt. „Wir müssen uns innerhalb Berlins und bis nach Brandenburg hinein vernetzen, um eine moderne Struktur zu schaffen.“

Auch für die Vermarktung klinischer Studien und Patente stand das MGH Pate: Seit April 2006 gibt es die Charité Research Organisation, mit der Klinik-Chef Detlev Ganten zusätzliche Finanzmittel eintreiben will. Innerhalb der kommenden zwei Jahre sollen sich die Einnahmen aus den Studien von heute jährlich 30 Millionen Euro verdoppeln.

Anderes lässt sich in Berlin nicht so einfach nachahmen – etwa die behutsame Fusion von Brigham und MGH, bei der die Stärken und Besonderheiten beider Kliniken erhalten blieben. Seit der Berliner Senat 2003 die Fusion der Hochschulmedizin von Freier Universität und Humboldt-Universität zur Charité beschlossen hat, muss Ganten – anders als Slavin – Doppelkapazitäten reduzieren, um jährlich rund 100 Millionen Euro zu sparen. Dabei stößt er auf massiven Widerstand der Ärzte. In diesem Punkt sind sich Amerikaner und Deutsche erstaunlich ähnlich.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.