Baumeister der Zukunft

Unternehmenskultur. Innovationen werden aus Wissen gemacht, und dazu muss Wissen fließen. Wie schafft man das in einer Organisation, in der Abteilungen, Bereiche und Hierarchien traditionell Gräben und Grenzen ziehen? Der dänische Hörgerätehersteller Oticon hat Wände eingerissen. Und noch viel mehr.




EIN BAU ALS SYMBOL

Kabel hängen von der Decke, der Fußboden ist mit Folie bedeckt. Ein Bohrer nervt. Mads Kamp, einer von drei Verantwortlichen für Human Resources bei Oticon und zurzeit Baustellen- und Umzugsmanager, versucht das durchdringende Geräusch zu übertönen. „Das wird unser Innovationsraum“, er brüllt es fast. Danach demonstriert er schweigend. Schiebt die weißen Wände hin und her, die in Schienen an der Decke montiert sind. Der Raum ist riesig, eine ganze Etage – und nichts drin als ein gutes Dutzend dieser losen Wände, jede vielleicht vier mal fünf Meter, die beliebig verschoben werden können, was den Raum groß oder kleinteilig werden lässt. Jede zweite Wand ist gleichzeitig als Tafel nutzbar.

Der Weltmarktdritte auf dem Hörgerätesektor, der in Dänemark rund 1500 Menschen beschäftigt, zieht mal wieder um: aus dem Kopenhagener Stadtteil Hellerup ins 18 Kilometer entfernte Smørum, am äußersten Stadtrand. Seit dem letzten Umzug 1991 ist Oticon rasant gewachsen: Umsatz, Mitarbeiterzahl und Gewinn haben sich verdreifacht. Das Gebäude in Hellerup, in das anderthalb Jahrzehnte zuvor 150 Mitarbeiter der Zentrale mit Forschung, Entwicklung, Marketing und Verwaltung eingezogen waren, platzt aus allen Nähten. 450 Mitarbeiter beschäftigt das Headquarter heute, rund 350 arbeiten in Forschung und Entwicklung. Ab Ende Oktober 2005 werden sie hier in Smørum, in den lichten Quadern aus Glas und Stahl auf drei Etagen tätig sein. „Wir wollen die Räume so gestalten, dass sie zu unserer Kultur passen“, erklärt der Baustellenchef, „offene Büros, offene Kommunikation und eine offene Organisation haben sich bewährt.“

Tatsächlich sind die beweglichen Wände für den Innovationsraum die einzigen auf den drei Etagen. Die Außenwände des Baus bestehen fast nur aus Fenstern, auch Fahrstühle und Treppenhaus haben Glaswände. All das ist mehr als eine architektonische Spielerei: Transparenz in den Strukturen und die Beweglichkeit aller Mitarbeiter waren schon die Grundprinzipien bei der Umgestaltung der ehemaligen Limonadenfabrik der Tuborg-Brauerei in Hellerup, mit der die Oticon-Kultur 1991 ihren Anfang nahm.

WISSEN MUSS FLIESSEN

Hörgeräte sind Hightech. Wer sie baut, muss das Wissen der unterschiedlichsten Disziplinen zusammenbringen. In die Konstruktion von der Größe eines Daumennagels fließt Know-how aus Medizin und Akustik, Elektrotechnik und Informatik, Mechanik und Mechatronik ein. Software und Mikrochips sind ebenso Bestandteile des Geräts wie Erkenntnisse aus Soziologie und Wahrnehmungspsychologie, aus Neurologie und den Kognitionswissenschaften. Die Entwicklung eines Hörgeräts geht nur im Team, hoch spezialisierte Fachkräfte müssen permanent zusammenarbeiten. Und ein Unternehmen dieser Branche kann nur erfolgreich sein, wenn seine Organisation diesen Erfordernissen entspricht.

Wie schaffen wir es, die Vertreter der verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen, hat sich Lars Kolind vor anderthalb Jahrzehnten gefragt – und dem Unternehmen eine Radikalkur verordnet, die unter dem Begriff „Spaghetti-Organisation“ Wirtschaftsgeschichte schrieb. Statt an die Gemeinschaft zu appellieren und den Teamgeist zu beschwören, schuf der damalige CEO eine Umgebung, die Abteilungs-, Hierarchie- und Bereichsdenken unmöglich machte. Kolind löste die drei Unternehmensstandorte auf und ließ alle Mitarbeiter in ein Gebäude umziehen, das keine Wände und Abteilungen mehr besaß. Und er löste alles auf, was den Menschen bis dahin formal Struktur und Sicherheit gab.

Im Neubau gab es keine Büros und keine festen Arbeitsplätze mehr, jeder Mitarbeiter konnte und musste sich mit Mobiltelefon und seinem persönlichen Rollcontainer immer dort niederlassen, wo er für ein Projekt gerade gebraucht wurde. Umzüge gab es viele, denn Kolind löste auch Positionen und Verantwortungen auf. Der Mensch ist auf Dauer nur kreativ, wenn er lernt und sich mit anderen Disziplinen auseinander setzt, davon war der Chef überzeugt – also verordnete er Projekte auf Zeit; jeder Mitarbeiter musste in drei Teams gleichzeitig sein, zwei der Engagements sollten außerhalb des eigenen Fachgebiets liegen. Die Endlos-Konferenzen der Vergangenheit wurden durch spontane Zusammenkünfte in zahlreichen Kaffeebars, auf Fluren und extrabreiten Wendeltreppen ersetzt. Und keiner durfte mehr erwarten, dass ihm jemand sagte, was als Nächstes zu tun sei: Die Mitarbeiter sollten sich selbst organisieren.

Kolind und das neu geschaffene zehnköpfige Management-Komitee gaben nur noch die Richtung vor: Jeder wird ermutigt, in seinem Fachgebiet besser zu werden – und in mindestens einem fremden Bereich, zu dem er sich hingezogen fühlt. Weil Selbstverantwortung Möglichkeiten braucht, stellt das Unternehmen damals jedem Mitarbeiter zu Hause einen Computer auf, die Organisation in Lernnetzwerken bleibt der Belegschaft überlassen. Abteilungs-, Bereichsleiter- und Direktorenfunktionen werden abgeschafft, neben dem Management-Komitee gibt es nur noch Mitarbeiter und Projektleiter, die Funktionen wechseln, so kann jeder mal Kollege oder Vorgesetzter sein. Was der Einzelne gerade wo macht, ist über ein Computerprogramm für alle einsehbar, so wie fortan auch jeder zu jeder Zeit Zugang zum Unternehmen hat. Die Arbeitszeitkontrolle ist abgeschafft. Lars Kolind will, dass Wissen fließt, und dafür müssen sich die Menschen bewegen. Physisch, vor allem aber im Kopf. Kolind weiß, dass so viel Veränderung Angst macht. Aber hatte er denn eine Wahl?

EIN UNTERNEHMEN LERNT UM

1988, als er sein Amt antritt, geht es dem Unternehmen nicht besonders gut. Lars Kolind wird als Sanierer geholt. Oticon steckt in der Krise, nicht das erste Mal in den zurückliegenden gut 80 Jahren. Bis dahin hatte das Unternehmen, das um die vorletzte Jahrhundertwende noch Fahrräder und Nähmaschinen produzierte und sich zu Zeiten des Ersten Weltkriegs auf Innovationen rund ums Hören spezialisierte, jede Veränderung, die der Markt ihm aufzwang, gut verkraftet. Der Wohlstand der Nachkriegszeit, der auch die Finanzierung von Hörgeräten durch staatliche Gesundheitssysteme und Krankenkassen brachte, ließen Absatz und Export sogar boomen. Fast vier Jahrzehnte lang ging es mit Oticon bergauf, bis Ende der achtziger Jahre ein neues, winziges Hörgerät den Markt durcheinander brachte. Starkey, ein amerikanischer Konkurrent, hatte es entwickelt, und die Innovation bescherte den Dänen die Krise. Das neue Gerät ließ sich im Ohr tragen, statt wie bis dahin dahinter, und die Kunden stürzten sich darauf. Oticon hatte einen Trend verschlafen – sich auf neue Technologien konzentriert, als die Kundschaft nach Kosmetik verlangte.

Bis heute ist das Produkt schwierig. Hörgeräte sind keine Autos, mit denen der Mensch auch Status repräsentiert. Die kleinen Hightech-Maschinen helfen, einen körperlichen Defekt zu kompensieren, und das will ihr Träger so wenig wie möglich demonstrieren. Die Technik ist wichtig, die Optik entscheidend, das muss Oticon damals bitter lernen. Noch immer leugnet die Mehrheit der potenziellen Käufer, überhaupt eine Hörhilfe zu brauchen. Nur jeder siebte schwerhörige Mensch sucht Hilfe bei der Technik – und das im Schnitt erst nach sieben Jahren Schwerhörigkeit.

Lars Kolind soll den Turnaround schaffen und entscheidet sich gleich für eine ungewöhnliche Maßnahme. Im Wissen darum, dass in die Entwicklung des komplizierten Produktes eine Menge Erfahrung einfließen muss, vor allem aber, um das Vertrauen der Belegschaft nicht gänzlich zu verlieren, entlässt er zwar zehn Prozent des Personals, folgt dabei aber eher unüblichen Kriterien. Keiner über 50 muss das Haus verlassen, von den Jüngeren geht nur, wer leicht einen neuen Job findet. „Das hatte den Preis“, erinnert sich Kolind, „dass wir zahlreiche Mitarbeiter behielten, die wir eigentlich lieber entlassen hätten.“ Doch es sorgte auch für Respekt und Hoffnung mit Blick auf die Führung – und machte den Turnaround erst möglich.

1990 schrieb Oticon aufgrund der Entlassungen zwar wieder schwarze Zahlen, dauerhaft innovationsfähig war das Unternehmen jedoch nicht. Der wirkliche Wandel würde erst mit dem Umzug beginnen. Und mit ihm auch die Neudefinition des Unternehmens.

VON DER TECHNIK ZUM KUNDEN

Ein Hörgerät ist ein Produkt, das dem Menschen hilft, ein angeborenes oder im Laufe des Lebens erworbenes Defizit auszugleichen. Diesem Selbstverständnis folgte Oticon seit seiner Gründung. Folglich ging es in der Vergangenheit stets darum, die beste Technik für Hörbehinderungen zu liefern. Erst in der Krise wechselte die Perspektive: Seitdem steht nicht mehr das Produkt, sondern der Kunde im Mittelpunkt aller Forschungsaktivitäten. „People First“ heißt das inzwischen bei Oticon und ist mehr als ein flotter Spruch auf Briefkopf und Broschüren.

Was sich hinter dem Slogan verbirgt, lässt sich wohl am ehesten bei einem Besuch in Eriksholm recherchieren. Dem Ort, den das Unternehmen zwar schon 1977 eingerichtet, aber erst Anfang der neunziger Jahre zu dem gemacht hat, was er heute ist: ein Forschungszentrum der besonderen Art. Hier, in dem ehemaligen Landsitz nördlich von Kopenhagen, ist ein Team von rund 20 Mitarbeitern untergebracht. Anders als die Forscher-Kollegen in der Zentrale sollen die Dänen, Deutschen, Schweden, Briten und Niederländer hier lernen – auf den Kunden zu hören. Jenseits der Hektik des Tagegeschäfts und der Notwendigkeit, neue Produkte zu kreieren, geht es in Eriksholm nur um grundsätzliche Fragen rund um Hören. Was belastet eine Person, die schlecht hört? Was will der Kunde, was nicht? Und, ganz wichtig: Wie viel Unterstützung wofür ist überhaupt gewollt?

Drei Mitarbeiter im Zentrum sind ausschließlich damit beschäftigt, Testpersonen zu finden, die bereit sind, an Studien teilzunehmen und mit den Forschern zu reden. Was sie erzählen, sorgt nicht nur für technologische Innovationen, sondern für ein ganzheitliches Verständnis vom Hören. Erst durch die Gespräche mit den Kunden haben die Forscher beispielsweise begonnen, sich auf das „Verschlussproblem“ zu konzentrieren. Ein Hörgerät im Ohr kommt zwar den optischen Kundenwünschen entgegen, verschließt aber auch den Gehörgang, was schon rein physisch unangenehm ist. Die neuen Geräte, die über feine Kanäle Luft in den Gehörgang lassen und so den Verschlusseffekt mildern, sind eine Innovation, die erst möglich war, seit Forscher und Kundschaft miteinander reden.

Jede technische Lösung sorgt für neue Probleme, das haben die Oticon-Entwickler inzwischen gelernt. So sorgt der Verschlusseffekt neben körperlichen vor allem für psychosoziale Probleme: Die Stimme ist Teil der menschlichen Identität. Weil sie sich durch das Verschließen des Gehörgangs verändert, kann das Tragen des Hörgeräts vielleicht zum besseren Hören, aber auch zu einer Störung der Selbstwahrnehmung führen. Möglicherweise ist das sogar der Grund dafür, dass sechs von sieben Schwerhörigen die technische Hilfe ablehnen – auf jeden Fall ist es eine Erkenntnis, die das Forschungsgebiet der Hersteller dramatisch verändert.

„Hundert Jahre lang hat sich die Hörgeräteindustrie ums Hören gekümmert, jetzt fangen wir erstmals an, das Problem des Sprechens zu realisieren“, sagt Graham Naylor, Leiter des Forschungszentrums in Eriksholm. „Ein schwerhöriger Mensch hört ja nicht nur zu, 30 Prozent der Zeit spricht er.“ Je nach Ursache der Schwerhörigkeit, ausgelöst etwa durch Alterungsprozesse oder Lärmstress, muss deshalb auch die Verstärkung, die als angenehm empfunden wird, sehr verschieden sein. So verschieden wie der Lebensstil, der in ganz unterschiedlichen Hörsituationen zum Ausdruck kommt und der zu völlig verschiedenen Bedürfnissen auf Seiten der Kunden führt – die Jahrzehnte lang schematisch mit der gleichen Hörhilfe bedient wurden.

Solchen Fragen systematisch nachzugehen ist Aufgabe der Forscher in Eriksholm. Mehr als 250 Studien hat das Zentrum in der Vergangenheit geliefert. Der Sprung ins digitale Zeitalter, der Oticon als erstem Hörgeräteproduzenten 1995 mit „Digifocus“ gelang, einem Minicomputer fürs Ohr, eröffnete auch den Forschern neue Perspektiven. Das Grundlagen-Team in Eriksholm stellte universitären Forschungsgruppen Hard- und Software zur Verfügung, aus denen sich bald Kooperationen mit Universitäten in Skandinavien, Australien, Großbritannien und den USA entwickelten. Zum Wohle des Unternehmens.

Die Ergebnisse der weltweiten Vernetzung flossen zum Beispiel in „Adapto“ ein, ein Gerät, dessen Software die menschliche Sprache von anderen Geräuschen unterscheiden kann, um sie dann gezielt zu verstärken. Je nach Lebensstil und momentaner Situation des Anwenders, kann die Software und damit die Hörverstärkung für unterschiedliche Alltagssituationen programmiert werden. „Wir liefern mit all dem zwar keine Ergebnisse auf konkrete Anforderung des Marketings“, sagt Graham Naylor, „aber wir sind in so engem Austausch mit der Zentrale, dass wir ein gutes Gefühl dafür haben, welche Fragen und Forschungen wir vorrangig verfolgen müssen.“

AUS SPAGHETTI WIRD LASAGNE

„Niagara Falls“ steht auf einer senkrechten Stele mitten im Raum. Dahinter öffnet sich der Blick über das dänische Hügelland bis zum Horizont. „Wir haben den einzelnen Bereichen im Haus ungewöhnliche Namen gegeben, um den Mitarbeitern die Orientierung in dieser offenen Arbeitsumgebung zu erleichtern“, erklärt Mads Kamp die Bedeutung des Schildes. Das Parterre ist in Kontinente und Ozeane unterteilt, in der Etage darüber liegen bedeutende Städte; die Arbeitsbereiche im zweiten Stock sind nach Orten oder Sehenswürdigkeiten benannt. Die Orientierung im Raum spiegelt den Globus: Namen wie „Plaza Real“ weisen nach Süden, die „Große Mauer“ liegt im Osten. Alle Bezeichnungen sind Ideen der Mitarbeiter, die ab Februar 2005 eingeladen waren, sich an der Gestaltung des neuen Gebädes zu beteiligen. Vom Umzug erfuhren sie im November 2004, nach der Hundertjahrfeier der Firma, als die Entscheidung bereits gefallen war und Oticon das ursprünglich von Intel gebaute, aber nie genutzte Gebäude gekauft hatte. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen. „Das ist normal“, weiß Mads Kamp, „wenn man in eine Entscheidung nicht einbezogen ist.“ Niemand mag einen vertrauten Ort verlassen. „Zudem ist Hellerup schick, Smørum dagegen noch ein gesichtsloses Gewerbegebiet. Es wird jetzt schwieriger, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Aber nur sieben Mitarbeiter haben uns wegen des Umzuges verlassen“, sagt Kamp, „das war unsere größte Sorge.“

Berechtigt. Oticon hat wichtige Konkurrenten direkt am Ort, Widex und GN Resound, die dem Weltmarktdritten ständig dicht auf den Fersen sind und qualifiziertes Personal auch gut gebrauchen können. Dänemark ist der größte Hörgeräteproduzent der Welt. Insgesamt wird der Weltmarkt auf etwa 2,7 Milliarden Dollar geschätzt, die drei dänischen Firmen kontrollieren rund die Hälfte des Gesamtabsatzes.

Mads Kamp fährt mit seiner Führung durch die leeren Räume fort. Hier soll eine große Entspannungszone entstehen, mit Cafeteria, Tischtennis- und Krökeltischen. Draußen wird der Fußballplatz für die Mitarbeiter angelegt. Wenn die Jugend der Nachbarschaft auch da spielt, freuen sie sich im Unternehmen. „Wir versuchen, die Übergänge zwischen Arbeit und Entspannung fließend zu gestalten“, sagt Kamp. Denn auch wenn sich die Strukturen mit den Jahren wieder verändert haben, die Eckpunkte der Kultur und die wichtigsten Grundsätze sind geblieben: „Wir sagen unseren Mitarbeitern nicht, wann sie arbeiten sollen. Dafür sind sie selbst verantwortlich. Wir sind nur an den Ergebnissen interessiert.“

Aus der einstigen Spaghetti-Organisation ist etwas geworden, das die Mitarbeiter heute scherzhaft Lasagne nennen, auch deshalb, weil es mit den herkömmlichen Organisationsbegriffen nur schwer zu beschreiben ist. Im Prinzip geht die Struktur so: Das Unternehmen teilt sich auf in zwei große Blöcke, Technologie und Business, sie heißen Teams. Durchzogen werden die Teams von acht Kompetenzbereichen, darunter etwa Marketing, Audiologie, Mikrosysteme oder Software-Entwicklung. Außerdem hat jedes Team so genannte Focus Areas – im Technologie-Team sind es drei, im Business-Team sieben. Die Areas sind nach produktspezifischen Funktionen oder nach Support-Funktionen zusammengefasst. Jeder Mitarbeiter ist aufgrund seines Fachwissens einem Kompetenzbereich zugeordnet und arbeitet zudem, je nach Spezialwissen in einer Focus Area. Eine Area umfasst bis zu 30 Mitarbeiter, genaue Zahlen gibt es nicht, das gehört zur Oticon-Philosophie: Projekte, Verantwortungen und Strukturen wandeln sich, so wie sich auch die Mitarbeiter ständig bewegen.

Gearbeitet wird in Projekten. Sie können je nach Definition kurz oder länger dauern und haben unterschiedliche Gruppengrößen. Für die Mehrheit der Mitarbeiter ist es selbstverständlich, in mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten, Flexibilität ist ein Einstellungskriterium. Worauf sich der einzelne inhaltlich konzentriert, entscheidet er selbst, Eignung und Interesse geben die Richtung vor – und der Leiter des jeweiligen Kompetenzbereichs. Eine Personalabteilung im herkömmlichen Sinn gibt es nicht, jeder Mitarbeiter hat drei Berührungspunkte, die ihm Orientierung geben: Fokusgruppe, Fachgebiet und Team. Und alle urteilen über alles und jeden. In die Beurteilung jedes Oticon-Mitarbeiters fließen die unterschiedlichsten Kriterien ein – sie bilden ab, was der Konzern zur Stärkung der Innovationskraft für notwendig hält. Networking, Eigenverantwortung, Engagement, Sozialkompetenz, Leistung. Und Dynamik. Sie steht für die Fähigkeit, neue Projekte zu erkennen, anzuschieben und zum Erfolg zu treiben.

VERÄNDERUNG AUF DER GANZEN LINIE

Das alles ist relativ neu, Oticon hat sich diese Struktur in 2003 gegeben. In der Organisation des dänischen Unternehmens ist nichts auf Dauer angelegt, Menschen und Märkte verändern sich, also muss man darauf reagieren. Eine einschneidende Veränderung betraf Lars Kolind selbst, den obersten Veränderer im Unternehmen. Fünf Jahre lang, von 1992 bis 1997, wurde Oticon von einer Doppelspitze geführt. Finanzielle Turbulenzen nach der Neuorganisation ließen es dem Aufsichtsrat 1992 geraten erscheinen, dem visionären Schöpfer der Spaghetti-Organisation für das operative Geschäft einen Controller an die Seite zu stellen. Die Zahl der Entwicklungsprojekte war zeitweise aus dem Ruder gelaufen und verbrauchte zu viele finanzielle Ressourcen. Also wurde Niels Jacobsen geholt, er führte das Unternehmen in finanziell solides Fahrwasser.

„Niels war das absolute Gegenteil von mir“, erinnert sich Kolind, „aber für Oticon war er die perfekte Wahl.“ Binnen eines halben Jahres gelingt es Jacobsen, die Finanzen zu konsolidieren. Die Grundlagen für Innovationen waren geschaffen, jetzt ging es darum, das frei fließende Wissen wieder ein wenig zu fokussieren. Auch zwischen den beiden Chefs gab es keine formelle Aufgabenverteilung. Sie verbringen in den gemeinsamen fünf Jahren viel Zeit damit, grundsätzliche Fragen so lange zu diskutieren, bis die Kraft der stärksten Argumente eine Einigung möglich macht. Ein Führungsprinzip, das sich bewährte und das deshalb bis heute erhalten blieb – je nach Bedarf werden Teams oder Projektgruppen bei Oticon von Einzel-, Doppel- oder sogar Vierfachspitzen geführt.

Als Lars Kolind das Unternehmen Ende 1997 verlässt, um sich neuen Aufgaben in Australien zuzuwenden, führt Niels Jacobsen Oticon allein. In den nächsten Jahren wird er die Akquisitionspolitik, die er mit Kolind begonnen hat, fortsetzen und bis zur Jahrtausendwende mehr als 30 Firmen weltweit in die William Demant Holding, wie die Muttergesellschaft von Oticon seit 1997 heißt, integriert haben. Hersteller von Diagnosegeräten gehören ebenso dazu wie Produzenten von kabellosen Kommunikationssystemen und Headsets. So macht Jacobsen aus dem Nischenanbieter, der nur das oberste Marktsegment bedient, einen Gesamtanbieter, der auch preiswerte Hörhilfen im Sortiment vorhält. Seit 1999 ist Oticon mit neuen Modellen der mittleren und unteren Preislage auf dem Markt vertreten und erzeugte damit in den vergangenen Jahren ein Wachstum, das letztlich auch den Umzug von Hellerup nach Smørum notwendig macht. Heute beschäftigt das Unternehmen weltweit 4600 Mitarbeiter, die Gewinne steigen Jahr um Jahr, allein in 2004 ist der Umsatz um rund elf Prozent auf 578 Millionen Euro gewachsen, während der Markt für Hörgeräte insgesamt nur um fünf Prozent wuchs.

Im neuen Gebäude wird sich Oticon wieder bewegen. Wann und wohin, wird sich zeigen. Management und Mitarbeiter werden sich etwas überlegen. Druck ist für eine Anpassung der Strukturen kaum nötig. Wer sich einmal an Veränderung gewöhnt hat, den schreckt sie nicht mehr. 2003, das Jahr, in dem die jüngsten Organisationsstrukturen geschaffen wurden, geht nicht wegen der Reorganisation, sondern wegen der Innovationskraft in die Firmengeschichte ein: Die Holding wird mit dem begehrten Wirtschaftspreis „Europäisches Unternehmen des Jahres“ ausgezeichnet.

Bei der Konstruktion der Synchro-Hörgeräte haben sich die Forscher vom menschlichen Gehirn inspirieren lassen. Es kann Sprache aus Lärm hervorheben und störende Nebengeräusche weitgehend ausblenden.
Für das Hörsystem Adapto wurde Oticon mit dem europäischen Technologiepreis „IST Grand Prize“ ausgezeichnet. Die Europäische Union kürt damit die besten Innovationen für die Informationsgesellschaft der Zukunft.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.