Wo Karstadt shoppen geht

Auf der Jagd nach günstigen Angeboten gehen Handelskonzerne auf weltweite Einkaufstour – das ist Tradition. Neu ist, dass sie die Waren an allen Ecken der Welt immer öfter in Eigenregie herstellen lassen.
Worldwide Direct heißt das Konzept, das einst schlichte Händler in kosmopolite Co-Produzenten verwandelt. Ganz vorn dabei: KarstadtQuelle, Europas größter Warenhaus- und Versandhandelskonzern.




Die Frau ist Fiktion, der Vorgang millionenfach gelebte Praxis. Er spielt irgendwann im frühen Advent 2004, irgendwo in Deutschland. Die Dame, eine Frau mittleren Alters, sitzt in ihrem Wohnzimmer und blättert im aktuellen Quelle-Katalog, jenem 1260 Seiten starken, Papier gewordenen Warenhaus, in dem man vom Bleistift bis zur Kühltruhe so ziemlich alles kaufen kann, was Menschen vielleicht brauchen. Der Katalog ist dick und schwer wie ein Ziegel. Die Beispielkundin fahndet in ihm nach einer festlichen Garderobe für die Weihnachtsfeiertage, und nach einiger Zeit stößt sie irgendwo jenseits von Seite 200 auf das Richtige: einen auberginefarbenen, elegant geschnittenen Blazer für 49,95 Euro.

Auf dem Bestellformular, Seite 1234, trägt sie in der obersten Zeile Bestellnummer, Größe und Preis ihres Wunschblazers ein. Und setzt damit, ohne es zu ahnen, eine Produktionskette in Gang, die mehrmals um die Welt reicht, Klima- und Zeitzonen umspannt, dutzende Menschen beschäftigt – und erklärt, warum die Volksrepublik China derzeit die Hälfte des weltweit produzierten Zements, ein Viertel des Kupfers und ein Drittel des Stahls verbraucht, während es gleich in der Nachbarschaft, in Thailand oder auf den Philippinen, ganz nach Abbau aussieht. Die Kette erklärt auch, warum in China regelmäßig der Strom ausgeht. Und wieso ein Blazer, der um die halbe Welt gekarrt wird, inklusive Stoff, Arbeitslohn, Overhead, Transportkosten, Lagerhaltung, Zöllen, Werbung, Katalogdruckkosten und Gewinnspanne lediglich 49,95 Euro kostet.

Um all das verstehen zu können, muss man vom Quelle-Hauptquartier in Fürth aufbrechen und um die halbe Welt reisen, genauer: nach Schanghai, in den Boom-Stadtteil Pudong, Lujiazuidong Road, China Merchants Tower, Fahrstuhl in den 30. Stock, durch den Eingang links halten, rechte Tür, stop. Jürgen Massion, 49 Jahre alt, blauer Zweireiher, Schnurrbart, ist der Statthalter des KarstadtQuelle-Konzerns in China. Eine Wand seines Büros teilen sich ein Mao-Zedong-Poster und ein hölzerner Drache, vis à vis parkt eine Flotte Plastik-Oldtimer auf einer Kommode – Überbleibsel einer lange zurückliegenden Karstadt-Kollektion.

Massion, gebürtiger Aachener, lebt und arbeitet seit 16 Jahren in Fernost. Der schlaksige Kaufmann spricht ein ganz passables „Survival-Mandarin“, wie er sagt, ist verheiratet mit einer Taiwanesin und wäre „für den Dienst in Deutschland, wo alles genau geregelt ist, längst untauglich“.

Hier in China kann Massion eine Menge bewegen. Waren im Wert von mehr als 183 Millionen Euro haben seine 127 Mitarbeiter in den vier chinesischen KarstadtQuelle-Einkaufsbüros (Schanghai, Peking, Dalian, Qingdao) im vergangenen Jahr bei chinesischen Produzenten geordert, in Empfang genommen, überprüft und in die Heimat versandt. In diesem Jahr werden es vermutlich mehr als 200 Millionen Euro Einkaufsvolumen sein – plus weitere 300 Millionen, die Lieferanten aus Hongkong beisteuern, die auch zumeist im chinesischen Hinterland fertigen lassen.

200 dicht gepackte Container verlassen Schanghai jede Woche Richtung KarstadtQuelle-Konzern. Gefüllt sind sie zu etwa drei Vierteln mit Textilien, der Rest der Ladung besteht aus bunt gemischter Hardware wie Weihnachtsmännern, Spielzeugpuppen, Kochtöpfen oder Haartrocknern der Quelle-Hausmarke Privileg. Massion: „Außer Handys, Computern, Fernsehern und Kühlschränken produzieren wir so ziemlich alles hier.“

Weltweite Fahndung nach der besten und billigsten Quelle

Das klingt nach einer beachtlichen Menge, ist aber nur ein Teil jenes gut zwei Milliarden Euro schweren Warenberges, den KarstadtQuelle Jahr für Jahr aus aller Welt nach Deutschland schafft. Weltweit unterhält der Konzern 26 Einkaufsbüros. Jedes einzelne steht in unmittelbarer Konkurrenz zu den klassischen Importeuren, bei denen sich KarstadtQuelle früher fast vollständig eingedeckt hat.

Aus Konzern-Sicht haben Importeure den Vorteil, dass sie auf eigenes Risiko arbeiten, in Eigenregie Produkte entwickeln, herstellen und anbieten und häufig dank jahrelanger Erfahrung in einem bestimmten Produktsegment zu gesuchten Spezialisten herangewachsen sind. Schlichte Commodities wie weiße T-Shirts oder schwarze Socken kann auch ein Direkteinkäufer nicht wesentlich billiger auftreiben als ein Importeur. Zudem binden Importeure kein Konzernkapital und kosten nur dann Geld, wenn sie auch tatsächlich zu voller Zufriedenheit geliefert haben.

Die Beziehung hat jedoch auch einen Haken: Der Kunde ist dem Importeur auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Liefert er verspätet, in schlechter Qualität oder gar nicht, weil er seine Produktion lieber an einen vermeintlich attraktiveren Kunden vergibt, steht der Vertragspartner mit leeren Händen da. Vor allem aber – und das ist in Zeiten der Konsumkrise ein besonders gewichtiges Argument – streichen Importeure einen erheblichen Anteil der Wertschöpfung ein.

Deshalb gibt es die KarstadtQuelle-Ländergesellschaften – so etwas wie internationale Konzern-Emissäre für Effizienz und Kostensenkung. Sie fahnden weltweit nach den zuverlässigsten Lieferanten, den attraktivsten Konditionen und den besten Möglichkeiten, die Herstellung eines Produktes hier oder dort noch um ein paar Millimeter zu straffen. Sie sind Eindringlinge ins Reich der klassischen Importeure. Und besonders effektiv dadurch, dass auch die Einkaufsbüros in den verschiedenen Ländern in Konkurrenz zueinander stehen.

Bevor ein Produkt im Quelle-Sortiment landet, geht der Konzern bei seinen Länderbüros auf Einkaufstour. Im Fall des imaginären Blazers beispielsweise verschickt der für Damenoberbekleidung zuständige Einkäufer aus der Quelle-Zentrale in Fürth im Frühjahr 2004 ein Fax mit detaillierter Artikelbeschreibung, Skizze, Maßtabelle, gewünschter Qualität, Mengenvorstellung, gewünschtem Liefertermin (Herbst 2004) und Zieleinkaufspreis. Wie bei einer Versteigerung geben die angefragten Regionalmanager dann ihre Gebote ab – der Einkäufer erteilt den Auftrag an den attraktivsten Anbieter.

Jürgen Massion hat in diesem Poker ziemlich gute Karten. Die Herstellungskosten für Textilien in China liegen derzeit um respektable 20 bis 25 Prozent unter den türkischen; mit Stundenlöhnen von durchschnittlich 92 US-Cents unterbietet das Land Konkurrenten wie Spanien (15,08 Dollar), Slowenien (6,79 Dollar) oder Mexiko (1,68 Dollar) deutlich.

Ginge es allein um Arbeitskosten, wäre Massion der sichere Sieger vieler konzerninterner Auktionen um den Produktionsstandort. Tatsächlich führt China zusammen mit Hongkong auch die Liste der KarstadtQuelle-Importländer an. Für so manche Bestellung spielen aber auch Faktoren wie Nebenkosten, Qualität und Verarbeitung oder die Liefergeschwindigkeit eine wichtige Rolle. Der Schiffstransport von Schanghai nach Europa dauert mindestens drei Wochen; ein Teil der Aufträge für topmodische, schnell drehende Artikel landet deshalb nicht in China, sondern in der Türkei (Platz 3 der internen Liste). Auch für höherwertige Produkte wie Digitalkameras, Computer oder Flachbildschirme ist China nach Konzern-Meinung noch nicht reif genug. Einen Großteil der so genannten Weißen Ware wie Kühlschränke oder Waschmaschinen lässt Quelle nach wie vor in Italien fertigen und über Belgien importieren, was dem kleinen Land einen Spitzenplatz in der Konzern-Importbilanz beschert.

„Wir haben in den vergangenen Jahren für deutlich mehr Transparenz in der Konkurrenz zwischen verschiedenen Ländern gesorgt“, sagt Professor Helmut Merkel, Vorstandsvorsitzender der Karstadt Warenhaus AG, „das spart uns jedes Jahr mehrere Millionen Euro im Einkauf.“ Heute bündeln so genannte General Manager Sourcing die Einkaufsvolumina so weit wie möglich in einzelnen Ländern oder bei einzelnen Lieferanten. Aufträge für Artikel, die sich klar definieren lassen und für die eine Vielzahl von Lieferanten in Frage kommt, werden weltweit ausgeschrieben. Für seine Internetauktionen nutzt KarstadtQuelle zwei Tools: Texyard für Textilien, GNX für Hardware. Sie berücksichtigen alle wichtigen Details wie länderspezifische Frachtraten, Zölle oder Lieferantenkonditionen und stellen somit sicher, dass die Preise aus aller Welt tatsächlich miteinander vergleichbar sind.

Das Verfahren verschafft dem Konzern den direkten Zugang zur weltweit günstigsten Beschaffungsquelle – und schaltet Importeure und Zwischenhändler aus. „Direct Sourcing ist heutzutage eine absolute Muss-Veranstaltung“, sagt Merkel. Sein Unternehmen lässt derzeit etwa ein Drittel der Textil-Eigenmarken unter eigener Regie fertigen, ein Anteil, den der Karstadt-Chef noch deutlich steigern will. Bei diesen No Names nämlich zählt bislang allein der Preis. Und der lässt sich am effektivsten steuern, indem man die konkurrenzfähigsten Partner weltweit identifiziert und gemeinsam mit ihnen nach Wegen sucht, die Produktion zu straffen.

„Ab 50 bis 100 Millionen Euro Einkaufsvolumen in einer Region lohnt sich die Eröffnung eines Einkaufsbüros“, schätzt Peter Breuer, Partner bei McKinsey, der als Global-Sourcing-Experte weltweit Handelskonzerne berät. Breuers Faustregel: Klassische Agenten benötigen bis zu 15 Prozent des Einkaufspreises, um ihre Kosten zu decken. Im Klartext: Bei einer durchschnittlichen Gewinnspanne von etwa fünf Prozent gehen Einzelhändlern zwischen Rohmaterial und Anlieferung des fertigen Produktes bis zu 20 Prozent verloren – eine stattliche Zahl für eine Branche, die ihr Überleben auf magere Margen von einem bis fünf Prozent baut. Und verlockende Werte für den krisengebeutelten KarstadtQuelle-Konzern, der zurzeit die Schließung von Filialen und längere Arbeitszeiten für alle Mitarbeiter plant.

Karstadts Quellen

Die Top-10-Importländer des KarstadtQuelle-Konzerns und ihr Anteil am Gesamtimport (in Prozent, 2003)

1 China/Hongkong 24,9
2 Belgien* 21,9
3 Türkei 8,8
4 Niederlande 6,3
5 Taiwan 4,6
6 Italien 4,4
7 Polen 3,7
8 Südkorea 3,1
9 Indien 2,4
10 Österreich 1,5

Quelle: KarstadtQuelle
*Belgien verdankt seinen (überraschenden) Spitzenplatz der Tatsache, dass ein Großteil so genannter Weißer Ware immer noch in Europa gefertigt und über Belgien importiert wird.

Je enger, desto besser

Ein Engagement vor Ort hilft jedoch nicht nur, Kosten zu senken: Global Sourcing optimiert die Produktion und minimiert die Risiken. „Wer direkt einkauft, kann auch direkten Einfluss auf Gestaltung und Qualität seiner Produkte nehmen“, sagt Peter Breuer. KarstadtQuelle beispielsweise will Qualität, Design und Bekanntheit seiner bislang eher unbekannten Hausmarken Barisal, Anzoni oder Moorhead deutlich stärken – und das geht nun einmal nur in direkter Zusammenarbeit mit den Herstellern. Branchenintern wird dieses immer engere Zusammenrücken der Konzerne an ihre Lieferanten Vertikalisierung genannt.

Modekonzerne wie H&M und Zara, die auf extreme Flexibilität und einen reibungslosen Fluss ihrer Warenströme angewiesen sind, haben die Vertikalisierung in der Branche am weitesten getrieben: Vom Rohwaren-Management bis zum Lieferanten-Coaching sind sie in die Prozesse ihrer Produzenten auf jeder Stufe der Herstellung involviert. Wal-Mart, der weltgrößte Einzelhändler, steuert mittlerweile rund 20 Prozent seines China-Einkaufsvolumens in Höhe von 12,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr vor Ort.

Wer erst einmal an der Quelle ist, kann nicht nur die Prozesse optimieren, er sammelt auch wertvolle Kontakte und Erfahrungen, die sich für eine Vertriebsrepräsentanz im Land nutzen lassen. So haben die Heimwerker von Obi ihre 1998 eröffnete Einkaufsvertretung in Schanghai gleich als Sprungbrett für eigene Vertriebswege genutzt. Die Marke mit dem Biber betreibt heute zehn Retail Outlets im Reich der Mitte.

Für die Karstadt Warenhaus AG ist auf absehbare Sicht kein Markteintritt geplant. „Das Format des Warenhauses lässt sich nicht ohne weiteres exportieren“, meint Vorstandschef Merkel. „Aber als Direct-Sourcing-Land ist China für uns absolut aktuell. Die Konditionen sind hochattraktiv.“ Im Einzelhandel machen die Einkaufskosten zwischen 60 (Textilien) und 80 Prozent (Lebensmittel) des Umsatzes aus. Kein Wunder, dass die Vertreter der Branche seit Beginn der Geiz-ist-geil-Ära gerade an dieser Stellschraube drehen. „Früher war ein Einkäufer lediglich derjenige, der dafür zu sorgen hatte, dass die Ware rechtzeitig im Regal lag“, sagt McKinsey-Berater Breuer. „Heute spielt der Einkäufer eine zentrale Rolle für die strategische Positionierung von Handelskonzernen.“

Die Rolle von Führungskräften wie Jürgen Massion hat sich vom Verantwortlichen für Einkauf zum Supply-Chain-Manager gedreht. Sie organisieren, managen und überwachen vom Rohstoffeinkauf über die Produktion, von der Qualitätskontrolle bis zum Versand eine lange, feingliedrige Herstellungskette, die beispielsweise einen Ballen ägyptischen Baumwollstoff über zig Stationen und Umwege von ein paar zehntausend Kilometern schließlich in einen eleganten auberginefarbenen, gebügelten, versandfertigen Blazer verwandelt.

Das Schmieden einer solchen Supply Chain ist mühsam. Und es beginnt mit der Pflege der bestehenden sowie dem ständigen Suchen und Finden neuer Lieferanten. 299 Produzenten mit knapp 700 Produktionsstätten umfasst KarstadtQuelles chinesisches Netzwerk zurzeit, jedes Jahr kommen 30 bis 50 neue hinzu. Tag für Tag verhandeln Jürgen Massions Merchandiser Termine mit potenziellen Lieferanten, prüfen ihre Produktmuster und gleichen die Vorstellungen der Auftragnehmer in der chinesischen Provinz mit denen der Auftraggeber im fernen Europa ab – keine kleine Aufgabe angesichts der gut 100.000 Einzelaufträge, die KarstadtQuelle Far East & Co in einem Jahr wie 2003 vergeben hat.

„Wir haben in den vergangenen Jahren die Konzentration gefördert, um sicherzustellen, dass wir für Lieferanten wichtig genug sind“, sagt Jürgen Massion. Trotzdem gestaltet sich die Suche nach neuen Lieferanten immer aufwendiger: Die interessanteren Produktionsstätten verlagern sich ins Hinterland. „Früher hat es gereicht, den Markt in einem Umkreis von 200 Kilometern um Schanghai zu beobachten. Heute drängeln sich hier an der Küste alle Konzerne, die qualifizierten Arbeitskräfte werden knapp, die Löhne steigen. Um noch wirklich attraktive Konditionen zu finden, müssen wir weit ins Landesinnere gehen.“

Im Verarbeitenden Gewerbe verdient ein Fabrikarbeiter in Schanghai zurzeit 2667 Dollar im Jahr, sein Kollege in Peking immer noch 2131 Dollar. In der zentralchinesischen Provinz Hubei ist die Leistung für nur 1075 Dollar zu haben. Ein unschlagbares Argument – und dennoch keine leichte Entscheidung: Wiegt der Lohnvorteil den Zeitverlust für den Transport an die Küste auf? Können Qualität und Zuverlässigkeit der unerfahrenen Lieferanten in Hubei mit denen ihrer Konkurrenten an der Küste mithalten? Eine Fehleinschätzung kann bedeuten, dass Jürgen Massion ein halbes Jahr später einen Zentraleinkäufer am Telefon hat, der auf einer Charge verspätet gelieferter, fadenscheiniger und damit unverkäuflicher Textilien sitzt.

Globaler Lohn

Durchschnittlicher Arbeitslohn eines Fabrikarbeiters pro Stunde in US-Dollar (2003)

Deutschland 30,80
Spanien 15,08
Slowenien 6,79
Polen 3,14
Mexiko 1,68
China 0,92

Quelle: EIU Country Data, Heinritz Associates 2004

Unendlich viele Möglichkeiten, sich misszuverstehen

Um Produktmängel möglichst frühzeitig zu erkennen und abzustellen, beschäftigt Massion ein Team von zwölf Inspekteuren, die durchs Land reisen und vor Ort bei Lieferanten die laufende Produktion kontrollieren. Im vergangenen Jahr wurden sie bei gut 21 Prozent ihrer Stichproben fündig. „Im Prinzip müssen wir all das können und wissen, was der Produzent kann und weiß“, sagt Massion, „sonst muss man gar nicht erst anfangen.“ Im Worldwide-Direct-Geschäft gilt ohnehin Murphy’s Law: Was schief gehen kann, geht irgendwann auch schief. So weiß Massion von seltsam anmutenden Schnitten, löchrigen Stoffen und Businessanzügen zu berichten, die aussahen wie Ritterrüstungen, weil die Chinesen sie ganz selbstverständlich mit den landesüblichen starren Einlagen ausgestattet hatten.

Dem Lieferanten kann man oft nicht einmal einen Vorwurf machen – woher soll eine Näherei an der Grenze zu Nordkorea auch wissen, was ein Einkäufer in Fürth unter „auberginefarben“ oder „elegante Passform“ versteht? „Allein bei Bettwäsche haben wir acht bis zehn verschiedene Qualitäten identifiziert“, erzählt Massion, „das kann zu acht bis zehn verschiedenen Preisen führen.“ Die Kunst des Direct Sourcing bestehe deshalb auch darin, Aufträge so detailliert und unmissverständlich wie möglich zu formulieren, denn „die Möglichkeiten, sich falsch zu verstehen, sind nahezu unendlich.“ Und Urteile im Falle eines Streits eher selten: „In China eine Konventionalstrafe einzutreiben, ist de facto unmöglich“, weiß Massion. „Wir setzen deshalb lieber auf unsere Bedeutung für Partner – und darauf, dass sie auch in Zukunft mit uns zusammenarbeiten wollen.“

Die Zhongxuan Garment Co. Ltd., jene Schanghaier Näherei, an die der deutsche Zentraleinkauf den Auftrag für den Blazer schließlich vergibt, ist ein alter, treuer Karstadt-Bekannter. Die Privatfirma, vor sieben Jahren von den jungen Chinesen Michael Wu und Henry Cheng gegründet, fertigt unter anderem für den Otto-Versand, das französische Versandhaus 3 Suisses und den KarstadtQuelle-Konzern, dessen Name aus Chengs Mund wie „Kah-Schtatt-Kwell-Aah“ klingt. Chengs Näherei liegt in einem weißen vierstöckigen Zweckbau, 80 Kilometer vom Stadtzentrum Schanghais entfernt. Es gibt eine Kantine mit eigener Tischtennisplatte, klimatisierte Arbeitsplätze und Slogans wie „Quality is life“ oder „Volume is the benefit“ an den Wänden im Treppenhaus. Die meisten der 800 Zhongxuan-Mitarbeiter stammen aus Anhui, einer armen Provinz 300 Kilometer westlich der Stadt gelegen; viele wohnen in Wohngemeinschaften rund um die Fabrik zur Miete und sehen ihre Familien nur während der dreiwöchigen Betriebsferien um das chinesische Neujahrsfest. Bezahlt wird nach Akkord, was aus Sicht von Henry Cheng den Vorteil hat, „dass die Arbeiter mit steigender Produktivität mehr verdienen, ohne dass wir mehr pro Stück zahlen müssen.“

Als einer von zunächst 50 chinesischen Herstellern wird Zhongxuan demnächst vonZertifizierungsteams der Außenhandelsvereinigung des Deutschen Einzelhandels (AVE) besucht werden, die im Auftrag des Konzerns weltweit Lieferanten auf Einhaltung humaner Arbeitsbedingungen überprüfen. „Wer die Zertifizierung nicht schafft, bekommt von uns eine zeitlich befristete zweite Chance. Lieferanten, die die AVE-Kriterien auch danach nicht erfüllen, werden wir unsere Aufträge entziehen“, kündigt Karstadt-Vorstand Merkel an. Selbst die fortschrittliche Zhongxuan-Fabrik könnte jetzt Probleme bekommen, denn die AVE-Kriterien schreiben unter anderem eine Wochenarbeitszeit von maximal 48 Stunden vor – zwölf weniger, als in Zhongxuan und in vielen anderen Fabriken in China regulär gearbeitet wird.

In dieser Zeit näht, schneidet oder packt ein Arbeiter und verdient im Schnitt 1100 Yuan, umgerechnet etwa 130 US-Dollar im Monat. Gearbeitet wird zehn Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche – theoretisch jedenfalls, praktisch werden die Zhongxuan-Nähereien zurzeit wie viele Schanghaier Unternehmen durch chronische Stromausfälle lahm gelegt. Cheng weiß jetzt schon, dass er seine Mitarbeiter demnächst wieder eine Woche lang von Mitternacht bis sieben Uhr morgens zur Arbeit rufen wird, wenn die Stadtverwaltung der Firma nur für ein paar Nachtstunden Strom zuteilt. „Die Energieversorgung ist ein Albtraum“, sagt Jürgen Massion, „viele unserer Lieferanten wissen nicht, wie sie ihre vereinbarten Kapazitäten schaffen sollen.“

Zwischen Auftrag und Auslieferung liegen drei Monate

Verläuft alles nach Plan, braucht Zhongxuan knapp zwei Monate, bis die Näherei Massions Blazer-Bestellung gefertigt, gebügelt und auf Kleiderständern in einen Container gerollt hat. Danach übernimmt OOCL Logistics das Kommando. Der Hongkonger Logistiker ist Central Service Provider und damit exklusiver Logistik-Dienstleister der KarstadtQuelle Far East & Co. Zwei Tage vor dem vereinbarten Verschiffungstermin holt ein Spediteur den Container bei Zhongxuan ab und transportiert ihn in den Schanghaier Hafen Waigaoqiao. Gut 25.000 Container pro Jahr hat OOCL auf Reedereien zu verteilen. Die nominiert der deutsche Konzern selbst. Ladekapazitäten sind ziemlich knapp in China.

In wenigen Monaten dürfte der Kampf um Containerraum noch einmal an Härte zulegen, wenn Anfang 2005 auch die letzten Beschränkungen für den Textilhandel fallen, die europäische und amerikanische Hersteller 40 Jahre lang vor Billig-Importen aus China geschützt haben. Die Entwicklung aus jüngster Vergangenheit lässt für die westliche Industrie wenig Gutes erahnen: Als Anfang 2002 die Quoten für Babykleidung und Damenunterwäsche abgeschafft wurden, legten die Importe aus China in die USA binnen zwölf Monaten um 826 beziehungsweise 232 Prozent zu. Ab Januar könnten nach Schätzungen des Washingtoner National Council of Textile Organizations Länder wie Mexiko, Türkei und Sri Lanka 200 Milliarden Dollar Exportvolumen an China abgeben müssen – und 30 Millionen Textilarbeiter in Kanada, Deutschland oder Taiwan ihre Jobs verlieren. „Einige Länder werden deutlich Anteile einbüßen oder vielleicht sogar ganz aus dem Rennen fallen“, prophezeit Bruce Rockowitz, Executive Director bei der Firma Li & Fung in Hongkong, die für Marken wie American Eagle Outfitters oder Abercrombie & Fitch weltweit Textilien einkauft. Nach Rockowitz’ Schätzungen dürften sich langfristig 70 bis 80 Prozent der weltweiten Textilproduktion nach China verlagern. Auch Karstadt-Chef Merkel sieht für seine Direct-Sourcing-Vereinbarungen mit chinesischen Fabriken „in den kommenden Jahren überhaupt kein Limit nach oben“ (siehe Interview).

Um von diesen Fabriken nach Europa zu gelangen, benötigt ein schnelles Containerschiff gute drei Wochen. Es pflügt durch das Ostchinesische Meer, fährt an der Skyline Hongkongs vorüber, durchquert den Suez-Kanal, passiert die Straße von Gibraltar und dockt schließlich am 27. Tag seiner Reise im Hamburger Hafen an. Drei Monate, nachdem Jürgen Massion die Order für eine Charge auberginefarbener Blazer erteilt hat, werden die Kleider im Leipziger Quelle-Zentrallager entladen. Auf Bügel gehängt, warten sie dort darauf, dass irgendjemand irgendwo in Deutschland sie im Quelle-Katalog entdeckt und bestellt.

Importeure versus Direkteinkäufer

Was für Importeure spricht ...

_Häufig langjährige Expertise in einzelnen Produktfeldern _Arbeiten auf eigenes Risiko, erfordern keinen Kapitaleinsatz des Kunden
_Ersetzen die kundeneigene, aufwendige Supply Chain _Zugang zu Märkten, in denen sich eine kundeneigene Einkaufsorganisation nicht lohnt (Vanille beispielsweise kommt fast ausschließlich aus Mauritius – einem Markt, der sonst wenig zu bieten hat).

Was für Direkteinkauf spricht ...

_Möglichkeit der Differenzierung im Warenangebot gegenüber anderen Einzelhändlern
_Möglichkeit, über direkte Einflussnahme auf die Wertschöpfungskette – Design, Produktion, Supply Chain – weitere Wertschöpfungspotenziale zu erzielen
_Bis zu 20 Prozent Kostenersparnis gegenüber Einkauf bei Importeuren
_Volle Kontrolle über den gesamten Fertigungs- und Logistikprozess = maximale Liefersicherheit
_Einkaufsbüros können als Brückenköpfe für den eigenen Markteintritt dienen
_Direkte Zusammenarbeit mit Produzenten, dadurch die Möglichkeit, Produkte über Design und Qualität stärker zu differenzieren.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.