Straße der Befreiung

China ist das Land der Lastwagenfahrer. Weil das Eisenbahnnetz kaum ausgebaut ist, läuft der Warentransport in erster Linie über die endlosen Straßen des Riesenreiches. Vor allem die Route in den Nordwesten, Richtung Russland und Europa, ist stark befahren. Die Trucker Wang und Jiang sind dort quasi zu Hause.




Der Laster schlingert gefährlich von einer Seite zur anderen und verfehlt nur knapp den Straßenrand. Wang Xuefeng hat die Hände zu Fäusten geballt und brüllt die dreckigsten Kraftausdrücke, die das Chinesische hervorgebracht hat. Sein Partner, Jiang Xiaoxu, kann normalerweise unter allen Bedingungen schlafen, doch jetzt schaut er unter dem dicken Militärmantel, mit dem er sich in der Koje hinter dem Fahrersitz zugedeckt hat, hervor und pflichtet Wang bei: „Die Bullen sind Schweine.“

Seit 24 Stunden sind die beiden unterwegs, sieben Tonnen in große Ballen eingeschweißte Kleidung sollen von Peking nach Urumqi, die Hauptstadt der nordwestlichen Provinz Xinjiang. Dort wird die Fracht umgeladen und weitergeschickt in Richtung kasachische Grenze, dann auf einem anderen Lkw nach Russland, weiter nach Osteuropa, auf die großen Straßenmärkte von Moskau, Warschau und Budapest, und schließlich in immer kleineren Portionen, in Koffern und Plastiktaschen auf Märkte und in Läden sonstwo in Europa. Lastwagen für Lastwagen lassen chinesische und russische Händler so hunderttausende Tonnen Unterwäsche jeder Art, Hand- und Küchentücher, Hosen, Jeans, T-Shirts, Sportschuhe und Parfüms nach Europa bringen.

Der Anlass für Wangs Wutausbruch in dieser Nacht war die achte Polizeikontrolle innerhalb weniger Stunden. 100 Yuan hat sie diesmal gekostet, umgerechnet zehn Euro. Wang verlangte eine Quittung, doch der Beamte blaffte ihn nur an: „Eine Quittung? Gern! Macht 500 Yuan!“

„Die stecken das Geld in ihre eigene Tasche“, schimpft Wang. Nach dem Grund für den Strafzettel zu fragen, hatte er sich gar nicht erst getraut. „Die machen, was sie wollen. Dein Laster kann in noch so gutem Zustand sein – sie lassen dich erst gehen, wenn du bezahlt hast.“

Am Straßenrand verkündet ein Schild: „Willkürliche Strafen verstoßen gegen das Gesetz.“ Doch die schlecht bezahlten Polizisten kümmert es nicht. Erpressung ist ihre einzige Möglichkeit, das karge Gehalt aufzubessern – und sie nutzen sie mit erschreckender Einigkeit.

Wang und Jiang sind mit ihrem Lastwagen trotzdem ganz gut im Geschäft. Die Beschaffung neuer Aufträge ist für die Kleinstunternehmer allerdings harte Arbeit. Mehrere Nächte nacheinander klapperten die beiden verschiedene Speditionen in Peking ab. „Es gibt zu wenig Fleisch für zu viele Leute“, erklärte ihnen Zhao, der Boss eines kleinen Frachtbetriebs – dann gab er ihnen aber doch einen Auftrag. Früher hatte er einen kleinen Posten in der Parteibürokratie, heute nutzt er seine Autorität, um ungeduldige Trucker ruhig zu halten. Zusammen mit einem Dutzend anderer Fahrer saßen Wang und Jiang kettenrauchend und dicht gedrängt in Zhaos kleinem Büro und spielten stundenlang Karten. Vor der Tür waren gut 20 Arbeiter damit beschäftigt, Pakete mit Klebeband einzuwickeln und auf Laster zu verladen. Auch auf völlig überfüllte Ladeflächen wurden immer noch ein paar Kartons draufgepackt. Um sie herum patrouillierten russische Händler, die mit scharfem Blick die Abfertigung ihrer Waren überwachten.

Pelze und Ramsch

Allein von Zhaos kleinem Pekinger Hinterhof fahren jede Nacht mehrere Laster Richtung Russland. Vom ganzen Viertel aus sind es mehrere hundert. Weil ein beträchtlicher Teil der Exporteure Russen sind, wird hier, mitten in Peking, am Rande des neuen Central Business District, ebenso viel Russisch wie Chinesisch gesprochen. Überall findet sich kyrillische Schrift, russisch sind die Supermärkte, Restaurants, Hotels und Diskos. Die Yabaolu, die „Straße der asiatischen Kostbarkeiten“, ist gesäumt von riesigen Kaufhäusern, in denen hunderte chinesischer Zwischenhändler in muffigen Verschlägen hocken. Ihre Verkaufsräume dienen auch als Lager. Sie sind bis unters Dach voll gestopft mit Kleidung, Schuhen und allen möglichen Gegenständen. Doch hier wird keineswegs nur Ramsch verkauft: An der Yabaolu befindet sich auch der vielleicht größte Pelzmarkt der Welt. Und da die meisten internationalen Markenmodehersteller inzwischen in China nähen lassen, tauchen hier kistenweise echte Designer-Hosen, Edelkostüme und Markenschuhe auf, die in den Fabriken unter der Hand weitergegeben oder direkt für den Schwarzmarkt hergestellt wurden.

Keiner weiß, wie viel Geld durch die Hände der vielen tausend chinesischen und russischen Kaufleute geht, wie viele und welche Waren genau die asiatischen und osteuropäischen Grenzen passieren. Auf dem Papier tauschten Russland und China jährlich Güter im Wert von 15 Milliarden US-Dollar aus, Tendenz steigend. Russland ist damit Chinas achtgrößter Handelspartner. Doch in dieser Statistik erscheinen etliche der hier verschnürten Kleiderballen nicht.

Wangs und Jiangs Lastwagen der Marke Jiefang, auf Deutsch Befreiung, stammt aus chinesischer Produktion. Mehr als 80 Stundenkilometer schafft der Zwölftonner nicht, trotzdem wird er höchstens zweimal am Tag von einem ausländischen Lkw überholt. Auf dieser Strecke sind die chinesischen Marken Jiefang und Dongfeng (Ostwind) fast unter sich.

Die beiden Fernfahrer aus der nordchinesischen Provinz Hebei haben alles abgefahren, was Chinas Straßenkarte zu bieten hat, von funkelnagelneuen Autobahnen bis hin zu holprigen Feldwegen. Wang ist 45 und wird von seinem Kompagnon nach chinesischer Art „alter Wang“ genannt. Er trägt eine schwarze Lederweste über dem hervorquellenden Bauch. Sein Gesicht ist aufgedunsen vom öligen nordchinesischen Essen und vom Alkohol. Der zehn Jahre jüngere Jiang ist einsilbig, verschlossen und schwer zu erschüttern. Beide sind verheiratet und haben Kinder, aber sie können nur alle drei Monate nach Hause gehen, für drei bis vier Tage, manchmal auch nur für paar Stunden. „Man gewöhnt sich daran“, sagt Wang.

Das Ansehen von Lastwagenfahrern ist gering, obwohl sie für chinesische Verhältnisse überdurchschnittlich verdienen. Als Freiberufler werden die beiden pro Auftrag bezahlt. Eine Fahrt nach Urumqi bringt rund 8000 Yuan (etwa 800 Euro), auf der Rückfahrt 4000 Yuan, weil es weniger Waren zu transportieren gibt. Das Geld reicht gerade, um die Kosten zu decken: Treibstoff, Verpflegung, Maut-Gebühren und die ewigen Bestechungsgelder für die Polizisten. In einem guten Monat schaffen sie die Strecke Peking-Urumqi zweimal, aber im Winter sind die Straßenverhältnisse zeitweise so schlecht, dass sie gar nicht fahren können. Von ihrem Gewinn müssen sie noch die Kreditraten und die Versicherung für ihren Laster zahlen, der 15.000 Euro gekostet hat. Viel bleibt da am Ende des Monats nicht übrig.

Hunderttausende solcher fahrenden Zweimannbetriebe gibt es in China. Lastwagen sind das wichtigste innerchinesische Transportmittel. Große, landesweit tätige Speditionsunternehmen existieren noch nicht, und so bleibt fast der gesamte Warentransport Kleinunternehmern wie Wang und Jiang überlassen. Chinas Straßennetz ist viel besser ausgebaut als die Eisenbahn. Das Autobahnnetz mit mehr als 30.000 Kilometern ist heute schon das drittgrößte der Welt. Allein im vergangenen Jahr kamen 4600 Kilometer dazu. Zwei Nord-Süd- und zwei Ost-West-Trassen durchqueren das Land, bis 2010 sind insgesamt zwölf solcher Hauptadern geplant.

Der Verkehr spült auch ein wenig Geld in die verarmte Provinz. Im unwirtlichen Norden, durch den Wangs und Jiangs Route führt, zahlt es sich immer weniger aus, Landwirtschaft zu betreiben. Erosion, Verwüstung und Wassermangel machen den Bauern das Leben schwer. Viele der Dorfbewohner haben die Landwirtschaft ganz aufgegeben und kleine Tankstellen und Raststätten eröffnet. Mittlerweile hängen ganze Dörfer vom Speditionsgewerbe ab. Reich werden sie jedoch nicht, denn die Trucker sind sparsam. Wang und Jiang gönnen sich nur zweimal am Tag eine Pause in einem der trostlosen Orte entlang der Strecke.

„Kein Bier für mich“, sagt Jiang beim Mittagessen. Nicht, dass ihm die Sicherheit im Straßenverkehr am Herzen läge. „Wenn man viel Bier trinkt, braucht man viele Pinkelpausen, und dafür haben wir keine Zeit“, erklärt er und bestellt eine Flasche Erguotou, scharfen chinesischen Doppelkorn mit 54 Prozent Alkohol. Die Fahrer schwören darauf. Der Schnaps schütze vor Erkältungen und sei gut für den Magen, heißt es. Wang und Jiang kippen ein paar Gläser mit anderen Truckern, um Kraft für die nächsten Kilometer zu sammeln.

Keine Zeit für Spaß

Früh am Morgen überqueren sie die Grenze nach Ningxia, eine der ärmeren Provinzen Chinas. Die Straße führt an rußgeschwärzten Fabrikgebäuden mit qualmenden Schloten vorbei. Kinder schlängeln sich auf Fahrrädern zwischen den Lastwagen hindurch, alte Leute suchen am Straßenrand nach Kohlestücken, die manchmal von den Ladeflächen fallen. Unendlich weit sind die glitzernden Megastädte der chinesischen Ostküste.

„Iss was, und dann können wir doch ein wenig Spaß zusammen haben“, sagt eine junge Frau, als Wang und Jiang bei der nächsten Pause aussteigen. Ihre Kleidung macht jede Frage nach ihrem Beruf überflüssig. Wang grunzt mürrisch, nicht wegen des Angebots, sondern weil ihm der Preis zu hoch ist. „Früher konnten wir uns öfter eine Frau leisten. Damals fuhren wir nur bei Tag, in der Nacht hatten wir frei.“ Zwar ist Prostitution in China illegal, doch keiner kümmert sich darum. Schon kurz hinter Peking stehen die Mädchen am Straßenrand. Meistens arbeiten sie als Kellnerinnen, Verkäuferinnen oder als Pächterinnen von Tankstellen. „Arme Mädels“, sagt Wang mitleidig, „die haben kaum noch Kunden.“

Eine Nacht, zwölf Stunden Fahrt und 700 Kilometer weiter ist das Ende von Ningxia erreicht. Die Lösslandschaft geht langsam in Wüste über. Ab und zu ist noch das schlammige Bett des Gelben Flusses zu sehen, er trägt seinen Namen nicht ohne Grund. In der Provinz Gansu gibt es kaum Zeichen menschlichen Lebens. Die wenigen Häuser sind staubgrau wie die Erde, aus der sie gemacht sind. Bäume und Menschen haben gleichermaßen die Farbe der Wüste angenommen. Ein paar Kamele tauchen auf.

Die Reise führt an den verfallenen Resten der Chinesischen Mauer vorbei. Ihre letzten Ausläufer haben hier einst das Reich der Mitte vor den Barbaren beschützt.

Ankunft in einer anderen Welt

Der alte Laster frisst unverdrossen Kilometer um Kilometer. Jiang brennen die Augen, seit Stunden starrt er angespannt auf die löchrige Piste. Den rosaroten Sonnenuntergang sieht er ebenso wenig wie die malerischen Dünen links und rechts der Straße. Die einzige Abwechslung sind die großen pyramidenförmigen Türme, mit denen ungefähr alle hundert Kilometer die Tankstellen schon von weitem auf sich aufmerksam machen. Die öde Landschaft macht müde. Fahrer und Fahrzeuge geraten an ihre Grenzen. Liegen gebliebene Lkws und der Schrott verunglückter Lastwagen säumen die Straße. Die Nächte in Xinjiang sind frostig und finster. Die einzigen Lichter sind die Lagerfeuer, an denen sich die Fahrer der kaputten Laster wärmen, bis sie am nächsten Morgen bei Tageslicht ihre Werkzeugkästen hervorholen können.

Urumqi rückt Stück um Stück näher. Wang und Jiang kramen ihre Handys heraus, um sich schon von hier aus nach einem Auftrag für die Rückfahrt zu erkundigen. Im Morgengrauen erreichen sie die Vorstädte der Provinzhauptstadt. Drei Tage und drei Nächte haben sie für die 4000 Kilometer von Peking gebraucht, jetzt sind sie in einer anderen Welt angekommen: Arabische Schriftzeichen prägen das Stadtbild, Moscheen, Kamele, verschleierte Frauen und fromme Männer. Xinjiang ist die Provinz der Uiguren, die sich den moslemischen Völkern Zentralasiens erheblich näher fühlen als den Han-Chinesen. Es ist höchste Zeit, dass „Befreiung“ ankommt: Die mit dicken Seilen vertäute Ladung rutscht immer weiter auf die linke Seite. Der Boden des Führerhäuschens ist bedeckt mit Zigarettenstummeln und Schalen von Sonnenblumenkernen. Der Stapel mit Strafzetteln ist so dick geworden, dass der Magnet, der die Knöllchen an der Kabinenwand festhalten soll, ständig herunterfällt. Der Spediteur in Urumqi wartet auch schon ungeduldig. Wang, Jiang und der Laster „Befreiung“ werden sich eine kurze Ruhepause gönnen, dann steht der Rückweg an – eine weitere Etappe ihrer lebenslangen Odyssee durch China.

4000 Kilometer ostwärts

Regionen, die die Spediteure durchqueren:

PEKING

Bevölkerung: 13,8 Millionen
Fläche: 16.800 Quadratkilometer
BIP: 30,84 Milliarden Euro
BIP pro Kopf: 2734 Euro
Industrien: Verwaltungszentrum des Landes, Sitz aller großen Firmen, Forschung und Entwicklung, Computer- und Autoproduktion

HEBEI

Provinzhauptstadt: Shijiazhuang
Bevölkerung: 67,35 Millionen
Fläche: 187.700 Quadratkilometer
BIP: 59,91 Milliarden Euro
BIP pro Kopf: 894 Euro
Ethnien: 96 Prozent Han-Chinesen
Industrien: Kohle, Öl, Eisenerz

INNERE MONGOLEI

Hauptstadt: Hohhot
Bevölkerung: 23,8 Millionen
Fläche: 1,1 Millionen Quadratkilometer
BIP: 17,05 Milliarden Euro
BIP pro Kopf: 713 Euro
Ethnien: 85 Prozent Han-Chinesen; 15 Prozent Mongolen
Industrien: Landwirtschaft, Viehzucht, Schwerindustrie (Kraftwerke, Chemie)

NINGXIA

Hauptstadt: Yinchuan
Bevölkerung: 5,72 Millionen
Fläche: 66.400 Quadratkilometer
BIP: 3,25 Milliarden Euro
BIP pro Kopf: 572 Euro
Ethnien: zwei Drittel Han-Chinesen, ein Drittel Hui
Industrien: Kohle, Metall verarbeitende Industrie, Leichtindustrie

GANSU

Provinzhauptstadt: Lanzhou
Bevölkerung: 26 Millionen
Fläche: 454.000 Quadratkilometer
BIP: 11,43 Milliarden Euro
BIP pro Kopf: 443 Euro
Ethnien: Han-Mehrheit, viele Minoritäten, darunter Hui, Mongolen, Tibetaner und Kasachen
Industrien: Schwerindustrie (Metall, Petrochemie), Baumaterialien, Maschinenbau

XINJIANG

Provinzhauptstadt: Urumqi
Bevölkerung: 19 Millionen
Fläche: 1,6 Millionen Quadratkilometer
BIP: 14,85 Milliarden Euro
BIP pro Kopf: 825 Euro
Ethnien: 45 Prozent Uiguren, 40 Prozent Han-Chinesen, außerdem: Kasachen, Hui, Mongolen, Kirgisen, Tadschiken, Tartaren, Russen, Mandschus, Usbeken
Industrien: Erdöl und Erdgas

(Alle Angaben: Stand 2002)

CHINESISCH-RUSSISCHER HANDEL

Russland ist Chinas achtgrößter Handelspartner, umgekehrt ist China Russlands viertgrößter Handelspartner. 2003 betrug das Handelsvolumen 15,76 Milliarden US-Dollar; das entspricht einem Wachstum von 32 Prozent. Ein beachtlicher Teil des Handels erfolgt allerdings illegal entlang der mehr als 4000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze zwischen Russland und China. Den überwiegenden Teil machen derzeit chinesische Textilien und Lebensmittel aus. Die Handelsbilanz könnte in den kommenden Jahren kippen, weil China in großem Maßstab Erdöl aus Russland importieren will. Peking strebt den Bau einer Pipeline an, die in den kommenden 25 Jahren 700 Millionen Tonnen für rund 150 Milliarden US-Dollar von den sibirischen Ölfeldern nach China liefern soll.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.