Walk of Pain

Wann kennt ein Hersteller eigentlich seinen Markt? Nach drei Jahren vor Ort? Nach fünf? Nach zehn? Die Volkswagen AG verkauft seit rund 20 Jahren Autos in China – und entdeckt den Kunden und seine Wünsche erst jetzt ganz neu.
Trendscouts in China, Indien und den USA sollen künftig dabei helfen, überall auf der Welt Autos zu bauen, die der Konsument auch wirklich will.




Stefan Liske, Manager für Konzern-Produktstrategie bei Volkswagen, beschreibt den globalen Wettbewerb gern mit einem überirdischen Vergleich: VW stehe vor ähnlichen Herausforderungen wie die USA vor 40 Jahren, als sie zum Mond wollten. Haben wir eine Chance, fragte 1961 Präsident John F. Kennedy seinen Vize Lyndon B. Johnson, vor den Russen auf dem Mond zu landen? Die Antwort war das Apollo-Programm, eine Nation im Weltraumfieber, schließlich 1969 die amerikanische Flagge im grauen Staub des Erdtrabanten. 1971 folgte ein weltraumtauglicher Geländewagen – das Lunarmobil fuhr über die Mondoberfläche.

Volkswagen will nicht zum Mond, sondern den Wettlauf um die Garagenbelegung der Erdbewohner gewinnen. Und Gegner sind nicht die Russen. Sonst aber ist die Konstellation ähnlich: „Wir fragen uns heute“, sagt Liske, „haben wir eine Chance gegen Japaner, Koreaner und Amerikaner?“ Wie bei Kennedy ist die Frage natürlich nur rhetorisch, die Antwort muss Ja lauten. Denn es geht um Macht, um die Stellung des größten europäischen Automobilkonzerns auf dem künftigen Weltmarkt.

In den USA, dem größten Automarkt der Welt, jubeln andere deutsche Autohersteller über Rekordergebnisse – Volkswagen schrieb in den beiden vergangenen Jahren Verluste von je rund einer Milliarde Dollar. In China haben sich die Zahlen für Auto-Neuzulassungen seit der Jahrtausendwende auf fast dreieinhalb Millionen pro Jahr verfünffacht. Beim VW-Konzern sank der Absatz auf 572.000 Autos im Jahr 2005 – fast zwölf Prozent weniger als im Vorjahr. China ist für VW immer noch der zweitwichtigste Markt nach Deutschland, doch die Anteile gegenüber den Konkurrenten sind von einst 50 auf weniger als 20 Prozent geschrumpft.

Auch wenn nach dem Beitritt Chinas zur WTO und dem geöffneten Markt mit einer Verschiebung von Marktanteilen zu rechnen war und auch wenn sich die Vorlieben der noch jungen mobilen Autokäufergeneration naturgemäß rasend schnell wandeln: Ursache für den Umsatzeinbruch war nicht zuletzt eine verfehlte Modellpolitik. Die Wolfsburger haben den Geschmack der Autokäufer immer öfter verfehlt.

Welches Auto hätten Sie denn gern?

Weil sich das künftig ändern soll, ändern muss, hat der Konzern vor anderthalb Jahren ein ungewöhnliches Projekt auf den Weg gebracht. „Moonraker“ heißt das Programm, das dabei helfen soll, den Bedürfnissen der Kundschaft in den neuen Märkten oder in den USA auf die Schliche zu kommen und den Hersteller wieder vorn mitspielen zu lassen.

Der Name kommt nicht von ungefähr: Die Erforschung des Kunden und seiner Wünsche gleicht einer Expedition in fremde Welten, das muss nicht nur VW im Zuge der Globalisierung noch besser lernen. Welches Auto will der Chinese aus der Mittelschicht wirklich? Wovon träumt der Inder, der sich den Luxus auf vier Rädern erstmals leisten kann? Und welches Gefährt erfüllt die Anforderungen der modernen kalifornischen Autofahrerin, die zwar Mutter, aber auch cool sein will?

All das sollen bei VW internationale Teams herausfinden, die von der Zentrale rund um den Globus geschickt werden. Die bunt gemischten Trupps aus Designern und Konstrukteuren, Finanzfachleuten und Marketingexperten heften sich der Bevölkerung in den USA und in China, in Indien und künftig auch in Russland an die Fersen. Die Trendscouts begleiten Hausfrauen beim Einkauf, beobachten Familien beim Abendessen, befragen Schriftsteller, Rockmusiker und Filmemacher, um herauszufinden: Welches Auto hätten Sie denn gern?

„Idealerweise produziert man ein Weltauto“, sagt Michael Lohscheller, Marketing-Manager und Chef der Teams in China und Indien. „Aber das war vielleicht noch zu Zeiten des Käfers möglich.“ Inzwischen ist das Universalauto nach dem Motto „eines für alle“ Vergangenheit, ein ausgeträumter Traum. „Heute muss man regional denken.“

Michael Lohscheller ist 37, ein hagerer Zwei-Meter-Mann mit freundlichem, offenem Blick. Von seinem Wolfsburger Büro im fünften Stock kann er am Kanal entlang über eine Reihe von Kleingärten auf das alte Werk schauen, in dem Carl Hahn vor gut 20 Jahren das China-Geschäft eingefädelt hat. In der Volksrepublik hatte Volkswagen einst Pionierstatus. Mit dem legendären VW Santana, bis heute in einem Joint Venture mit Shanghai Automotive Industry Co. (SAIC) produziert, begann 1985 die Motorisierung Chinas, insbesondere die seiner Machthaber. Volkswagen war der erste ausländische, in China zugelassene Hersteller. Dem Unternehmen wurden Steuervergünstigungen eingeräumt und ein erleichterter Zugang zu Devisen und Rohmaterialien. Eigens für VW erließ die Führung sogar ein Gesetz, das chinesischen Taxis eine Hubraumgröße von mindestens 1,6 Liter vorschrieb. Die inländische Konkurrenz bot nur kleinere Modelle an und war damit ausgeschaltet.

Chrom, Kitsch, schwarzer Lack und ein breiter Hintern

Diese Privilegien sicherten VW lange die Vorreiterrolle. Doch heute sind 80 Prozent der Käufer Privatleute. Die meisten von ihnen erwerben zum ersten Mal in ihrem Leben ein Auto. Sie haben andere Wünsche als Funktionäre, in der Regel auch weniger Geld und können in dem offenen Markt aus einer wachsenden Anzahl von Automarken wählen. Volkswagen ist zwar immer noch Marktführer, doch die Konkurrenz, an der Spitze General Motors, hat mächtig aufgeholt und sucht die Lücke zum Überholen.

Dieser Entwicklung sollen die Trendscouts entgegenwirken. Sie reisen für je drei bis sechs Monate durchs Land, studieren nicht nur Autos und ihre Fahrer, sondern auch chinesische Architektur, Mode und Musik und versuchen so herauszufinden, welche Vorlieben die Käufer künftig umtreiben werden. Mittlerweile hat Volkswagen China in 48 Segmente unterteilt. „Kunden an der Ostküste wollen ein ganz anderes Fahrzeug als die Käufer im Hinterland“, hat Weiming Soh, Vizepräsident für Verkauf und Marketing in Schanghai, kürzlich erklärt.

Grundsätzlich gilt: Günstig müssen die Autos sein, auch im Verbrauch, wegen der steigenden Spritpreise. Gleichwohl sind Chinesen statusbewusst, lieben Kitsch und Unterhaltungselektronik. Ein Wagen muss deshalb nicht turboschnell beschleunigen können, er braucht auch keine serienmäßigen Airbags, und die Fenster kurbeln die Chinesen gern per Hand. Doch äußerlich muss ein Auto etwas hermachen. Was gut ankommt: Chrom, eine schwarze Lackierung wie bei den Wagen für Parteikader, eine ausladende Karosserie, breite Felgen. Wichtig ist ein ordentlicher „pi gu“ – der Hintern, wie die Chinesen das Stufenheck nennen. Und ein eingebauter MP3-Player ist ein Muss.

Solche und ähnliche Wünsche erfasst auch die „New Car Buyer“-Studie für China, die das Marktforschungsunternehmen Automotive Resources Asia dieses Jahr zum ersten Mal veröffentlicht hat. Aus ihr geht hervor, dass Chinesen markenbewusster geworden sind, dass sie mit einem Auto Selbstbewusstsein, Erfolg und Familiensinn demonstrieren und dass es auch ihnen um traditionelle westliche Autofahrerwerte wie Freiheit und Abenteuer geht.

Die Studie liefert jedem Autohersteller eine Reihe nützlicher Informationen. „Doch die Kundenwünsche ändern sich schnell, insbesondere in derart dynamischen Ländern wie China“, meint Lohscheller. Er erwartet von seinen Scouts deshalb deutlich mehr als die unabhängigen asiatischen Marktforscher bieten. Beispielsweise Beobachtungen wie diese: Die meisten Chinesen haben nur ein Kind, das sitzt hinten und ist tendenziell verwöhnt. Aus so einer Einsicht will der Manager Rückschlüsse ziehen. Denn die Kunst liegt nicht allein im Beobachten, sondern vor allem im Transfer der Erkenntnisse auf die Modellpolitik. Eine bequemere Rückbank für den anspruchsvollen Nachwuchs müssen die VW-Werker in Schanghai wohl nicht einbauen, meint Lohscheller, aber künftig vielleicht eine zusätzliche Elektronikkonsole? Die begehrte ausladende Karosserie ist vor Ort bereits Realität geworden: Der neue Passat Lingyu ist breiter und länger als das Modell für den deutschen Markt, und tatsächlich verkauft sich die optimierte Limousine besser als ihr Vorgänger.

Auch in Indien erhofft sich der Konzern von seinen Scouts wertvolle Impulse. Den Subkontinent erreichte VW recht spät, aber die Bedingungen sind für den Autobauer verlockend. Die Bevölkerung des Landes ist extrem heterogen, und die Menschen mit ihren unterschiedlichen Wünschen bilden einen gigantischen Wachstumsmarkt. Experten schätzen, dass sich die Absatzzahlen in den nächsten sieben Jahren verdoppeln werden. Genau wie in China können sich die meisten Inder kein teures Auto leisten. Weil aber Dienstleistungen billig sind, lassen sich Geschäftsleute im VW-Polo von einen Chauffeur durchs Verkehrschaos kutschieren, während sie im Fond arbeiten. Manche hätten sich kleine Tischchen gebastelt, erzählt Michael Lohscheller. Ein Konstrukteur könne nun überlegen: Wäre es sinnvoll, Modelle mit mehr Beinfreiheit auf den hinteren Plätzen und einer Ablagefläche zu bauen? Auch mit traditionellen kulturellen Aspekten muss sich der Konstrukteur in Zukunft wohl auseinander setzen. Lohscheller selbst wurde Zeuge, wie sich Turban tragende Inder ins Auto mühen – seitdem kann er sich vorstellen, wie sehr sich Millionen Sikhs über höhere Einstiege und lichtere Deckenhöhen freuen würden.

Informationen, Spürsinn und Gefühl

Was ist das Innovative am Trendscouting, der Methode, die in anderen Branchen schon lange als Sensor für Konsumentenwünsche genutzt wird? „Es ist der Versuch, die Gegenwart in ihrer Komplexität zu erfassen, um die Zukunft zu verstehen“, sagt Volker Trommsdorff, Professor für Marketing an der Technischen Universität Berlin. Trendscouting erfordere ein „totales Umdenken“. Auf Seminaren, die der Wissenschaftler mit Stefan Liske, dem Initiator der VW-Scouting-Projekte, veranstaltet, erklärt er den Unterschied zwischen klassischer Marktforschung und Trendscouting mit dem Rückspiegelparadigma: „Stellen Sie sich vor, Sie fahren in einem Auto in die Zukunft. Die Windschutzscheibe ist verdunkelt. Sie können sich nur über den Rückspiegel orientieren, der die weißen Fahrbahnmarkierungen oder die Bordsteine hinter Ihnen zeigt. So verfährt die klassische Marktforschung – ihre Prognosen beruhen auf Daten aus der Vergangenheit.“ Trendscouting dagegen entspreche zwar nicht gleich dem Versuch, die Windschutzscheibe einzuschlagen. „Aber es setzt eine Art Radar ein.

Der Fahrer nutzt alle seine Sinne und eine Fülle – auch scheinbar irrelevanter – Informationen beispielsweise über Musik oder Mode, um zu verstehen, wohin die Reise geht.“ Es gehe darum, besser als die Wettbewerber „ein Gefühl dafür zu entwickeln, was Kunden in fünf bis zehn Jahren wünschen werden“.

Willkommen im Reich der Gefühle. „Wir suchen den emotionalen Zugang zum Kunden“, sagt auch Michael Lohscheller. Dabei verlässt er sich heute auf die Sensibilität und persönliche Wahrnehmungsfähigkeit seiner Kollegen und Mitarbeiter. Vor anderthalb Jahren war das noch nicht selbstverständlich. Los Angeles im Frühjahr 2005. In einem Vorort beziehen 23 VW-Mitarbeiter ein riesiges Haus, neugierig bis skeptisch beäugt aus Wolfsburg. Von ihnen hängt ab, ob das Vorhaben einzigartig in der Geschichte des Unternehmens bleiben oder Vorbild für weitere in aller Welt werden wird. Stefan Liske, der Initiator, will nichts dem Zufall überlassen. In einem so genannten Onboarding, einem vierwöchigen Training in Berlin, verwandelt er die Mitarbeiter vorher in ein Dreamteam. Er lässt ihre Sinne schärfen und ihre Egos stutzen.

Zwei Tage lang humpeln, schlurfen, rollen die angehenden Scouts blind, taub, auf Krücken oder im Kinderwagen durch die Hauptstadt. Sie sollen fremde Perspektiven kennen lernen, sich in andere Lebenswelten hineinversetzen: Wie nimmt ein Greis, ein Kind, ein Behinderter seine Umwelt wahr? „Wie würdet ihr“, fragt Liske, „Türklinken, Autotüren, U-Bahneingänge, Bahnhöfe anders designen?“

Unterwegs, auf Partys, bei Künstlern und auf Schrottplätzen findet die Gruppe Teile eines auseinander gebauten Alphajets. Um ihn in einem Hangar auf dem Flughafen in Berlin-Gatow wieder zusammenzusetzen. Ein symbolischer Akt, der die Männer und Frauen zwischen 27 und 56 Jahren zusammenschweißen soll. Jeder hinterlässt etwas Persönliches im Jet, einen Ring, eine Uhr, einen handschriftlich verfassten Brief, „um einen Teil seines Egos abzulegen“, sagt Liske. „Was nützen mir der beste Karosseriemann, der beste Motorenentwickler und der kreativste Marketingexperte, wenn ich am Ende Einzeloptima habe, aber kein Gesamtergebnis?“

Um die Wahrnehmung des Alltäglichen verarbeiten und verwerten zu können, muss die Gruppe Zusammenarbeit lernen. Schon, weil die meisten einander völlig fremd sind. Er habe nicht unbedingt die Besten zusammengetrommelt, sagt Stefan Liske, sondern die Geeignetsten. Charaktere, die sich unterscheiden – und gerade deshalb zusammenpassen. Jens Berger beispielsweise, 38, Karosserie-Ingenieur; Niklas Meyer, 30, Konzeptingenieur; Alexander Nolte, 31, Marketingfachmann. Der eine freundlich-aus-gleichend, der andere zurückhaltend-nachdenklich, der dritte eloquent-motivierend. Sie arbeiten in Wolfsburg im selben Werk, „aber als ich die Liste der Teilnehmer zum ersten Mal sah“, erzählt Nolte, „habe ich hinter den Namen Abkürzungen von Abteilungen gesehen, von deren Existenz ich nicht mal etwas geahnt hatte.“

Fragen, beobachten, wandern, staunen

Nach der Einführung in Berlin finden sie in Malibu ein leeres Wohnhaus vor. Ihre erste Studienfahrt führt sie zu Ikea, sie kaufen Schreibtische, Lampen und Betten. Die anschließende Schrauberei gilt als weiteres „Teambildungs-Event“. Und tatsächlich unterhalten sich die 23 Scouts von nun an beim Frühstück in der Gemeinschaftsküche, im Großraumbüro oder nach dem Abendessen über Ideen und Interviews, die sie führen wollen, über amerikanische Kultur und Mobilität. Sie konferieren spontan, in einer Sofaecke, auf der Terrasse, bei Starbucks oder am Strand. Alle sind hochmobil, ausgerüstet mit Laptops, Blackberries und Fahrzeugen der Wettbewerber.

In 24 Tagen reisen sie durch 24 Bundesstaaten, besuchen Ausstellungen, drehen Filme, führen Interviews. In Cleveland, Ohio, der Geburtsstätte des Rock ‘n’ Roll, fragen sie Passanten: „Welches Auto fahren Sie? Welche Musik hören Sie? Was bedeutet Ihnen Rock ‘n’ Roll?“ Drei Tage lang wandern sie durch amerikanische Großstädte – „Walk of Pain“ nennt Liske die Tour scherzhaft. Dabei studieren sie die unterschiedlichen Infrastrukturen, demografische Besonderheiten und mobile Population und bestaunen den Einfallsreichtum, mit denen Besitzer ihre Autos in rollende Wohnzimmer verwandelt haben.

Die Gruppe beschließt, ihrem Forschungsgegenstand noch näher auf die Pelle zu rücken. Tagelang hocken die VW-Mitarbeiter auf Autorückbänken, begleiten Paare, Familien und Singles zur Arbeit, zum Einkauf oder beim Sonntagsausflug. Sie beobachten, wo sie ihre Sonnenbrille oder ihr Handy platzieren. Und hören sie fluchen: „Ich verstehe diesen Knopf nicht.“ Die Späher lernen, dass Klimaanlagen europäischer Machart den Amerikanern nicht nur zu teuer, sondern vor allem zu kompliziert sind. „Das ist der Unterschied zur klassischen Marktforschung“, sagt Niklas Meyer, der Konzeptingenieur. In einer Studie könne er lesen, zehn Prozent der Kunden seien mit der Klimaanlage unzufrieden. „Aber was genau gefällt ihnen nicht? Das steht da nicht drin.“ Im direkten Gespräch hingegen könne er zehnmal nachhaken.

Erkenntnisgewinn in den USA – Skepsis in Wolfsburg

Irgendwann wird jeder Scout vom Beobachter zum Vertreter der Zielgruppe, auch das gehört zum Programm. Jens Berger schleppt tagelang einen Sack Reis herum, um am eigenen Leib zu erfahren, wie eine Mutter unter üblen Verrenkungen zigmal täglich ihr Kleinkind in den Wagen hievt. Alexander Nolte schwingt sich mit einer Damenhandtasche hinters Steuer und vermisst prompt eine geeignete Taschenablage. In Wolfsburg, sagt er, würde er vielleicht per E-Mail die Mitteilung bekommen, eine Ablage einzubauen. Doch wofür und wohin, das wisse er erst jetzt.

Die Kollegen in Wolfsburg wissen derweil wenig – und machen sich über die Kollegen in Kalifornien so ihre Gedanken. Nicht jeder im Konzern traut der ungewöhnlichen Recherche-Idee. Zudem trägt das Scouting-Projekt den etwas unglücklichen Arbeitstitel „Moonraker“. Da denkt man schnell an James Bond, also eher an Abenteuer als an harte Arbeit. Als Wolfgang Bernhard in Wolfsburg antritt, um Volkswagen zu sanieren, setzt er die Scouts unter Druck: Er wolle Ergebnisse sehen. Sonst würde er Moonraker dichtmachen.

Was kostet die Erkundung der Komplexität? „Diese Frage stellen sich momentan alle in der Industrie“, sagt Manfred Lange, der an der Ludwig-Maximilians-Universität in München Internationales Marketing lehrt. Bei der Antwort stünden Manager zwischen zwei Optionen: Harmonisierung und Differenzierung. Harmonisierung, sagt Lange, bis vor kurzem das Leitmotiv der Automobilbauer, verspreche günstige Produktionskosten. Differenzierung dagegen schaffe mehr Umsatz, sei aber teuer in der Umsetzung. Die Ersten, die ihre Produkte regionalen Geschmäckern angeglichen hätten, seien die globalen Nahrungsmittelkonzerne gewesen, weiß Lange, früher selbst Manager in dieser Branche. Er kann sich gut erinnern, wie schwierig es damals war, die Länderchefs vom Sinn verschiedener Verpackungsgrößen zu überzeugen. In einer ähnlichen Situation steckt nun Stefan Liske.

Liske: Ein blond gelockter, sportlicher, begeisterungsfähiger Mittdreißiger, ehemaliger BMW-Manager und -Testfahrer. Er bittet Bernhard, den neuen VW-Markenchef, um ein Gespräch: „Geben Sie mir eine Stunde. Oder beenden Sie Moonraker sofort.“

Liske und Bernhard unterhalten sich fünf Stunden, danach ist die geplante Moonraker-Laufzeit von anderthalb Jahren, also bis Sommer 2006, bestätigt, weitere Projekte wie die in Indien und China sollen schnell an den Start gehen. „Doch schon jetzt“, sagt Alexander Nolte, der Marketingfachmann, „konnten wir Vereinfachungen anregen, die helfen, knapp drei Millionen Euro einzusparen.“ So wurden Klimaanlagen von Schnickschnack befreit, Außenspiegel sind nicht länger klappbar. Außerdem hat das Projekt Moonraker zusammen mit einem kalifornischen Designstudio den GX3 entwickelt – ein vom Publikum auf der Los Angeles Motorshow bestauntes Gefährt, das aussieht wie ein Formel-1-Wagen auf drei Rädern.

Der Schlüssel beim Trendscouting ist Kommunikation: Kunden erzählen, was sie bewegt. Darüber verständigen sich die Scouts, vom Designer bis zum Finanzexperten. Ihre Erkenntnisse vermitteln sie den Kollegen in Wolfsburg, zeigen Videoclips, spielen Interviews ein, stellen Exponate vor. So viele Mitarbeiter wie möglich sollen ein Gefühl für die Märkte in Übersee bekommen.

Die Moonraker-Ausstellung „Consumer Kits“ zeigt acht amerikanische Typen. „Hipster Parents“ beispielsweise – Eltern, die gern Eltern sind, ihre Bedürfnisse deshalb aber nicht zurückstellen wollen. Hipster Parents schieben keinen normalen Kinderwagen, sondern ein Joggermodell. Ihre Windeltasche ist mit einem Camouflage-Bezug getarnt, am Auto schätzen sie praktische Schiebetüren, würden sich aber niemals einen familientypischen Mini Van kaufen. Hybridantrieb finden sie cool.

Besucher der Ausstellung erfahren zum Anfassen, welche Zeitschriften Zielgruppen wie die „Creative Class“ oder die „Spiritual Group“ lesen, welche Kleider sie tragen und welche Internetseiten sie besuchen, welche Musik sie hören und welche Zigaretten sie rauchen, wenn sie rauchen. „Was uns vor allem interessiert“, sagt Nolte, „ist die Frage: Welches ‚Mind Set’, welche Werte stecken dahinter?“

Kontakt zum Planeten Erde

Das erinnert an Science Fiction, an intergalaktische Expeditionsmitglieder, die über die Absichten einer bisher unbekannten humanoiden Spezies grübeln. Es erinnert auch an ein Bild, das der Zukunftsforscher Matthias Horx von der Zukunft der Arbeit entworfen hat, die wir uns seiner Ansicht nach vorstellen dürfen wie den Alltag auf der Kommandobrücke des Raumschiffs Enterprise: „Die Enterprise befindet sich, wie moderne Unternehmen, in unerforschten Quadranten des Weltraums, die volatilen globalen Märkten entsprechen. Sie ist konfrontiert mit Überraschungen, Innovationen und neuen Technologien, die dem Team das Äußerste an Wissen und Reaktionsschnelle abverlangen.“ Dabei komme es nicht darauf an, wie schlau der Einzelne ist, sondern wie das „Gesamt-Gehirn“ der Crew ein Problem aus verschiedenen Blickwinkeln betrachte. „Um unkonventionell zu denken, müssen die Mitglieder der Gruppe so unterschiedlich sein wie möglich.“

Das klingt wie eine Beschreibung der Mannschaft von Moonraker. Sie und ihre nachfolgenden Teams haben die Mission, ferne Welten auf dem Planeten Erde zu erkunden, deren Zivilisationen – nach modernen Marketing-Kriterien jedenfalls – offenbar weitgehend unbekannt sind. Ob die Kundschafter des Alltäglichen das riesige Mutterschiff Volkswagen werden in neue Sphären lenken können? Das Wichtigste ist bereits erfolgt: der erste Kontakt.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.