Wachstumsschmerzen

Früher galt Irland als Armenhaus der EU. Heute geht es nur den Luxemburgern noch besser. Das Land hat einen beispiellosen Turnaround hingelegt. Doch mit dem Erfolg kamen auch Probleme. Die Iren müssen sich in ihrem neuen Leben noch zurechtfinden. Impressionen von der Insel.




I. BEWEGUNGSZWANG

Der Nightclub „Palace“ genießt einen Standortvorteil der eher schlichten Art: Er ist einer von zwei Lokalitäten in Navan, in denen man am Wochenende bis früh um vier ungestört zechen kann. Entsprechend dicht ist das Gedränge, wenn samstagabends nach elf, also sperrstundenbedingt, die Armada der immer noch Durstigen einfällt. Fünf Stunden bis zum letzten Bier, zum letzten Tanz, da ist noch einiges möglich.

An der Theke ist kein Durchkommen. Eine Gruppe junger Frauen bahnt sich trotzdem entschlossen ihren Weg durch die wogende und schwitzende Masse. Fünf, sechs Mädels sind es, in ihrer einheitlichen schwarzen Kluft unschwer als Angestellte des Palace zu erkennen, in Abständen von etwa zehn Metern kämpfen sie sich fortwährend von einem Ende des Schankraums zum anderen, wie ein Beduinentreck. Sie nehmen keine Bestellungen auf und tragen keine leeren Gläser zur Theke zurück. Sie gehen einfach nur auf und ab.

Warum, fragt sich der Gast aus Deutschland, tun die das? Kontrolle? Etwa wegen des erst kürzlich verhängten Rauchverbots in irischen Kneipen? „Nein“, gibt eine der schwarz Gekleideten zur Antwort, „unser Chef hat uns gesagt, wir sollen bei der Arbeit nicht herumstehen. Das mache keinen guten Eindruck bei den Gästen, meint er. Wir sollen uns bewegen.“ Dann geht sie weiter. Manchmal bringt die neue irische Emsigkeit geradezu groteske Auswüchse hervor.

II. DER ANSTURM

53°39’ nördliche Breite, 6°41’ westliche Länge, 42 Meter über dem Meeresspiegel, hier liegt Navan, ein typisches irisches Kleinstädtchen. Bis nach Dublin sind es knapp 50 Kilometer. Die Entfernung ist groß genug, um hier ein entspanntes Landleben erwarten zu können, doch schon der erste Eindruck zeigt: Im Irland des Jahres 2006 ist Zeit ein äußerst knappes Gut, auch hier auf dem Land. Der Bürgermeister hat gerade mal zwanzig Minuten für ein Gespräch, der alte Schuster fünf (während denen er emsig weiter einen schweinchenrosafarbenen Damenstiefel besohlt), die meisten Immobilienmakler melden sich gar nicht erst zurück, die Autohändler sind auf lange Sicht ausgebucht. „Da hätten Sie sich vor zwei Wochen einen Termin geben lassen müssen“, heißt es bei Mercedes, bei Renault, bei Peugeot und auch beim Gebrauchtwagen-Krauter schräg gegenüber der einzigen Rotlicht-Bar des Städtchens.

Früher hätten sie alle Zeit gehabt, und zwar jede Menge. Vermutlich wären die Autohändler mit dem Reporter abends noch auf ein Bier gegangen und hätten zu später Stunde die eine oder andere traurige Ballade angestimmt. Noch ein Bier, noch eine Ballade, was soll’s. Am nächsten Morgen blieb man einfach etwas länger liegen. Wer hatte schon Geld für einen neuen Benz? Jetzt sind die Straßen voll mit neuen Autos, dafür sind unter der Woche abends die Kneipen leer. Und keiner singt.

Navan ist aus den Fugen geraten. Die Stadt zählt zu den am schnellsten wachsenden des Landes. Einige Experten behaupten sogar, dass Navan momentan die Stadt mit dem größten Bevölkerungszuwachs in ganz Irland ist. Allein zwischen 1996 und 2001 stieg die Einwohnerzahl von 12.810 auf 19.417 – ein Plus von 51,6 Prozent. Laut Bürgermeister Shane Cassells leben heute an die 25.000 Menschen in Navan, also doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die Prognosen der übergeordneten Grafschafts-Behörden kennt er natürlich auch. Danach wird die kleine Stadt in Zukunft noch ungehemmter wachsen. Von 40.000 Einwohnern in fünf Jahren und von 60.000 in zehn Jahren ist da die Rede.

Aus dem verschlafenen Marktstädtchen ist binnen weniger Jahre eine quirlige Stadt geworden, in der das Baufieber grassiert. „Die Entwicklung hat uns völlig überrollt, wir hatten gar keine Zeit, uns auf diesen Ansturm vorzubereiten“, sagt Bürgermeister Cassells. Und man weiß nicht so recht, ob er sich darüber freut.

III. DAS ALTE

Navan ist das Resultat der irischen Wirtschaftsstrategie der vergangenen vier Jahrzehnte. Mithilfe milliardenschwerer Finanzspritzen aus Brüssel, massiver Investitionen in das Bildungssystem und einer Politik der offenen Tür gegenüber Investoren aus aller Welt hat das Land einen in Westeuropa beispiellosen Strukturwandel bewerkstelligt. Aus dem ehemaligen Armenhaus der EU ist ein kraftstrotzender Standort für Chipfabriken, Banken und Fonds, Software-Schmieden und Callcenter geworden. Die Geschichte vom irischen Wirtschaftswunder, dem Celtic Tiger, ist mittlerweile schon fast zur Legende verklärt. Kein Land in Europa ist auf Dauer zur Armseligkeit verdammt, lautet die Botschaft, die von Irland ausgeht. Zur Position des Schlusslichts gibt es immer eine Alternative.

Es ist noch nicht lange her, da galt die grüne Insel im Nordwesten Europas zwar als landschaftlich schön, aber auch ziemlich rückständig. Die Menschen in Heinrich Bölls „Irischem Tagebuch“ waren arm, gläubig, trinkfest und meistens sehr nett. Über allem lag ein Hauch von Aussichtslosigkeit. Bis zum EU-Beitritt Portugals war Irland das Land mit den wenigsten Fernsehern, den wenigsten Telefonen und dem niedrigsten Einkommen pro Kopf. Noch Ende der achtziger Jahre ging jeder fünfte Ire stempeln. Schöne Regenbögen machen schließlich keinen satt.

Fabriken schon eher. Bereits in den sechziger Jahren startete Irland, damals eine kleinbäuerlich geprägte Agrargesellschaft, deshalb ein groß angelegtes Industrialisierungs-Programm. Ausländische Fabrikherren, die die staatliche Wirtschaftsförderungsgesellschaft Industrial Development Agency (IDA) nach Irland gelockt hatte, wurden reichlich belohnt: Sie mussten kaum Steuern zahlen und konnten großzügige Barzuschüsse für Maschinen, Fabrikgebäude und Grundstücke einstreichen. Bei Bedarf zahlte der irische Staat auch für die Aus- und Fortbildung neuer Mitarbeiter. Die Bruttolöhne lagen mindestens 40 Prozent unter denen in der Bundesrepublik. Aber die ehrgeizige Hauruck-Industrialisierung erwies sich als teurer Irrweg. Die IDA-Planer errichteten schlüsselfertige klotzige Fabrikgebäude selbst in den entlegensten Teilen des Landes – für Firmen, die nie kamen. Oder sich nach einem kurzen, aber kostspieligen Subventions-Gastspiel wieder verabschiedeten. Im Schatten der leer stehenden Fabriken stieg die Arbeitslosigkeit weiter.

IV. DAS NEUE

Ende der achtziger Jahre vollzogen die Wirtschaftsförderer der IDA einen Strategiewechsel. Sie konzentrierten die Förderung von früher 150 auf nunmehr 20 Schlüsselstandorte, Navan ist einer davon, und setzen seit Beginn der neunziger Jahre vor allem auf Elektronik und Dienstleistungen statt wie früher auf die klassische Produktion. Mit Erfolg: Viele große IT-Unternehmen (darunter IBM, HP, Dell und Intel) sind auf der Insel vertreten, mehr als die Hälfte der Software-Investitionen innerhalb der EU geht nach Irland. Heute ist das Land der größte Callcenter-Standort Europas. Zurzeit produzieren mehr als 1000 ausländische Unternehmen vor Ort, darunter 480 aus den USA, 135 aus Deutschland; sie beschäftigen zusammen rund 130.000 Arbeitskräfte.

Längst vermarket Irland sich nicht mehr als billiger Standort für einfache Lohnfertigung, sondern als „knowledge economy“. Steuer- und Lohnkostenvorteile, die nach wie vor existieren, werden weit weniger herausgestellt als früher. Stattdessen wirbt das Land mit seinem Potenzial an hoch motivierten, hervorragend qualifizierten Arbeitskräften. Der massive Ausbau des Bildungssystems, vor allem mit Blick auf wirtschafts- und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge, hat sich gelohnt: Nach einer Studie der IMD Business School Lausanne entspricht das irische Bildungssystem heute den Anforderungen einer modernen Wettbewerbs-Ökonomie weit besser als beispielsweise das in Frankreich, den USA, Großbritannien oder Deutschland. Auch in puncto Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Arbeitsmotivation stellte das IMD Lausanne den Iren im vergangenen Jahr Bestnoten aus. Bei der Arbeitsproduktivität rangiert Irland vor Frankreich, den USA, Deutschland und Japan.

Im nunmehr fünfzehnten Jahr des Wirtschafts-Booms ist der Lebensstandard der Einwohner auf „Kathleen ni Houlihan“, der Insel der Heiligen, vom vorletzten auf den zweiten Platz der EU-Rangliste gestiegen. Nur den Luxemburgern geht es heute noch besser als den Iren. Auch beim internationalen Standort-Ranking der Bertelsmann Stiftung vor zwei Jahren hieß der Sieger Irland – vor den USA, Australien, Norwegen und Neuseeland. Die Arbeitslosenquote auf der Insel ist mit 4,5 Prozent die niedrigste innerhalb der EU.

In Navan lässt sich die Wandlung eines Gemeinwesens von pittoresker Gemütlichkeit zu hektischer Betriebsamkeit modellhaft beobachten wie durch ein Brennglas. Navan ist klein genug, um noch überschaubar zu sein, und groß genug, einen Querschnitt der irischen Gesellschaft abzubilden. Und es hängt dicht am Puls der Hauptstadt Dublin, die den Takt des neuen, schnellen Irlands bestimmt, einen Teil des Wohlstands für sich vereinnahmt und den Rest in die Provinz spült, nach Cork und Tipperary, Kerry und Clare, Galway und Mayo. Aber auf Navan trifft die Welle zuerst.

V. ES WIRD ENG

Patrick Tehan ist ein rotschopfiger junger Mann, dessen Pausbacken vermuten lassen, dass Essen und Bier ihm schmecken. Tehan ist Makler, einer von vielen im Ort. Ganz genau weiß er nicht, wie viele Konkurrenten er hat. Vielleicht 16, eventuell aber auch schon 17 oder 18. Keine Ahnung, es sind zu viele dazugekommen in letzter Zeit. Wenn es so weitergeht, sagt Tehan, habe Navan bald mehr Maklerbüros als Kneipen. Und das will in einer irischen Kleinstadt schon etwas heißen.

Mit Immobilien lässt sich in Navan schnelles und leichtes Geld verdienen. Ein Büro mieten, ein paar Objektfotos ins Fenster, und schon läuft der Laden. Kaum hängen die Angebote aus, kommen auch schon die ersten Interessenten. „Hier“, sagt Tehan und zeigt auf einen Aushang in seinem Schaufenster, ein Reihenhaus in einer Neubausiedlung, „vorgestern reingekommen, gestern besichtigt, heute verkauft. Es ist ein Irrsinn.“

Das Wachstum Navans sorgt unter Baulöwen und Maklern für Goldgräberstimmung. Häuser, die Mitte der Neunziger 80.000 Euro wert waren, gingen vor einem Jahr schon für 300.000 weg, jetzt muss ein Käufer 400.000 Euro hinlegen. Frisches Geld ist da, und wer es lieber für einen neuen Mercedes ausgibt, dem finanzieren die Banken einen Hauskauf auch gern zu 100 Prozent, über bis zu 40 Jahre. „Der Markt explodiert jetzt regelrecht“, schwärmt Tehan. „Wenn irgendwo eine neue Siedlung entsteht, sind alle Häuser schon lange vor der Fertigstellung verkauft.“ Meist bewerben sich sogar zwei oder drei Kaufwillige um ein Haus – was die Preise weiter nach oben treibt. Navan ist knapp 50 Kilometer von Dublin entfernt, in gleicher Entfernung von Berlin, in Eberswalde zum Beispiel, findet man weit Hübscheres, mit großem Garten und Carport, schon für die Hälfte. Aber wer will schon nach Eberswalde?

Nach Navan wollen immer mehr Menschen. Die Banken, Versicherungen, Hedgefonds und Software-Firmen in der Dubliner City suchen ständig Leute. Und auch wenn die Preise steigen: In Navan kostet ein großes Haus so viel wie in Dublin eine Dreizimmerwohnung. Vor allem Familien zieht es deshalb in die Vorstädte. Irlandweit werden in den nächsten 15 Jahren im Schnitt 60.000 neue Einfamilienhäuser pro Jahr gebaut, heißt es in der aktuellen Studie „Vision 2020“ des Broker-Hauses NCB. Ein Großteil davon entsteht in Satellitenstädten wie Navan, wo sich die Immobilienpreise nochmals verdoppeln bis verdreifachen werden. „Die weiße irische Mittelklasse wird in die Vorstädte flüchten“, prophezeien die Verfasser, „und die werden im Jahr 2020 weite Teile des Landes überwuchert haben.“

VI. DER TRECK

Navan, Bushaltestelle am Marktplatz, halb sieben Uhr morgens. Ein großer blauer Wecker prangt auf der Vorderseite der Flyer, die zwei Schüler an müde aussehende Fahrgäste verteilen. Fast alle warten auf die Pendlerbusse. Die Zeiger des Weckers stehen auf viertel vor sechs. „Genug vom Frühaufstehen?“, heißt es darunter in fetten Lettern.

Mindestens 20.000 Pendler aus Navan und den umliegenden Ortschaften fahren jeden Morgen zur Arbeit nach Dublin. Ein Lindwurm aus Blechkarossen mit Menschen in Business-Anzügen und -Kostümen darin, der sich über die Fernverkehrsstraße N3 müht. Ab der Stadtgrenze quält sich die Autolawine mit durchschnittlich neun Stundenkilometern weiter in die Büros der City, nachmittags geht es genauso zäh wieder heraus aus der Stadt.

Dort in Boomtown, ehedem die wohl gemütlichste europäische Hauptstadt, sind in den vergangenen 15 Jahren die neuen Jobs entstanden, mit denen der keltische Tiger bei Laune gehalten wird. Vor allem die Investoren aus Amerika kannten eben nur eine Stadt in Irland, diesem Inselchen an der europäischen Peripherie, und das war Dublin. Der Rest war aus ihrer Perspektive Moor und Torf und grüne Wiese.

Frank Fitzmaurice, zuständig für Wirtschaftsentwicklung bei der Verwaltung der Grafschaft Meath, zu der auch Navan gehört, will den Treck der Pendler stoppen und das Bevölkerungswachstum in Städten wie Navan ökonomisch unterfüttern. Neue Jobs sollen künftig nicht in Dublin entstehen, sondern endlich dort, wo die Menschen hingezogen sind, im Umland. Städte wie Navan, sagt Fitzmaurice, „sollen nicht länger als Schlafzimmer Dublins herhalten“.

Systematisch sammelt Fitzmaurice deshalb Menschen, die lieber in der Provinz arbeiten wollen, als täglich im Stau zu stehen. Die Flyer-Kampagne an der Bushaltestelle war seine Idee; er ließ die Kärtchen auch in zehntausende Briefkästen stecken und der Lokalzeitung beilegen. Staumüde Pendler können die frankierten Flyer zurückschicken oder sich direkt auf der Website www.workinmeath.ie registrieren lassen. Aus dem Rücklauf – immerhin fast 3000 frustrierte Pendler in knapp anderthalb Jahren – hat Fitzmaurice einen virtuellen Stellen-Pool geschmiedet. Seine Botschaft an die Firmen in Dublin und anderswo: Hier sind 3000 Menschen, die dort arbeiten wollen, wo sie wohnen.

Zwei Drittel der Pendler aus der Grafschaft, zitiert Fitzmaurice eine Befragung, nähmen für einen Job in der Nähe ihres Wohnorts Gehaltseinbußen in Kauf. Ein gewichtiges Argument für eine Verlagerung der Arbeit in die Provinz, findet er. „Wenn ich in Dublin mit fünf Personalchefs spreche, stöhnen die alle, dass die Leute zu teuer geworden sind“, sagt er. „Wer etwas taugt, hat drei oder vier Angebote; das treibt die Gehälter immer höher.“ Ein Standort in der Peripherie biete beste Chancen, der Lohnspirale zu entkommen.

Fitzmaurice ist ständig mit potenziellen Investoren vor Ort unterwegs. Er präsentiert ihnen Gewerbeparks und vergisst nicht zu erwähnen, dass ein Grundstück hier nur halb so viel kostet wie in der Stadt. Er führt sie durch Neubaugebiete, demonstriert ihnen, wie schnell sie am Flughafen sind, nämlich in maximal einer Dreiviertelstunde. Von Dublin aus braucht man zur Rushhour bis zu zwei Stunden. Seine Datenbank von gestressten und hoch qualifizierten Pendlern hat Fitzmaurice bei solchen Gesprächen immer dabei: „Dort finden Sie alles: vom Geschäftsführer bis zur Empfangsdame.“

Seit ein paar Wochen kann er endlich auch ein Referenzobjekt vorweisen. Es gelang ihm, einen Teil der Verwaltung des Hedgefonds PFPC mit 30 Beschäftigten nach Navan zu lotsen. PFPC hat angekündigt, die Belegschaft in Navan auf bis zu 200 Leute aufzustocken. Viel Zeit hat Fitzmaurice allerdings nicht mehr. Bald wird ein Netz von vier Autobahnen die Grafschaft Meath durchziehen, alle enden in Dublin. Eine davon, die M3 nach Londonderry, führt direkt an Navan vorbei. Die Stadt wird eine eigene Auffahrt bekommen. Fitzmaurice hofft, dass Umweltschützer und Archäologen mit ihren Klagen den Bau der Trasse noch ein wenig aufhalten. Sobald die Pendler aus Navan mit Tempo 130 nach Dublin rauschen können, kann er mit seiner Kampagne einpacken. „Wenn wir es in den nächsten zwei, drei Jahren nicht schaffen, Jobs hierher zu bekommen, können wir es gleich bleiben lassen“, sagt er. „Dann haben wir das Rennen verloren.“

VII. KENNZEICHEN DES WOHLSTANDS

Paddy Fitzsimons sitzt im schwarzen Anzug vor seiner Kneipe in der Sonne. Am Nachmittag hat er noch eine Beerdigung, der Leichenwagen, frisch gewaschen, steht schon bereit. Fitzsimons ist 68, Bestattungsunternehmer, zweifacher Kneipenwirt, Strippenzieher und ehemaliger Stadtparlamentarier. „Dass ein Leichenbestatter auch eine Kneipe hat, ist in Irland nichts Außergewöhnliches“, sagt er. „Früher gab es das in jedem Dorf.“ Wenn er spricht, wackeln die Ruinen seiner unteren Schneidezähne bedenklich hin und her. Der Mann braucht einen Zahnarzt.

Fitzsimons’ Generation hat sich mit dem neuen Irland arrangiert. Schließlich hat es ihre Söhne und Töchter in gute Jobs gebracht. Sie müssen nicht mehr emigrieren, wenn sie Karriere machen und gutes Geld verdienen wollen. Und auch Fitzsimons profitiert vom Boom. Vor kurzem hat er seine zweite Kneipe eröffnet, ein schmuckes großes Lokal über zwei Etagen. Damit kann er die Laufkundschaft vom gegenüberliegenden Einkaufszentrum abgreifen. Nun gibt es das alteingesessene „Fitzsimons“, das vorrangig der ungestörten Aufnahme von Alkohol dient, und das „Stonehouse“ für die geschäftigen Anzugträger, die in der Mittagspause schnell ein Chicken-Sandwich mit einer Cola light runterspülen.

Der neue Wohlstand offenbart sich in Navan und anderswo vor allem auf der Straße. Die ersten beiden Ziffern auf dem Nummernschild verraten hier zu Lande das Zulassungsjahr. 96er- oder 98er-Zulassungen sind selten geworden. Dafür parken überall auffällig viele Autos der 40.000-Euro-plus-Geländeklasse – manche mit vier Auspuffrohren, etliche mit Nashorn-Abprallgitter.

VIII. GRENZEN DES GESCHMACKS

Cheryl Cooper heiratete vor ein paar Jahren aus England nach Navan und eröffnete dort am Marktplatz ein Feinkostgeschäft, der mit Sicherheit hübscheste Laden in ganz Navan. Die 40-Jährige setzt darauf, dass sich mit der Kaufrausch-Konjunktur und den steigenden Einkommen auch die Konsumgewohnheiten ändern. Da ist sie in guter Gesellschaft: Der Schuhladen gegenüber preist deutsche Designerschuhe an, der Inhaber des Alkohol-Shops um die Ecke hat ein Fünf-Liter-Fässchen Krombacher Pils und einen Kasten Erdinger Weißbier ins Schaufenster gestellt, des is hoid a Pracht, hollara-di-riad-dei.

Im „Fine Foods“ gibt es ausschließlich Lebensmittel, die man nicht unbedingt braucht. Superiore Güter heißen solche Waren in der Sprache der Ökonomen. Nur wer etwas auf sich hält und es sich leisten kann, kauft so etwas.

Nach fast fünf Jahren beharrlicher Erziehungsarbeit in Sachen Esskultur muss Cheryl Cooper sich allerdings eingestehen, dass sie die Einwohner von Navan vielleicht ein wenig überfordert hat. Sie mögen zwar zum Großteil in Dublin arbeiten, das macht sie aber noch lange nicht zu hippen Stadtmenschen.

Statt zu Zwiebelkonfitüre, Rote-Bete-Meerrettich-Sauce und Senfessig greift man in Navan noch immer lieber zu einem fetten Stew mit Hammelfleisch. Und nach der Arbeit schmeckt den meisten ein gut gezapftes Guinness besser als eine Flasche St. Emilion Grand Cru. Einen Großteil ihrer 30 Sorten Käse muss sie in den Müll werfen. „Die Leute geben ihr Geld lieber für ein neues Auto als für gutes Essen aus“, sagt sie. „Wenn uns der Laden nicht gehören würde, hätten wir längst dichtmachen müssen.“

IX. DIE KEHRSEITE

Makler Eamon Gavigan kommt mit traurigem Gesicht von einer Hausbesichtigung. Ein Mann aus der Neubausiedlung Johnstown, sozusagen einem Subsatelliten von Navan, hatte ihn am Morgen angerufen. „Ich muss mein Haus verkaufen“, sagte er. Als Gavigan dort ankam, stand der Mann schon in der Tür – ein etwa zwei Jahre altes Mädchen auf dem Arm, ein etwas älterer Junge hintendrein. „Meine Frau hat mich verlassen“, sagte er. „Sie hat es hier in der Siedlung einfach nicht mehr ausgehalten, ist zurück nach Dublin. Was soll ich jetzt hier allein mit den Kindern?“

„Ach ja, Johnstown!“, ruft der alte Schuster Jack Dunphy gegen die Übertragung des Pferderennens aus dem Transistorradio an, als er von der Sache hört, „bis vor acht Jahren gab es da nur die Kirche, eine Kneipe, zwei Läden und ein paar Häuser. Heute wuchert es ja.“ Dunphy benutzt dabei das Wort „mushroom“, also Pilz, in einer Form, die in keinem Wörterbuch steht. Als Verb. „It’s mushrooming.“

Stätten wie Johnstown sind der architektonische Fallout des Wachstums. Tagsüber ist die Siedlung so ausgestorben, dass die Fahrschulen ungestört üben lassen können: Anfahren, Einparken und Wenden in drei Zügen. Bald ist überall Peripherie, überall Allerweltssiedlung. Die Baulöwen geben ihr Bestes. Landauf, landab würfeln sie ihre uniformen 300.000-Euro-Reihenhäuschen auf die fetten grünen Wiesen. Zwei, drei, viele Johnstowns. Als das erste Johnstown fertig war, gab es weder Bäcker noch Metzger, weder Schule noch Kindergarten, nicht mal eine Kneipe war vor Ort. Einiges wurde jetzt, fünf Jahre nach Fertigstellung der Siedlung, nachgeliefert. „Vielleicht haben wir in den vergangenen zehn Jahren tatsächlich zu schnell zu viele Häuser gebaut“, sagt Shane Cassells, der Bürgermeister. Und spricht schon von den nächsten Baugebieten.

X. IDENTITÄTSSUCHE

Pfarrer Gary Mac Cormack hat es aufgegeben, tagsüber Hausbesuche in Johnstown zu machen, um sich bei neuen Gemeindemitgliedern vorzustellen. „Da treffe ich ja doch keinen an“, sagt der Geistliche, ein sanftmütiger Mann, der das milde Wort bevorzugt. Wenn er auf die Zustände in den Johnstowns des Landes zu sprechen kommt, wird er deutlich: „Die Leute sind alle gehetzt“, sagt er. „Mittlerweile ist es schon so, dass derjenige, der nicht im Stress ist, dasteht, als ob mit ihm etwas nicht stimmt.“

Wo ist die Zeit für die Familien?, fragt er sich oft. Wann treffen sich die Männer in der Kneipe, die Frauen zum Bingo-Nachmittag? Und welcher Vater ist noch bereit, zweimal pro Woche das Fußballtraining der Achtjährigen zu übernehmen? „Viele sind aus Dublin hier rausgezogen, weil sie ihren Kindern die Hektik der Großstadt ersparen wollten – und jetzt stellen sie fest, dass sie noch weniger Zeit für sie haben als früher.“

Auch der Bürgermeister sorgt sich, dass die über Jahrhunderte gehegte irische Identität in der neuen Geschäftigkeit untergeht, für immer weggespült wird. „Wir Iren waren mal in der ganzen Welt berühmt für Gastfreundschaft, Geselligkeit und Hilfsbereitschaft“, mahnt er. Und jetzt? „Wenn früher ein Kind auf der Straße hinfiel, waren gleich zwei, drei Leute zur Stelle, um zu helfen“, erinnert sich Mary Walsh, die Frau des Uhrmachers. „Heute interessiert das keinen mehr. Da sieht man einfach weg.“

Die alten Zeiten pittoresker Armut wünscht sich dennoch keiner zurück. „Vor 20 Jahren war fast jeder Fünfte arbeitslos, und es gab kaum Hoffnung für dieses Land“, bilanziert Makler Eamon Gavigan. „Wer etwas aus sich machen wollte, sah zu, dass er fortkam.“ Gavigan wollte etwas aus sich machen. Vor 15 Jahren verließ er Irland mit einem One-Way-Ticket in Richtung London. Zurück kam er sieben Jahre später, im Sog des Wirtschafts-Booms.

„Was wir heute beklagen, sind doch allenfalls Wachstumsschmerzen“, sagt er. „Natürlich sind die Wohnsiedlungen hässlich, natürlich stören die Lastwagen, die sich durch Navan quälen.“ Für Gavigan alles Probleme auf hohem Niveau. „Stellen Sie sich vor, Sie hätten früher in einer Kneipe erzählt, dass Iren sich mal aufregen werden, weil sie morgens auf dem Weg zu einem 80.000-Euro-Job im Stau stehen.“ Er macht eine kurze Pause, der Gedanke scheint ihm zu gefallen. „Ich glaube, man hätte Sie für verrückt erklärt.“


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