Glück, sehr viel Geld und eine Revolution

Aids ist bis heute nicht heilbar. Doch mittlerweile ist die durchschnittliche Lebenserwartung von HIV-Infizierten fast genauso hoch wie die anderer Menschen – zumindest in den Industrienationen. Wie das gelang, beschreibt Professor Norbert Brockmeyer, Sprecher des Kompetenznetzwerks HIV/Aids.




1981 tauchten die ersten Aids-Fälle auf. Die meisten Patienten starben damals an ihrer Erkrankung. Mit AZT wurde nur sechs Jahre später ein bis heute erfolgreich eingesetzter Wirkstoff zur Therapie zugelassen. Professor Brockmeyer, warum ging bei HIV-Infektionen so schnell, was bei anderen Krankheiten bis heute viel länger dauert?

Norbert Brockmeyer: Die Entwicklung wirksamer HIV-Therapien ging tatsächlich verhältnismäßig schnell. Es kamen mehrere Faktoren zusammen. Nach dem ersten Auftauchen der Krankheit hat man zunächst nach dem Versuch-und-Irrtums-Prinzip gearbeitet: Sehr schnell wurden Medikamente mit antiretroviraler* Wirkung ausprobiert in der Hoffnung, dass sie wirken. Eines davon war Azidothymidin, kurz AZT. Es war in den Sechzigerjahren eigentlich als Krebsmedikament entwickelt worden, weshalb die Funktionalität des Moleküls gut bekannt war. Es zeigte sich: Das Medikament hat tatsächlich eine Wirkung, sogar eine relativ gute. AZT ist noch heute, 30 Jahre später, im Rahmen von Kombinationstherapien im Einsatz. Wenn Sie so wollen, war das damals das Glück des Tüchtigen: Durch die akribische Suche fand man ein bereits bekanntes Medikament, das auch gegen HIV wirkt.

Die Besorgnis in der Öffentlichkeit war enorm, erst recht als sich herausstellte, dass Aids keine Krankheit ist, die vor allem Homosexuelle betrifft. Hat das den Fokus auf HIV verstärkt?

Der öffentliche Druck hat die Entwicklung ganz sicher wesentlich vorangetrieben. In den Industrieländern herrschte Hysterie – zunächst waren nicht mal die Übertragungswege eindeutig geklärt. Außerdem engagierten sich gerade in den USA sehr frühzeitig Prominente und wohlhabende Menschen für HIV-Infizierte, sie forderten und förderten die Entwicklung von Wirkstoffen. Dazu gehörte zum Beispiel die Schauspielerin Elizabeth Taylor, die ihr Netzwerk in der Politik nutzte, um auf die Krankheit aufmerksam zu machen. In England war es der Popstar Elton John, der sich bis heute für HIV-Infizierte einsetzt. Diese Menschen haben viele Mittel eingeworben und selber hohe Summen für die Forschung zur Verfügung gestellt. Damit waren sie Vorbild für andere.
Darüber hinaus hat auch der Umgang der Infizierten mit der Krankheit dazu geführt, die Entwicklung zu beschleunigen: Sie haben sich nicht versteckt, sondern sind an die Öffentlichkeit gegangen. Denken Sie an den Schauspieler Rock Hudson oder den Sänger Freddie Mercury von Queen, die ihre Erkrankung bekannt machten. All das ließ die Politik nicht unbeeindruckt. Es führte schließlich dazu, dass US-Präsident Bill Clinton viel Geld für die Aids-Forschung zur Verfügung stellte. George W. Bush finanzierte die Bekämpfung von Aids in Afrika über eine Präsidenteninitiative mit 15 Milliarden US-Dollar.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass vor allem das Geld die Forschung treibt.

Ausreichend finanzielle Mittel helfen natürlich. Aber im Fall von Aids kam noch ein Aspekt dazu: In den Neunzigerjahren erlebten wir eine Revolution in der Labortechnik. Und mit den neuen Techniken hatten wir plötzlich die Möglichkeit, Analysen auf Genomebene und molekularer Ebene durchzuführen. Wir konnten Viren erstmals in dreidimensionalen Darstellungen abbilden – auch das HI-Virus. Das eröffnete die Möglichkeit, Medikamente quasi passgenau zu schneidern. Danach gab es immer noch viel „trial and error“ – aber zielgerichteter und damit erfolgreicher als vorher.
Dieser Durchbruch ist von seiner Tragweite vergleichbar mit dem Übergang ins 20. Jahrhundert. Damals war man durch die Entwicklung von Färbetechniken und Mikroskopen auf einmal in der Lage, Bakterien zu identifizieren und damit Infektionen bestimmten Krankheitsbildern zuzuordnen. Das war ein enormer Fortschritt für die Medizin. Ähnlich war es Anfang der Neunziger. Wie erfolgreich die Entwicklung war, lässt sich auch an den vielen Patenten ablesen, die im Rahmen der HIV-Forschung erteilt worden sind. Vieles, was wir bei der Behandlung von Aids gelernt haben, lässt sich auf andere Erkrankungen übertragen. Hepatitis C zum Beispiel ist jetzt zu einem hohen Prozentsatz heilbar. Ich sehe diesen Erfolg auch als ein Ergebnis der HIV-Forschung.

Das zunächst so vielversprechende AZT allein wirkt auf Dauer nicht gegen Aids, weil sich Resistenzen bilden. Wann wurde dieses Problem gelöst?

Wir haben relativ schnell erkannt, dass bei der HIV-Therapie Resistenzen auftreten. Aber das ist nicht nur beim HI-Virus der Fall, wir haben auch bei der Therapie von Bakterien große Probleme mit Resistenzen. Deshalb begannen wir in den Neunzigerjahren, andere Wirkstoffe mit AZT zu kombinieren. Zunächst waren das ddI und ddC, die wie AZT einem DNA-Baustein ähneln. Damit konnten wir deutliche Verbesserungen in der Therapie beobachten. Den Durchbruch brachte der Einsatz von Proteasehemmern.* Die Kombination mit bislang verwendeten antiretroviralen Medikamenten zeigte sich als hochpotent. Der Aids-Forscher David Ho, der 1995 als Erster die herkömmlichen Therapien mit Proteaseinhibitoren kombinierte, sagte damals: „Wir können HIV-Infektionen mehr oder weniger heilen, wenn wir das HI-Virus sehr schnell und konsequent mit einer Kombinationstherapie bekämpfen.“ „Hit hard and early“ ist seitdem das Gebot. Tatsächlich war es ab da möglich, das Virus so weit zu unterdrücken, dass sich bei den behandelten Patienten die Menge der vorhandenen HI-Viren erheblich verringerte. Auch das Resistenzproblem ist dadurch deutlich kleiner geworden. Bei vielen Patienten haben sich unter dieser Therapie selbst nach zehn Jahren nachweislich keine Resistenzen entwickelt.

Unter AZT wurden gravierende Nebenwirkungen beobachtet, darunter eine erhöhte Infektionsanfälligkeit und Anämien. Ist das bei einer Kombinationstherapie anders?

Verschiedene Studien belegen, dass sich die Nebenwirkungsrate der Medikamente in den vergangenen 20 Jahren deutlich verbessert hat. Auch die Lebensqualität unter der Therapie hat sich erheblich gesteigert. Allerdings leiden Patienten am Anfang einer Therapie immer noch häufig an Nebenwirkungen. In den meisten Fällen klingen sie im Verlauf aber langsam ab. Auch die Lebenserwartung ist beeindruckend: Wir kommen in den Bereich von nicht mit HIV-Infizierten. Das ist großartig.

Nach wie vor ist die Krankheit nicht heilbar. Für eine Entwarnung ist es also zu früh, dennoch ist Aids längst nicht mehr so im Fokus wie noch vor ein paar Jahren.

Richtig, HIV ist nicht heilbar. Wichtig ist, dass im Rahmen einer HIV-Infektion andere Erkrankungen – Herz-Kreislauf-, Tumor-, Nerven-Erkrankungen – viel häufiger auftreten und auch zum Tode führen. Zudem bekommen Menschen mit einer HIV-Infektion leichter andere sexuell übertragbare Infektionen, erkranken an Gonorrhoe, Syphilis oder an Hepatitis-C. Insbesondere die Behandlung der Gonorrhoe ist schwierig, da viele Antibiotika nicht mehr wirken.

Vergangenes Jahr zerschlugen sich die Hoffnungen auf eine wirksame Impfung. Ist die Bekämpfung des Virus schwieriger als gedacht?

Wir haben auch aus diesem Misserfolg gelernt. Natürlich waren die Ergebnisse nicht ermutigend – aber wir haben dadurch Hinweise für neue Forschungsansätze erhalten. Sowohl die präventive als auch die therapeutische Impfung werden kommen. Und gerade bei der Entwicklung der therapeutischen Impfung werden uns die Erkenntnisse aus dem vergangenen Jahr helfen.
Unsere Therapiemöglichkeiten entwickeln sich stetig weiter. Mittlerweile können wir von einer sogenannten funktionellen Heilung sprechen: Wenn wir ganz früh, nur Tage bis Wochen nach einer Infektion, mit der Therapie beginnen, kann eine erhebliche Zahl von Patienten das Virus langfristig auch ohne Therapie kontrollieren. Das sind Ansätze, die wir in den vergangenen Jahren erprobt haben. Unser Ziel ist natürlich nach wie vor die Heilung. Aber auch der Weg dahin ist entscheidend, und auf diesem Weg haben wir relativ schnell sehr große Fortschritte gemacht.

In Deutschland steckten sich im Jahr 2012 nach den Schätzungen des Robert-Koch-Instituts 3400 Menschen mit dem HI-Virus an. Die Epidemiologen gehen von insgesamt 78.000 Erkrankten hierzulande aus.
Weltweit sind inzwischen rund 34 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. In einigen Regionen der Erde, etwa im südlichen Afrika, haben sich mehr als 25 Prozent der Menschen im Alter von 15 bis 49 Jahren mit dem Virus angesteckt oder sind bereits an Aids erkrankt. Trotz der inzwischen auch global besseren Versorgung mit Medikamenten verläuft die Krankheit in vielen Fällen tödlich. Experten schätzen, dass weltweit nach wie vor zwei Millionen Menschen pro Jahr an Aids sterben.

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.