Der Mensch auf einem Chip

Tierversuche sind unbeliebt.
Umstritten.
Und ihre Ergebnisse begrenzt.
Doch bald könnte es eine Alternative geben:
Medikamententests auf Organ-Chips




Nach Zukunft sieht es hier nicht aus. Der Glanz des backsteinernen AEGGebäudes aus der Jahrhundertwende in Berlin-Wedding ist längst verblasst, der Fahrstuhl altersschwach. In dem Labor im fünften Stock, in dem eine neue Ära von Medikamententests beginnen soll, essen Uwe Marx und seine Mitarbeiter gerade Quark mit Pellkartoffeln, Butter und Salz – ein Berliner Klassiker. „Wir machen dit hier reihum, jeda is mal dran mit Kochen“, berlinert der Biotechnologe kauend. Der für einen Kopfarbeiter recht muskulöse Forscher redet viel und schnell. Hin und wieder streut er einige Scherze ein und lacht darüber schallend.
Doch der erste Eindruck täuscht: Hier findet Spitzenforschung statt.

Ob Lunge, Leber, Niere, Muskel, Haut oder Darm – weltweit versuchen Forscher derzeit, die Organe des Menschen in Miniaturversionen künstlich nachzuahmen. Spätestens 2017 sollen zehn solcher Mini-Organe auf einem Chip einen menschlichen Metabolismus simulieren. Das wäre ein enormer Fortschritt für die Medikamentenentwicklung, denn bislang sind Forscher, die Wirkungen und Nebenwirkungen neuer Substanzen zumindest erahnen müssen, bevor sie sie am Menschen testen, auf Tierversuche angewiesen. Und diese vorklinischen Testreihen führen leider häufiger zu falschen Prognosen. Weil viele biologische Prozesse, die von medizinischen Wirkstoffen beeinflusst werden können, in Tieren nicht vorkommen oder anders ablaufen. Das hat gravierende Folgen: Von zehn Medikamenten-Kandidaten, die bei Tieren wirken, scheitern neun bei Tests an Menschen. Auch deswegen liegen die Entwicklungskosten für ein zugelassenes, neuartiges Medikament heute bei rund 800 Millionen Euro – der erfolgreiche Kandidat muss die Kosten der Fehlentwicklungen mittragen.

Uwe Marx hatte als einer der ersten Forscher weltweit die Idee, Imitate von Organen wie der Leber, der Lunge oder der Haut auf einem Chip nachzubilden und diese wie im Menschen miteinander zu verbinden. Seine Idee des „Lab-on-a-chip“-Systems war auch ein Kind ihrer Zeit. „2007 war die Stammzellforschung weit genug entwickelt, das menschliche Genom war bekannt, und vor allem hatte sich die Mikrosystemtechnik so schnell entwickelt, dass Miniatur-Labore in Chip-Format möglich waren“, sagt der Biotechnologe und Unternehmer. Schnell sei man auf den Gedanken gekommen, nicht nur Flüssigkeiten auf Chips miteinander reagieren zu lassen, sondern auch Zellen in die winzigen Kammern zu stecken. „Von dort ist der Schritt zu Mini-Organen nicht mehr weit.“

Um seine Vision zu erden, lud Marx 2008 auf eigene Kosten 14 Experten zu einem privaten Workshop zu sich nach Hause ein, 60 Kilometer östlich von Berlin, von wo aus er jede Woche mit dem Fahrrad in die Stadt radelt. Das Ergebnis des Brainstormings verarbeitete er zu einem Konzept für einen Organ-Chip, der verlässliche Aussagen über Medikamentenwirkungen und -nebenwirkungen erlauben sollte. Doch der Europäischen Union war das Projekt, das er im Rahmen des Forschungsförderungsprogramms Framework vorschlug, „zu ambitioniert“. Auch sonst erntete Marx eher skeptische Kommentare.

Etwas ganz Großes schaffen

Das war für den Fünfzigjährigen nichts Neues – er hatte schon früher gehört, dass dieses oder jenes „nicht geht“. Und später dann doch ging. Etwa als er 1994 die Berliner Firma ProBioGen mitgründete, für die er als Forschungschef über zehn Jahre einen künstlichen Lymphknoten entwickelte, den vorher kaum jemand für machbar hielt. Oder als er die Leipziger Firma Vita 34 mitgründete, die Stammzellen aus Nabelschnurblut für spätere Stammzellbehandlungen einfriert und als Zellersatzquelle vorhält – gegen Gebühr versteht sich.

Nun will er noch einmal „etwas ganz Großes“ auf den Weg bringen. Dafür hat er mit eigenem Geld und Hilfe von ProBioGen das Start-up TissUse gegründet, das von Anfang an eng mit der TU Berlin verbunden war. Durch den Wettbewerb „GO-Bio“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erhielt das Unternehmen 2009 seine Anschubfinanzierung, weitere 1,5 Millionen Euro kamen von Investoren.

Marx kann bereits einen MultiOrgan-Chip vorweisen, der Haut und Leber – die beiden Organe, die für die Pharmaund die Kosmetikindustrie am interessantesten sind – mit Blutgefäßimitaten kombiniert. Auch Leberund Nervengewebe verbindet sein Team schon miteinander. Doch mittlerweile ist der Berliner mit seiner Idee nicht mehr allein. In den USA arbeiten rund zwei Dutzend Forschungsstätten an ähnlichen Chips. Wie groß dort das Interesse ist, zeigt eine bislang einzigartige Zusammenarbeit zwischen den Nationalen Gesundheitsforschungsinstituten (NIH), der Medikamentenzulassungsbehörde FDA und der Defense Advanced Research Projects Agency DARPA; diese Initiative soll im Auftrag des Verteidigungsministeriums den technologischen Fortschritt der USA sichern. Mit jeweils gut 70 Millionen Dollar finanzieren DARPA und NIH rund 20 Forschungsgruppen im ganzen Land.

Marx scheint die Konkurrenz allerdings eher zu beflügeln als abzuschrecken. „Wir glauben, dass wir schneller sein werden als die Amerikaner“, sagt er und lehnt sich demonstrativ entspannt zurück. Schließlich habe TissUse einen jahrelangen Entwicklungsvorsprung. Und die US-Kollegen haben nicht unendlich Zeit: 2017 sollen sie etwas Brauchbares vorweisen – egal, woher die beste Technologie kommt. „Auch das ist für uns eine Chance“, sagt Marx. Wenn sich die Investoren weiterhin nicht trauen, in sein Zukunftsprojekt zu investieren, wird er seine Forschungsergebnisse eben in die USA verkaufen.

„Bevor die Amis ihr Programm gestartet haben, hieß es, dass Multi-Organ-Chips unmöglich seien. Jetzt sagen die gleichen Leute, dass wir tolle Sachen machen, aber die Amerikaner bestimmt schneller sein werden“, erzählt der Forscher mit spöttischem Grinsen. Rund 20 Millionen Euro fehlen, um den Zehn-Organ-Chip entwickeln zu können. Das ist nicht viel für solch ein Projekt, zumal laut Marx die Pläne fertig sind bis zum Design der etwa daumengroßen Chips, in denen die Miniaturorgane in mehreren Schichten übereinander gelagert und miteinander verbunden sein werden.

Dem Geld folgen?

Das Wyss Institute der Harvard University in Cambridge, USA, das bereits Lunge, Leber, Darm und andere Organe auf Chips nachgebildet hat, kennt solche finanziellen Engpässe nicht. Der Schweizer Milliardär und Harvard-Absolvent Hansjörg Wyss hat 250 Millionen Dollar in die Gründung des Instituts gesteckt – die größte Spende einer Privatperson an die Elite-Uni. Da drängt sich die Frage auf, warum Marx mit seiner Idee nicht einfach dem Geld in die USA gefolgt ist. „Die würden mich und meine 15 Leute sofort nehmen“, antwortet er, „aber es gibt keinen Grund für mich zu gehen.“ Nur in Deutschland, glaubt Marx, könne er die richtigen Gerätetechnik-Ingenieure und Gewebezucht-Experten zu einem offenen und kreativen Gedankenaustausch zusammenbringen, um seine Idee zu verwirklichen.

So oder so wird es noch einige Jahre dauern, bis Organund Multi-Organ-Chips in der klinischen Forschung zum Einsatz kommen. Denn selbst wenn sie funktionieren, müssen sie erst noch ihre Zuverlässigkeit beweisen. „Will man mit solchen Systemen die Sicherheit der Patienten und Freiwilligen verbessern, die ein neues Medikament bekommen, dann müssen sie wirklich getestet sein“, sagt der Toxikologe Thomas Hartung, der lange das Europäische Zentrum für die Validierung alternativer Testmethoden geleitet hat und jetzt an der Johns Hopkins University in Baltimore forscht und lehrt.

Mittlerweile gebe es Tests ohne Tiere, die vorhersagen könnten, ob eine Substanz Haut oder Auge reizt. „Aber sobald es um komplexe Fragen geht, etwa ob eine Substanz Krebs auslöst, wird es schwierig“, erklärt Hartung. Auch Tierversuche können darüber keine hundertprozentigen Aussagen machen, und so hält der Forscher neue Testsysteme für dringend nötig. „Der Körper ist mehr als die Summe einzelner Gewebe oder Organe“, erklärt Hartung. „Nur komplexe Systeme können uns sagen, wie die Organe zusammenspielen.“

Erster Schritt einer langen Reise

Das Problem ist bloß, dass es schwierig genug ist, einzelne Organe nachzubauen – ungleich schwieriger ist es, solche Organe zu kombinieren. Denn dafür müssen unter anderem die relativen Organgrößen und die Stoffflüsse perfekt abgestimmt sein. Was ist, wenn ein Chip zum Beispiel eine schädliche Substanz auf dem Weg von der künstlichen Leber zur Mini-Niere im Kunstblut zu stark verdünnt und die Nierenzellen nicht wie beim Patienten reagieren? Bislang hätten Forscher wie Marx nicht bewiesen, dass eine größere Zahl bekannter Medikamente auf den Organoder Multi-Organ-Chips wie im Menschen wirkt, so Hartung. „Bisher wurden nur einzelne Substanzen getestet, da ist noch viel Arbeit zu leisten“, kritisiert er. „Aber jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt.“

Kurzfristig, glaubt Hartung, werde man Multi-Organ-Chips wohl zumindest dort einsetzen können, wo man Tierversuchen nicht traut oder wo sie keinen Sinn machen. „Heute sind die Hälfte aller neu zugelassenen Medikamente Proteine, zum Beispiel Antikörper, sogenannte Biologics. Bei denen sind Tierversuche so sinnvoll wie ein Kropf.“ Antikörper sollen menschliche Moleküle abfangen, nicht tierische – trotzdem ist es bislang vorgeschrieben, sie an Tieren zu testen, bevor sie Menschen verabreicht werden.

Entsprechend groß ist der Bedarf an Alternativen zu Tierversuchen – und jenseits der Organ-Chips gibt es zurzeit keine andere innovative Technologie, die diesen Platz einnehmen könnte. „Die Pharmaindustrie ist an den Chips sehr interessiert“, sagt Lewis Kinter, der beim Pharmakonzern AstraZeneca die Toxikologie und Medikamentensicherheit leitet. Es gebe allerdings zwei Sichtweisen unter den Forschern: „Die einen hoffen, dass die Chips die vorgeschriebenen Tierversuche ablösen könnten.“ Die andere Gruppe, zu der sich Kinter zählt, denkt, dass „die Chips lange vor den regulären Tierversuchen helfen können, bessere Entscheidungen darüber zu treffen, welche Wirkstoffe weiterentwickelt werden sollten und wie deren Effizienz und Sicherheit verbessert werden können.“

In der frühen Entwicklungsphase, so Kinter, sei der Bedarf für die Chips viel größer. Denn während zumindest einer von zehn Kandidaten nach den klinischen Studien zugelassen wird, schafft es bis zur Zulassung nur einer von 5000 oder gar 10.000 Wirkstoffen, die am Anfang der Medikamentenentwicklung als Kandidaten galten – also noch vor den regulären toxikologischen und pharmakologischen Zellkultur- und Tierversuchen. „Wenn wir die Fehlentwicklungsrate von 9:10 auf 8:10 senken, können wir die Zahl neuer Medikamentenzulassungen verdoppeln“, sagt Kinter. AstraZeneca ist Ende vergangenen Jahres eine Kooperation mit dem Wyss Institute eingegangen.

Langfristig könnte es für OrganChips noch ein Einsatzgebiet geben: in der individualisierten Medizin. Denn für die Chips werden menschliche Zellen benötigt, die bisher aus Resten von Operationen gewonnen werden – Marx verwendet für seine Haut-Chips Gewebe, das bei Beschneidungen übrig bleibt. Später aber sollen die Chips mit Stammzellkulturen bestückt werden – die im Idealfall von betroffenen Patienten stammen. Damit könnten möglicherweise Erkrankungssituationen einzelner Patienten beziehungsweise Patientengruppen auf Chips nachgestellt werden, zum Beispiel, wenn Patienten unterschiedlich auf Medikamente reagieren: So kann etwa die Wirkung von Warfarin gegen Blutgerinnung bei Menschen reduziert sein, deren Leberenzyme das Medikament besonders schnell abbauen, während bei anderen die Enzyme so langsam arbeiten, dass sich im Blut eine gefährliche Überdosis ansammelt. Wären die Chips mit Zellen von Patienten mit unterschiedlicher genetischer Konstitution bestückt, ließe sich frühzeitig herausfinden, welche Medikamente bei welchen Patienten wirken und welche zu starke Nebenwirkungen haben.

Das hätte auch Auswirkungen auf die Zulassung neuer Medikamente. In den USA konnte die FDA Wirkstoffe bislang nicht zulassen, die beispielsweise bei 40 Prozent der Patienten schwere Nebenwirkungen auslösen. Wenn jedoch mithilfe von Organ-Chips erkannt werden könnte, was diese 40 Prozent anfällig macht, und die Patienten danach getestet werden, könnten die übrigen 60 Prozent von dem Wirkstoff profitieren. Um diesem Ziel näher zu kommen, plant Uwe Marx einen Diabetes-Chip, auf dem Medikamente gegen Zuckerkrankheit an Gewebe von Diabetes-Patienten getestet werden sollen. Am Wyss Institute wird ein ähnlicher Chip mit Zellen von Asthma-Patienten entwickelt.

Ob Marx und seine Kollegen ihre Vision realisieren können, ist angesichts vieler technischer Detailfragen offen. Doch in Berlin sieht man der Zukunft gelassen entgegen. „Das ist wie mit der Eisenbahn“, sagt Marx. „Achtzehnhundertirgendwas wusste auch niemand, ob man Eisenbahnschienen mitten durchs Indianerland vom Osten in den Westen der USA legen kann.“ Bis es schließlich jemand tat.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.