Abbruch!

Laufend werden neue Medikamente in klinischen Prüfungen getestet. Manche müssen vorzeitig gestoppt werden, weil die Nebenwirkungen des Mittels zu schwer sind – oder weil es zu gut wirkt.




David Oakley erinnerte sich später noch gut an den 12. März 2006, einen Sonntag. Er war nachmittags im Northwick-Park-Krankenhaus im Nordwesten Londons angekommen, wo er und fünf weitere Männer am nächsten Tag an einer klinischen Studie teilnehmen würden. Der damals 34-Jährige sah der Prozedur gelassen entgegen: Er hatte schon an zwei solcher Testreihen teilgenommen, als er knapp bei Kasse war, und so war sie für ihn fast Routine. In einigen Wochen würde er seine Hochzeit feiern – mit dem Geld, das er hier verdiente. „Es war wie in einer Jugendherberge“, erzählte er später. „Wir waren entspannt und hatten Spaß.“ Oakley spielte Billard, die jungen Männer aßen Käse und Kräcker, dazu gab es Wasser – die übliche Diät vor Studienbeginn. Es war ein schöner Abend. 24 Stunden später kämpften David Oakley und die anderen Probanden auf der Intensivstation um ihr Leben.
Das Medikament, das die sechs Männer am nächsten Tag ab acht Uhr morgens injiziert bekamen, hieß TG N1412. Der Wirkstoff war vom Würzburger Biotech-Startup TeGenero zur Behandlung von Multipler Sklerose, rheumatoider Arthritis und Blutkrebs entwickelt worden. Die Tierversuche waren gut verlaufen: Bei Ratten hatte der Antikörper TG N1412 den Verlauf von Autoimmunerkrankungen positiv beeinflusst, bei Makaken zeigte er keine unerwünschten Nebenwirkungen – und das Immunsystem der Primaten ist dem des Menschen sehr ähnlich. In Großbritannien hatte TeGenero eine Genehmigung für die Studie bekommen, genau wie in Deutschland, wo dafür das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in Langen zuständig ist. Weil es hier noch ein paar Rückfragen gab, verzögerte sich die deutsche Studie. In London konnte man starten.
Die Ärzte im Northwick-Krankenhaus klärten ihre Probanden auf: Sie hätten höchstens mit leichten Problemen zu rechnen, Kopfschmerzen vielleicht und Übelkeit, die jedoch nach ein paar Stunden abklingen würden. David Oakley war der erste: Ihm wurden 0,1 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht injiziert, das entsprach etwa einem Fünfhundertstel der MakakenDosis. Zehn Minuten später war der nächste Proband an der Reihe, dann immer so weiter.
Gegen halb neun setzten bei Oakley die ersten Symptome ein: Kopfschmerzen, die immer schlimmer und schließlich unerträglich wurden. Dazu Übelkeit mit massivem Erbrechen, hohes Fieber, starke Schmerzen im ganzen Körper. Kurz darauf ging es allen Männern schlecht. Obwohl die ersten Probanden bereits über massive Beschwerden klagten, spritzen die Ärzte auch noch dem letzten das Mittel.

Probanden in Lebensgefahr

Später rekonstruierte man, was passiert war: Die Testpersonen durchlitten einen sogenannten Zytokin-Sturm mit heftigsten Entzündungsreaktionen, der schließlich zum multiplen Organversagen führte. Das Blut klumpte, das Immunsystem entgleiste komplett – die Probanden waren in akuter Lebensgefahr. Sie kamen gegen Mitternacht auf die Intensivstation, wo sie tagelang mit dem Tod rangen. Es versteht sich, dass das PEI in Deutschland die Genehmigung für die Studie sofort zurückzog.
Es vergingen Wochen, bis die sechs Männer aus der Klinik entlassen werden konnten. Ryan Wilson, ein 20-jähriger Klempner, musste vier Monate stationär behandelt werden, seine Organe waren besonders schwer betroffen. Mehrere seiner Zehen und Fingerkuppen waren wie nach Erfrierungen abgestorben und mussten amputiert werden. Alle Probanden litten lange unter Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen und Erschöpfung. Nur wenige Monate später wurden bei David Oakley erste Anzeichen von Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert.

Der Fall TG N1412 ist der Worst Case. Er ist berühmt geworden, weil er eine extreme Ausnahme darstellt. Eine Ausnahme, aus der Medizin und Forschung lernten.

Die bis dahin gängige Praxis, mehreren Probanden einen neuen Wirkstoff kurz nacheinander zu verabreichen, wurde sofort aufgegeben – seitdem ist ein größerer zeitlicher Abstand vorgeschrieben, sodass die sogenannten First-in-man-Studien jederzeit ohne Schaden für die anderen Probanden abgebrochen werden können. Außerdem verabschiedete der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) an der Europäischen Arzneimittelagentur neue Richtlinien für die erstmalige Anwendung am Menschen, an denen das deutsche Paul-Ehrlich-Institut intensiv mitwirkte.
Dort hat man auch das eigene Vorgehen überarbeitet: „Die Anträge auf Genehmigung einer klinischen Prüfung, die eine Erstanwendung beim Menschen beinhalten, werden jetzt in einem internen Kreis von Experten in einer spezifisch dafür einberufenen Sitzung explizit diskutiert“, sagt Jan MüllerBerghaus vom PEI. Fragen nach dem am besten geeigneten Tiermodell oder der minimal möglichen Erstdosis für den menschlichen Probanden haben massiv an Bedeutung gewonnen.
Daneben wollten die Wissenschaftler aber natürlich auch wissen, warum die Wirkung von TGN1412 beim Menschen so verheerend war. Wieso hatten die Versuchstiere keinerlei Nebenwirkungen gezeigt, obwohl ihnen sogar eine viel höhere Dosis verabreicht worden war?
Es dauerte Jahre, bis die Ursache für die Katastrophe gefunden war, ein winziges Detail: CD28-Antigen, das Molekül, an dem TGN1412 andockte, weicht beim Makaken von der menschlichen Version minimal ab. Deshalb überstand das Tier problemlos, was die Menschen fast tötete.
Auch wenn die Studie von TeGenero als tragischer Einzelfall in die Geschichte der Wissenschaft einging: Die Erprobung neuer Wirkstoffe am Menschen bleibt selbst bei sorgfältigster Planung ein Risiko. Ob ein Mittel bei allen Menschen gleich wirkt, ist ebenso ungeklärt wie die Fragen, ob seine Nebenwirkungen kalkulierbar und tolerabel sind oder ob es überhaupt eine Verbesserung darstellt.

Millionen-Flops

Immer wieder muss nach jahrelangen Versuchsreihen eine dieser Fragen mit Nein beantwortet werden – womit sich millionenschwere Entwicklungen der Pharmafirmen als Flop entpuppen können. Erst im vergangenen Jahr beispielweise musste der amerikanische Konzern Merck & Co. eine Großstudie mit mehr als 25 000 Patienten abbrechen und den Verkauf seines Cholesterinmittels Tredaptive beenden, weil es schwere Nebenwirkungen verursachte und nicht besser wirkte als andere Medikamente. Konkurrent Roche brach im Mai 2012 seine Studie für den Cholesterinsenker Dalcetrapib ab, von dem sich der Konzern rund zehn Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr versprochen hatte – das Präparat war kein Fortschritt gegenüber der Standardtherapie.
Das kann im ungünstigsten Fall nicht nur zu potenziellen Umsatzeinbußen führen oder der Abschreibung von Millionen-Investitionen, die in die Wirkstoff-Entwicklung und Studien geflossen sind: Das Scheitern eines Medikaments kann ruinöse Ausmaße annehmen, wie der Pharma-Riese Pfizer erleben musste. Sein Cholesterinsenker Torcetrapib war lange vor dem offiziellen Start als Heilsbringer angekündigt worden, als eine der wichtigsten Neuerungen seit Jahrzehnten im Kampf gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Arznei sollte das meistverkaufte Medikament aller Zeiten werden – und endete als teuerster Flop. Ende 2006 musste eine weltweite Studie mit 15 000 Patienten gestoppt werden, weil sich die Todesfälle häuften. Der Börsenwert des Konzerns sank in der Folge innerhalb einer Woche um sagenhafte 28 Milliarden Dollar.
Manchmal scheitern Studien aber auch am Erfolg. So war es beispielsweise mit Lapatinib. Der Wirkstoff des britischen Pharmaunternehmens GlaxoSmithKline (GSK) war für den Einsatz bei HER2positivem Brustkrebs entwickelt worden, einer besonders aggressiven Krebsform. Durch seine winzige Größe hatte er einen neuen Ansatzpunkt: Im Gegensatz zum großen Antikörper Trastuzumab, der an der Oberfläche eines Tumors wirkt, kann das kleine Molekül Lapatinib durch die Zellwand in den Tumor eindringen und dort die Zellteilung stoppen. Trastuzumab war ein Durchbruch in der Krebstherapie, doch zahlreiche Patientinnen entwickelten dagegen Resistenzen. Für sie war Lapatinib ein neuer Hoffnungsschimmer.
Weltweit sollte der neue Wirkstoff an rund 400 Patientinnen mit fortgeschrittenem oder metastasiertem Brustkrebs getestet werden, bei denen Trastuzumab oder bestimmte ChemoTherapien versagt hatten. Die GSKStudie war zweiarmig angelegt: Die Patientinnen des Monotherapie-Arms bekamen Capecitabin, eine Chemotherapie in Tablettenform; die des Kombinationsarms erhielten außerdem Lapatinib, ebenfalls als Tablette.

Verblüffende Zwischenanalyse

Vor dem Studienstart wurde ein „primärer Endpunkt“ festgelegt, also das Ziel einer klinischen Studie, der Parameter, an dem sich ihr Erfolg oder Misserfolg messen lässt. Bei Lapatinib sollte es die Zeit bis zur Tumorprogression sein: Im besten Fall, so die Hoffnung der Forscher, würde sich im Kombinationsarm die Zeit bis zum Tumorwachstum um die Hälfte verlängern – ein Tumor würde also zum Beispiel erst nach sechs Monaten weiter wachsen statt nach vier.
Die Studie begann am 1. März 2004 – und erbrachte in der Zwischenanalyse anderthalb Jahre später ein verblüffendes Ergebnis: Die Zeit bis zur Tumorprogression hatte sich bei den Probandinnen im Kombinationsarm nahezu verdoppelt. Bei den Patientinnen, die Lapatinib einnahmen, begann der Tumor nach achteinhalb Monaten wieder zu wachsen – die Tumoren, die nicht mit dem neuen Wirkstoff behandelt wurden, wuchsen bereits nach viereinhalb Monaten. „Dass das Molekül so stark bei so intensiv vorbehandelten Patientinnen wirkt, war eine Riesenüberraschung“, sagt Jürgen Dethling, der bei GSK den medizinischen Fachbereich Onkologie leitet. Außerdem kam es unter Einnahme von Lapatinib zu weniger Hirnmetastasen, ein Zeichen dafür, dass die Arznei die BlutHirn-Schranke überwindet, was dem Antikörper Trastuzumab nicht gelingt.

Abbruch aus ethischen Gründen

Der große Erfolg warf allerdings ethische Fragen auf: Durfte man den Frauen im Monotherapie-Arm den neuen Wirkstoff vorenthalten? Und durfte man weiterhin Frauen in den Monotherapie-Arm aufnehmen? Musste man die Studie nach diesen Erkenntnissen nicht vielmehr abbrechen? Das unabhängige Expertenkomitee, das die Studie überwachte, war in seiner Empfehlung einstimmig: Die Behandlung mit Lapatinib sollte allen beteiligten Frauen ermöglicht werden, weitere Patientinnen sollten die Forscher nicht mehr in die Studie aufnehmen. GSK bot allen Frauen im Monotherapie-Arm einen Wechsel in den Lapatinib-Arm an, ein sogenannter Crossover, und brach die weitere Rekrutierung ab.
Für die betroffenen Frauen war diese Entscheidung richtig – aber auch für die Forschung hatte sie Konsequenzen. Durch den Crossover gab es kein statistisch aussagekräftiges Material für einen Vergleich zwischen den beiden Studienarmen. Außerdem verwischte die frühe Zwischenanalyse die Aussagekraft der Studie, denn es nahmen am Ende weniger Patientinnen an ihr teil als geplant. Der Konzern hat daraus gelernt: „Heute achten wir darauf, die erste Zwischen-Analyse erst dann zu machen, wenn alle Patienten in die Studie aufgenommen sind“, sagt Jürgen Dethling.
Verändert hat sich inzwischen aber auch der Blick auf den primären Endpunkt. Setzten die Forscher bei Lapatinib noch auf die Zeit bis zur Tumorprogression, zielen sie heute in ihren Definitionen verstärkt auf die Überlebenszeit. Denn auch wenn das makaber klingt: „Um endgültig die Wirksamkeit eines onkologischen Medikaments zu erfassen, muss man im Grunde warten, bis ein großer Teil der Probanden verstorben ist“, sagt der Mediziner. „Erst dann kann man statistisch nachweisen, ob und wie sich die Überlebenszeit durch das Medikament verlängert hat.“ Genau das war bei der Lapatinib-Studie nicht mehr möglich.
Um endgültig die Wirksamkeit eines onkologischen Medikaments zu erfassen, muss man im Grunde warten, bis ein großer Teil der Probanden verstorben ist. – Jürgen Dethling, GSK

Das ethische Dilemma hinter dieser Geschichte ist universell – und ungelöst: Soll bei schnell sichtbarer Wirksamkeit eines Präparats das Leben der Patienten verlängert werden, auch wenn dadurch die Studienergebnisse verwässern? Oder nimmt man Todesfälle in Kauf, um belastbares Zahlenmaterial zu erzielen, weil das hilft, später eine Vielzahl von Patientenleben zu retten? „Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Gemeinsame Bundesausschuss legen bei ihrer Nutzenbewertung einen immer größeren Wert auf die Überlebenszeit“, weiß Dethling. Und auch die Krankenkassen forderten heute einen solchen Beleg.

Ob Lapatinib den Beweis antreten kann, wird sich zeigen. Das Medikament ist in Kombination mit anderen Therapien weiter getestet worden, die Ergebnisse der Studie werden für diesen Sommer erwartet. Für Frauen mit HER2-positivem Brustkrebs hat sich das kleine Molekül bereits als Standardmedikament etabliert. Weil es eben wirkt. 

Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.