Clemens Tesch-Römer im Interview über das Altern

Wir werden nicht nur immer älter.
Wir werden auch älter, als wir es wir es uns vorstellen können.
Viele Leser dieses Interview werden 100 Jahre alt.
Was bedeutet das für jeden Einzelnen? 
Und was bedeutet es für die Gesellschaft?





Offensichtlich ist das Leben in den unteren Bereichen einer gesellschaftlichen Hierarchie stressig.

Bei der Begrüßung erzählt Professor Clemens Tesch-Römer, dass er gar nicht so recht vorbereitet sei, dass er das ­Gespräch sogar beinahe abgesagt hätte, denn eigentlich habe er keine Zeit. Da wäre ein Termin in Brüssel, irgendeine Konferenz, und dann feiere sein Institut auch noch den 40. Geburtstag: das Deutsche Zentrum für Altersfragen (DZA), dessen Aufgabe es laut Satzung ist, „Erkenntnisse über die Lebenslage alternder und alter Menschen zu erweitern, zu sammeln, auszuwerten, aufzubereiten und zu verbreiten, damit dieses Wissen mit Blick auf die mit dem Altern der Bevölkerung einhergehenden gesellschaftlichen und sozialpolitischen Herausforderungen im Sinne einer wissenschaftlich unabhängigen Politikberatung nutzbar gemacht werden kann“.

Das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend grundfinanzierte Berliner Institut ist heute die wichtigste Forschungseinrichtung in seinem Bereich. Ein gutes Stück dazu beigetragen hat der Deutsche Alterssurvey, eine bundesweite repräsentative Umfrage unter Menschen „in der zweiten Lebenshälfte“, also über 40.

Clemens Tesch-Römer gehört selbst zu dieser Altersgruppe: Der Psychologe ist 57 Jahre alt, wirkt aber jünger. Zu der Bemerkung, die Themen Alter und Altern wirkten umso rätselhafter, je mehr man darüber läse, nickt er nur: Ja, das sei wohl so.

Ab wann ist man eigentlich alt?

Dafür gibt es keine allgemeingültige ­Regel. Im Profi-Fußball ist man ab 35 alt, in der Politik kommen viele ab 50 erst in ihre besten Jahre. Wenn man in Umfragen von den Menschen wissen will, ab wann für sie jemand alt ist, ­sagen die meisten: mit Ende 70. In der Altersforschung geht es häufig um Menschen über 65. Eigentlich geht es da um das Renteneintrittsalter – wir orientieren uns also an einem sozialen Übergang. Dieser Ansatz stammt aus der Soziologie und definiert die Lebensphasen über das Erwerbsleben: Die Jugend endet, wenn wir anfangen zu arbeiten, das Alter beginnt, wenn wir damit aufhören.

Das wirkt relativ beliebig.

Das ist es auch, aber für praktische ­Fragestellungen kann es sinnvoll sein, Altersgrenzen festzulegen. Für die Europäische Union beispielsweise gelten 55- bis 64-Jährige als ältere Arbeitnehmer und werden damit von der Arbeits- und Sozialpolitik in besonderer Weise wahrgenommen. Aber Vorsicht!

Man könnte denken, dass in diesem Alter die Leistungsfähigkeit nachlässt. Doch schaut man näher hin, stellt man fest, dass es im Berufsleben fast keinen Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit und Alter gibt: Es kann sein, dass der Einzelne nicht mehr so schnell ist oder so stark wie früher, aber die größere Erfahrung gleicht das in der Regel aus.

Aber irgendwann beginnt doch der Verfall. Und dann ist man alt, oder?

Wir sollten Altsein nicht mit Verfall gleichsetzen, das wird der Lebenssituation vieler älterer und alter Menschen nicht gerecht. Es ist zwar richtig, dass mit dem Lebensalter die Wahrscheinlichkeit steigt, an mehreren, oft chronischen Erkrankungen zu leiden. Aber es gibt auch sehr alte Menschen, die recht gesund sind. Außerdem haben sich Gesundheit und Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten enorm verbessert. Früher hieß es, Menschen können im Mittel nicht älter als 70 werden, dann waren wir bei 75, 80 … In Deutschland gehen wir auf die 90 Jahre zu.

James Vaupel, der Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, hat die Entwicklung der Lebenserwartung über das 20. Jahrhundert betrachtet und festgestellt, dass es da einen linearen Anstieg gibt – Schätzungen für eine maximale mittlere Lebenserwartung wurden und werden immer wieder überschritten.

Ist das so überraschend? Menschen, die älter werden als alle anderen, gab es doch immer, angefangen bei Methusalem.

Sicher, aber das waren Ausnahmen. Dass das hohe Alter ein Massenphänomen ist, dass wir in den entwickelten Ländern eine gute Chance haben, 75, 80 oder 85 Jahre alt zu werden: Das ist neu. Und das ist im Bewusstsein vieler Menschen noch nicht angekommen.
Ich unterrichte auch Psychologie. Und wenn ich meinen Studierenden sage, die Hälfte von euch hat eine gute Chance, 100 Jahre alt zu werden, merkt man, dass keiner weiß, was das wirklich bedeutet.

Mit welchen Faktoren erklären Sie den enormen Anstieg?

Es handelt sich um einen großen gesellschaftlichen Erfolg. Den Menschen geht es wirtschaftlich im Schnitt besser, mit Diagnostik und medizinischer Behandlung ist es vorwärtsgegangen, die Arbeitsbedingungen haben sich verbessert, und wir leben gesünder. Bis zum Zweiten Weltkrieg bewirkte all das ein Sinken der Säuglingssterblichkeit, danach sorgte es für eine Verlängerung der zweiten Lebenshälfte, also für gewonnene Jahre im Alter.

Wodurch wird überhaupt bestimmt, wie alt wir werden? Oft heißt es, entscheidend seien vor allem gute Gene.

In der Biologie gibt es zwei Ansätze, das Altern zu erklären. Die Genetiker sagen: In uns muss eine Programmierung existieren, die dafür sorgt, dass wir so alt werden, wie wir werden. Denn warum werden wir nicht 200? Oder 300?

Andererseits zeigt die Biologie aber auch: Leben ist gefährlich – bei jedem Stoffwechsel entstehen Stoffe, die den Körper schädigen, die sogenannten ­freien Radikale. Wird der Stoffwechsel reduziert, entstehen auch weniger freie Radikale. In Tierversuchen wurde zudem mehrfach nachgewiesen, dass die Lebenserwartung steigt, wenn der Stoffwechsel reduziert wird. Aber auch Umwelteinflüsse spielen eine wichtige Rolle.

Es stimmt also: Dünne Menschen leben länger als dicke Menschen?

Einerseits. Doch es kommen andere Faktoren hinzu. Wir wissen zum Beispiel, dass Menschen mit einem höheren gesellschaftlichen Status länger leben, weil sie mehr über gesunde Lebens­führung wissen, weniger belastet sind, mehr Erholung und eine bessere medizinische Betreuung bekommen.

Doch wenn wir uns in einem reichen Land wie Deutschland die obere Mittelschicht ansehen, deren Möglichkeiten sich gar nicht mehr so sehr von denen der Oberschicht unterscheiden, stellen wir fest, dass die Mitglieder der Oberschicht trotzdem älter werden. Offensichtlich ist das Leben in den unteren Bereichen einer gesellschaftlichen Hie­rarchie stressig.

Weil man sich permanent in einem sozialen Kampf befindet?

In erster Linie ist es wichtig, die Ge­fahren der Armut zu sehen und zu bekämpfen. Aber reicht die Armutsbekämpfung? Wenn alle Menschen in einer Gesellschaft einen gewissen Wohlstand erreicht haben, müssten doch auch alle dieselbe Chance haben, ein hohes Alter zu erreichen. Aber so ist es nicht. Hie­rarchien sind stressig – außer man steht ganz oben.

Und die Person selbst – was kann der Einzelne für ein gutes Alter tun?

Früh anfangen. Aber es ist nie zu spät, etwas für ein gutes Alter zu tun. Frühe Investitionen in Bildung zahlen sich noch im hohen Alter aus: Gut gebildete Menschen haben eine bessere Gesundheit und ein größeres Netz von Freunden als wenig gebildete Menschen.

Aber es lohnt sich auch noch mit 60 oder 80 Jahren, Sport zu treiben, mit anderen etwas zu unternehmen und neugierig zu bleiben. Beim Tanzen kann man das übrigens alles gut verbinden: körperliche Bewegung, sozialen Austausch und kognitive Herausforderung.

Womit wir bei den Qualitäten des Alters wären.

Im Moment steigt die Lebenserwartung Jahr für Jahr um einige Monate, aber natürlich muss man fragen, ob wir die gewonnene Zeit auch nutzen können – oder ob sich die Lebenszeit eher mit Krankheit und Pflegebedürftigkeit verlängert.

Glücklicherweise zeigt der Deutsche Alterssurvey, den wir seit 1996 durchführen, ein recht erfreuliches Bild: Heute sind mehr ältere Menschen gesund und aktiv als früher, und auch der Anteil der gesunden Lebenszeit an der Gesamtlebenszeit ist prozentual gestiegen. Was übrigens auch eine Antwort auf die häufig gestellte Frage ist: Könnten Menschen länger arbeiten? Meine Antwort ist: Ja.

Sie könnten – aber sollten sie auch? Für einen Journalisten ist es von Vorteil, älter zu sein: Man weiß mehr und kann Dinge besser einordnen. Für einen älteren Gerüstbauer ist die Situation deutlich schlechter.

Sicher, es gibt Jobs, die man nicht bis 70 machen kann. Doch in vielen Fällen müssen sich vor allem die Unternehmen fragen: Was können wir tun, damit Menschen bei uns länger arbeiten können? Ist weitere Technisierung eine Hilfe? Sind es horizontale Karrieren? Wobei die Anforderungen am Arbeitsplatz seit einigen Jahren deutlich stärker im psychischen Bereich liegen: Unsicher­heit, Stress, Zeitdruck …

Könnte für ältere Menschen Teilzeitarbeit eine Lösung sein?

Der größte Versuch in diesem Bereich ist die 1996 eingeführte Altersteilzeit. Dort gibt es zwei Möglichkeiten: Beim Gleichverteilungsmodell wird die Arbeitszeit auf die Hälfte reduziert und über den gesamten Zeitraum der Alters­teilzeit verteilt. Beim Blockmodell arbeitet man während der ersten Phase voll weiter und tritt danach in die ebenso lange Freistellungsphase. Während aller Phasen erhält man sein reduziertes Altersteilzeit-Gehalt.

Und es hat sich gezeigt: Die Leute wollen einen klaren Schnitt. Etwa 90 Prozent der Betroffenen wählen die zweite Variante. Ganz abgesehen davon, dass neue negative Altersstereotypen entstehen, wenn man sagt, dass man ab 55 oder 60 Teilzeit arbeiten soll. Ich habe nichts gegen flexible Arbeitszeiten – die können in allen Altersphasen sinnvoll sein. Und eben nicht nur für Ältere.

Ältere Erwerbstätige sind also in vielen Bereichen so leistungsfähig wie jüngere und wollen oft auch dasselbe. Aber irgendetwas muss Jung und Alt doch unterscheiden.

Natürlich gibt es Unterschiede. Je älter wir werden, desto häufiger leiden wir zum Beispiel an meist chronischen Erkrankungen. Und es gibt weitere Altersunterschiede. Aus der Motivationsforschung wissen wir, dass für jüngere Menschen Neugier ein großer Motivator ist, ältere dagegen eher an positiven Begegnungen interessiert sind. Wenn man fragt, mit wem sie sich lieber zum Abendessen verabreden würden, mit einem Popstar oder einem Familienmitglied, wählen in der Regel nur die Jüngeren den Popstar. Das hat allerdings nicht so sehr mit dem Alter zu tun, als mit der Distanz zu einem nahenden Ende: Wenn man den Jüngeren sagt, sie würden am folgenden Tag nach Kapstadt ziehen, wählen sie ebenfalls das Familienmitglied.

Und wie steht es mit der Flexibilität? Alte sind doch angeblich starrsinnig.

Es gibt tatsächlich Befunde aus der Persönlichkeitspsychologie, die bestätigen, dass die Persönlichkeit mit den Jahren etwas starrer wird. Allerdings müssen wir dabei immer bedenken, dass es große Unterschiede zwischen Menschen gibt. Dagegen sind die Altersveränderungen in der Lebensmitte wirklich nur minimal.

Hilft Flexibilität, um auch im Alter jung zu bleiben?

Man hat es ja glücklicherweise zumindest zum Teil selbst in der Hand, wie man alt wird. Ich rate jüngeren Menschen, offen zu sein, immer wieder neu anzufangen, immer weiter dazuzulernen. Und sie sollten langfristig an ihre Gesundheit denken.

Wir fragen im Alterssurvey auch danach, wie oft die Leute Sport machen, keine extremen Sachen wie Boxen oder Triathlon, sondern Laufen, Fahrradfahren, Schwimmen. Das Ergebnis ist erschreckend: Schon bei den 40-Jährigen machen mehr als 40 Prozent gar nichts! Und bis zum 75. Lebensjahr steigt die Rate auf 80 Prozent.

Ist das Gehirn nicht mindestens so wichtig? Wie hält man das fit?

Zuerst einmal: Das Gehirn ist Teil des Körpers. Wer sich körperlich fit hält, tut auch etwas für seine kognitive Leistungsfähigkeit. Mit anderen Menschen zusammenzusein fördert uns ebenfalls: Wir hören zu, überlegen mit, planen etwas. Neben meinem Lieblingsbeispiel, dem Gesellschaftstanz, möchte ich hier auch das freiwillige Engagement nennen. Beim Ehrenamt tut man etwas für andere, aber auch für sich selbst. Damit kann man auch noch spät im Leben ­anfangen.

In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass auch bei älteren Menschen lebendige soziale Beziehungen die kognitive Leistungsfähigkeit verbessern. Herausfordernde Aktivität ist für den Geist ebenso gut wie für den Körper.

Also Sport treiben und unter Menschen gehen. Gibt es noch etwas, das uns gut alt werden lässt?

Neben einer gesundheitsbewussten Ernährung gibt es noch eine Sache, die ich für extrem wichtig halte: unser Selbstbild im Alter. Meine frühere Kollegin ­Susanne Wurm, jetzt Professorin in Nürnberg, hat mit dem Alterssurvey gezeigt, wie wichtig die Erwartungen an das eigene Älterwerden sind. Menschen mit einem negativen Altersbild sind im Verlauf ihres Lebens weniger körperlich aktiv und kränker als Menschen mit ­einem positiven Altersbild.

Verkürzt könnte man sagen: Wir alle haben Vorstellungen davon, wie persönlich belastend es sein kann, alt zu werden. Wenn Sie zu hören bekommen, Sie seien nun selbst ein alter Mensch, besteht die Gefahr, dass diese Vorstellungen wahr werden. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ganz frei können wir uns von negativen Altersbildern sicherlich nicht machen. Aber wir können schon sagen: Ich probiere das Altwerden mal selbst aus – und mach’s ein bisschen anders.


Menschen mit einem negativen Altersbild sind im Verlauf ihres Lebens weniger körperlich aktiv und kränker als Menschen mit einem positiven Altersbild.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.