Bluthochdruck

Das beste Medikament nützt nichts, wenn der Patient es nicht nimmt. Doch mit der „Compliance“, also dem Willen, die Anweisungen des Arztes zu befolgen, ist es oft nicht weit her.  Ein Problem – besonders bei chronischen Krankheiten.




I. Ein allzu stiller Begleiter

Hans Bender hat die Kurve gekriegt. Er erzählt, wie es war, als er im Sommer 2009 vom Hausarzt zum ersten Mal auf seinen hohen Blutdruck angesprochen wurde. Bender ist ein groß gewachsener Mann Anfang 60, der souverän wirkt und dynamisch, ein Macher. Er arbeitet im Vertrieb eines IT-Konzerns, ist oft unterwegs, leistet viel und ist stolz auf seinen erstklassigen Ruf in der Firma. „Damals hab’ ich gearbeitet wie irre“, sagt er. „Ich habe das immer gerne gemacht, das ist auch heute noch so. Grenzen zum Privatleben gab es wenige. Da habe ich inzwischen umgedacht.“

Zwei Bekannte aus seinem nahen Umfeld hatten damals kurz hintereinander einen Herzinfarkt erlitten. Und Benders Frau gab keine Ruhe, bis er bereit war, sich durchchecken zu lassen. „Die Ausfälle bei anderen, das bezieht man nicht auf sich“, sagt er heute. „Mir ging es wunderbar. Ich bin nur zum Arzt gegangen, um meine Frau zu beruhigen.“ Der Hausarzt stellte einen erhöhten Blutdruck und recht hohe Blutfettwerte fest. Er riet zu Medikamenten und einem anderen Lebensstil. Auch wäre es gut, wenn man sich in Zukunft häufiger sähe: Das Herzinfarktrisiko des Patienten sei überdurchschnittlich hoch.

„Das war zwar nicht, was ich hören wollte, es kam mir aber auch nicht bedrohlich vor“, erinnert sich Bender. Also blieb sein Pensum das alte, die ­Tabletten ließ er bald wieder sein, sie schienen ihn müde zu machen, und einen Abfall seiner Leistungsfähigkeit konnte er nicht gebrauchen. Den Lebensstil ändern? Mehr Zeit für sich? Ein anderes Mal.

Hans Benders Umgang mit der ­Diagnose ist ziemlich weit verbreitet. Verständlich. Sich selbst als chronisch krank zu sehen und entsprechende Abstriche in puncto Tempo und Genuss zu machen ist nicht besonders reizvoll. ­Gerade für Hypertoniker, also Menschen mit hohem Blutdruck, sind die Probleme bei der Anpassung ihres Selbstbildes erfahrungsgemäß groß.

Die Deutsche Hochdruckliga, die seit 1974 über Bluthochdruck aufklärt und informiert, schätzt die Zahl der Hypertoniker hierzulande auf 20 bis 30 Millionen. Nur etwa die Hälfte von ihnen weiß von der Krankheit. Von den Betroffenen, die um ihr Problem wissen, lässt sich nur rund jeder zweite behandeln. Und gute Blutdruckwerte erreichen durch ihre Behandlung insgesamt nur etwa zehn Prozent der Erkrankten.

Viele Patienten nehmen schlicht ihre Medikamente nicht regelmäßig ein. Diese Non-Compliance, die mangelnde Bereitschaft, einer Therapie konsequent zu folgen, hat vielfältige Ursachen und beschäftigt aufgrund ihrer individuellen und volkswirtschaftlichen Kollateralschäden seit Jahren die Versorgungsforschung.

Rund 40 Prozent aller Todesfälle in Deutschland gehen heute auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurück. Organschäden, Herzinfarkt und Schlaganfall, Augenleiden, Niereninsuffizienz und sogar Demenz werden begünstigt, wenn sich das Herz-Kreislauf-System dauerhaft gegen einen zu hohen Druck stemmen muss. Und die Risikokurve steigt mit dem Alter kontinuierlich: In der Gruppe der 40- bis 49-jährigen Männer liegt das Herzinfarktrisiko bei 2,3 Prozent, bei den 70- bis 79-jährigen sind es schon 15,3 Prozent. Hans Benders durch den Bluthochdruck indiziertes Risiko lag zum Zeitpunkt der Diagnose bei 11,9 Prozent.

II. Der Ton macht die Musik

Thomas Schmitt kennt die mangelnde Bereitschaft, sich an die Medikation zu halten, aus seiner hausärztlichen Praxis in Berlin-Charlottenburg. Er betreut viele Patienten mit Hypertonie. Ein Problem, sagt er, sei die mangelnde Symptomatik der Krankheit – die Leute merken nichts. Aber auch dieser Aspekt beschäftige die Versorgungsforschung: „Der Begriff der Compliance ist nicht up to date – das ist ein Teil des Pro­blems. Er impliziert, dass ich etwas verordne, an das sich der Patient zu halten hat. Aber gerade bei der Behandlung chronisch Kranker erlebe ich, dass das Verhältnis Arzt–Patient nicht mehr so funktioniert.“

Der Patient sei heute emanzipiert und informiert – wenn auch oft oberflächlich und manchmal sogar falsch. Er habe Widerstände gegen bestimmte Medikamente: Betablocker etwa, mit denen Hypertonie in der Vergangenheit oft behandelt wurde, seien inzwischen in Verruf geraten. Deshalb gehe es in erster Linie um Aufklärung. Und um Motivation. „Um Patienten ins Boot zu holen, muss man den richtigen Ton treffen und die richtigen Therapievorschläge machen. Es bringt nichts, unerreichbare Ziele zu definieren.“

Schmitt schwört unter anderem auf die Veranschaulichung von Risiken durch den Herz-Kreislauf-Risiko-Rechner Ar­riba. Dieses Hilfsmittel für den Hausarzt wurde von der Abteilung für Allgemein­medizin, Präventive und Rehabilitative Medizin an der Philipps-Universität Marburg sowie der Abteilung für Allgemeinmedizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entwickelt und steht seit 2008 als Software zum Download zur Verfügung.

Das Akronym Arriba steht für Absolutes und Relatives Risiko – Indivi­duelle Beratung in der Allgemeinarztpraxis. Der Rechner soll dabei helfen, Patienten in die Risikoabwägung ein­zubeziehen und damit auch in Ent­scheidungen über therapeutische Maßnahmen. Ausgerechnet wird nicht das Risiko durch einzelne extrem verbrei­tete chronische Krankheiten wie Hyper­tonie, erhöhte Blutfette und Diabetes mellitus, allesamt Begleiterscheinungen eines bewegungsarmen Lebensstils, sondern das allgemeine Herz-Kreislauf-­Risiko des Patienten.

Dazu werden die Untersuchungsergebnisse des Hausarztes direkt in die Benutzeroberfläche eingetragen: Blutdruck, Blutfette, Zuckergehalt des Blutes. Anschließend kann der Arzt gemeinsam mit dem Betroffenen sehen, um wie viel Prozent das individuelle Herzinfarktrisiko sinkt, wenn der Patient a) aufhört zu rauchen, b) sich gesund ernährt, c) einmal pro Woche Ausdauersport betreibt – und vor allem d) die auf seinen Bedarf abgestimmten Medikamente einnimmt. Dass ein solches Schaubild eindringlicher ist und mehr zum Verständnis der Risikoproblematik beiträgt als der allgemeine Appell, in Zukunft lieber gesund zu leben, liegt auf der Hand.

Als Hans Bender im Sommer 2013 wegen eines umgeknickten Knöchels bei seinem Arzt zur Behandlung erschien, kam der erneut auf den Blutdruck zu sprechen. Benders Werte waren weiter gestiegen, und so berechnete ihm der Mediziner sein individuelles ­Risiko, in den folgenden zehn Jahren ­einen Herzinfarkt zu erleiden: Es lag mittlerweile bei 30 Prozent. Diese Zahl nahm der Patient schon ernster, und doch brachte er gegen die Medikation seine Erfahrungen vom letzten Mal vor – den Leistungsabfall.

Der Arzt verordnete eine andere Wirkstoffkombination. Außerdem wurde Bender zum Kardiologen geschickt, der eine leichte Verdickung der Herzwand feststellte. „Ich war inzwischen unter bestimmten Belastungen kurzatmig und hatte Schlafstörungen. Ich fing an, mir Sorgen zu machen. Deshalb war ich auch definitiv offener für eine Beratung als beim ersten Mal.“

III. Behandeln auf allen Ebenen

Ohne Medikation leben zu können ist für manche Patienten ein Antrieb, ihren Lebensstil konsequent umzustellen. Ungefähr fünf Prozent seiner Bluthochdruckpatienten, schätzt Schmitt, gelingt es durch mehr Sport und eine gesündere Ernährung, teilweise oder sogar ganz von den Medikamenten wegzukommen. Das nennt man Lifestyle-Behandlung.

Patient Michael Maertens, 46 Jahre alt, hat zufällig festgestellt, dass Gewichtsverlust und Sport seine Blutdrucksenker überflüssig machen könnten. Nach einem Bandscheibenvorfall musste er zur Regeneration regelmäßig an Geräten trainieren und nahm dabei mehr als 15 Kilo ab. Mit dem Gewichtsverlust sank auch sein Blutdruck. Inzwischen sieht er in Sachen Medikation „Licht am Ende des Tunnels“.

Maertens ist bei einem renommierten, international tätigen Architekturbüro angestellt. Sieben Jahre hat er in China gearbeitet, seine Frau, eine Kollegin, hat ihn begleitet, zwei Kinder wurden in der Zeit geboren. Der Gesundheit war der Auslandsaufenthalt wenig förderlich. Unter hohem Blutdruck litt Maertens infolge einer Schilddrüsenkrankheit schon sehr lange, in Asien kamen Rückenprobleme und Burn-out-Symptome hinzu. Die Entscheidung, mit der Familie nach Deutschland zurückzukehren, fußte auf dem Wunsch, wieder Herr über sein Leben und seine Gesundheit zu werden. „Ich habe deutliche Signale bekommen und die Reißleine gezogen“, sagt Maertens.

Es fällt ihm immer noch schwer, nach Hause zu gehen, wenn die anderen weiterarbeiten. Compliance dagegen war nie sein Problem. Dazu war er zu besorgt: Weil ein naher Verwandter infolge eines Schlaganfalls halbseitig gelähmt war und Maertens’ Augenarzt bereits eine sichtbare Schädigung der Äderchen in seinen Augen diagnostiziert hatte, musste der Hausarzt keine Überzeugungsarbeit leisten.

Michael Maertens ist bis heute ­motiviert. Manchmal vergisst er die Tabletten trotzdem für ein paar Tage. So etwas kommt vor, wenn die Packung aufgebraucht oder wenn mal wieder an allen Fronten zu viel los ist. Um besser zu werden, schickt er sich heute Erinnerungen per Mobiltelefon.

IV. Es kann viel passieren

Hans Bender und Michael Maertens sind typische Hypertoniker unserer Zeit: Im Beruf haben sie den Fuß auf dem Gaspedal, und um den Stress auszugleichen, sind sie in der Freizeit dem Genuss zugeneigter, als ihnen guttut.

Thomas Schmitt betreut in seiner Praxis allerdings auch viele Patienten, die deutlich weniger Stress ausgesetzt sind und dennoch unter Bluthochdruck leiden – als Begleiter von Übergewicht und Diabetes mellitus etwa oder infolge von Hormonschwankungen. Es sind meist ältere Patienten, und die Rate derer, die ihre Tabletten nicht regelmäßig nehmen, ist sehr hoch. Wenn auch aus anderen Gründen.

Zum Beispiel Gewohnheit. Schließen Krankenkassen mit einem anderen Pharmaunternehmen einen Rabattvertrag, bekommen sie ihre Medikamente plötzlich in neuer Form – Verpackung und Tabletten sehen plötzlich anders aus. Gerade bei älteren Patienten führt das zu großer Verunsicherung. Manche glauben auch, sie vertragen das „neue“ Medikament nicht. Aut-idem-Verordnungen, bei denen der Arzt durch Ankreuzen auf dem Rezept die Substitu­tion eines bestimmten Präparates durch den Apotheker ausschließt, könnten abhelfen, werden – weil teurer – von der kassenärztlichen Vereinigung aber geahndet, sofern es sich nicht um medizinisch begründete Einzelfälle handelt.

Es gibt eine Reihe weiterer Faktoren, die insbesondere bei älteren Patienten die regelmäßige Tabletteneinnahme behindern: verpasste Arztbesuche, zu hohe Zuzahlungen, Vergesslichkeit, komplizierte Dosierungsvorschriften, oft auch eine unübersichtliche Palette an täglich einzunehmenden Medikamenten. Einen großen Vorteil gegenüber Wirkstoffen, die einzeln eingenommen werden müssen, bieten Kombipräparate. „Für die Compliance macht es einen erheblichen Unterschied, ob jemand zweimal täglich drei Tabletten einnehmen muss oder ob eine Tablette pro Tag reicht“, weiß Thomas Schmitt aus der Praxis.

„Außerdem sind Kombipräpa­rate besser verträglich.“ Die Empfehlungen für die Behandlung von Bluthochdruck sind ohnehin ständig im Fluss, die Deutsche Hochdruckliga veröffentlich alle paar Jahre neue Leitlinien. Dann werden neue Präparate empfohlen oder eine höhere Toleranz gegenüber abweichenden Blutdruckwerten.

Hans Bender ist auf einem guten Weg: Er hat fünf Kilo abgenommen und trägt sich mit dem Gedanken, das Rauchen aufzugeben. Es macht ohnehin keinen rechten Spaß mehr, wenn man dafür dauernd vor die Tür muss. Wenn er so weitermacht, wird die leichte Verdickung seiner Herzwand rückläufig sein, vielleicht kann er dann auch seine Medikamente reduzieren. Er arbeitet er darauf hin. „Das mit dem gesunden Leben hatte ich mir schlimmer vorgestellt“, sagt er schmunzelnd.

V. Immer im Blick

Wo sich Ärzte persönlich einsetzen, ist die Versorgung von Hypertonikern deutlich besser als im Durchschnitt. Die Novartis Pharma GmbH stiftet seit 2011 den TherapieTreuePreis, um diesem Engagement mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

2014 wurde der Preis Wolfgang Kaiser verliehen, einem niedergelassenen Arzt aus dem Schwarzwald. Er wundert sich ein wenig, dass er von ­einem Pharmaunternehmen ausgerechnet für eine ärztliche Begleitung ausgezeichnet wurde, deren Ziel es ist, Medikamente überflüssig zu machen. Aber er freut sich – und hält die besondere Situation des Landarztes für ganz wesentlich mit Blick auf die Auszeichnung: In seinem Heimatort Bernau-Riggenbach kennt jeder jeden. So konnte der Hausarzt, der die meisten seiner Patienten über Jahre betreut, die Folgen der Non-Compliance kaum übersehen.

Patienten, die in jüngeren Jahren ihren hohen Blutdruck und seine Verordnungen ignoriert hatten, kamen 20 Jahre später wieder: mit Atemnot, geringer Belastbarkeit, Minderung ihrer Sehleistung, beginnender Demenz, mit Infarkten oder Schlaganfällen.

Wenn Kaiser heute bei einem Pa­tienten einen zu hohen Blutdruck diagnostiziert, schaltet er zuerst einen Kardiologen ein. Mit seiner Hilfe erfährt er, ob und in welchem Ausmaß das Herz bereits Schaden genommen hat – und der Patient erkennt den Ernst der Lage.

Als nächsten Schritt drängt der Mediziner auf die Anschaffung eines Blutdruckmessgerätes und regelmäßige Messungen zu Hause. Zum Naturheilverfahren der Wahl erklärt er in der ­Regel den Ausdauersport. Das wirke auch bei all jenen, die Medikamenten grundsätzlich misstrauten.

Kaiser hat im Zuge seiner angewandten Naturheilkunde inzwischen gut 40 Elektrofahrräder „auf Privat­rezept verschrieben“: Der örtliche Fahr­radhändler gibt heute Prozente, wenn der Kauf des Fahrrads medizinisch indiziert ist. Einer seiner Patienten sei auch mit 82 Jahren noch ein regelmäßiger Reiter, erzählt Kaiser. Der Stolz des Landarztes ist unüberhörbar. Sein Ziel für seine Patienten ist Fitness bis ins hohe Alter.

VI. Gute Aussichten

Der Versorgungs-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK rechnete vor einigen Jahren aus, dass die ambulante und medikamentöse Behandlung von Bluthochdruck in Deutschland innerhalb eines Jahres knapp 8,6 Milliarden Euro kostet, weitere 14,3 Milliarden Euro flossen nach diesen Berechnungen in die Behandlung von Folgekrankheiten. Außerdem addierten sich erheb­liche Summen für Langzeitfolgen wie etwa Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung und Invalidität.

Neuere Berechnungen des Instituts für Krebsepidemiologie in Lübeck und der Gesundheits-System-Forschung in Kiel gehen inzwischen von rund 35 Milliarden Euro direkten Krankheitskosten pro Jahr aus – und bescheinigen den Herz-Kreislauf-Erkrankungen damit einen traurigen Spitzenplatz in Deutschland. Und die Kosten werden steigen. Weil das Auftreten vieler chronischer Erkrankungen direkt mit dem Alter korreliert und die Zahl der Älteren in der Bevölkerung wächst, wird auch die Zahl der Bluthochdruckpatienten steigen – bis 2050 um etwa zwei Prozent, schätzen die Forscher.

Kein Wunder, dass sich die Versorgungsforschung angesichts dieser Zahlen seit Jahren mit der Frage beschäftigt, wie man die Prävention verbessern und die Behandlungen erfolgreicher machen kann. Geforscht wird unter anderem im Bereich der Telemedizin, die eine engmaschige Betreuung der Patienten erlaubt und die ärztliche Beratung in Zukunft ergänzen könnte.

Das japanische Pharmaunternehmen Daiichi Sankyo hat 2012 gemeinsam mit der Almeda GmbH, einem Dienstleistungsanbieter im Bereich Gesundheitsservices, eine Anwendungsbeobachtung zur Compliance von Hypertonikern gestartet: Die teilnehmenden 108 Patienten erhielten Blutdruckmessgeräte, mit denen sie ihren Blutdruck selbst überwachen sollten, die Ergeb­nisse wurden automatisch an die behandelnden Ärzte übermittelt. Einmal pro Monat haben Patienten und Fachpersonal außerdem telefoniert und sich über Ernährungs- und Bewegungsverhalten informiert. Die überdurchschnittlich oft erreichten Zielwerte legen nahe, dass sich schon die regelmäßige Beobachtung des eigenen Blutdrucks auf die Einhaltung der Compliance auswirkt.

Professor Norbert Schmacke, Mitherausgeber des Versorgungs-Reports und Assoziiertes Mitglied des Instituts für Public Health und Pflegeforschung an der Universität Bremen, hält auch das Verhältnis zwischen Arzt und Patient für extrem wichtig. Es sei entscheidend, die Perspektiven und Prioritäten der Betroffenen zu berücksichtigen und gemeinsam zu entscheiden, wie eine Therapie aussehen könne.

Schmacke spricht von Adhärenz, einer Weiterentwicklung der Compliance. Während es bei Letzterer schlicht um das Befolgen von Anweisungen geht, gestaltet der adhärente Patient seine Therapie mit. Der Arzt übernimmt in diesem Zusammenspiel die Rolle des fachkundigen Beraters, der Empfehlungen gibt und hilft, Risiken abzuwägen. Das Konzept klingt vielversprechend, erfordert allerdings viel Zeit. Wenn Adhärenz die Zukunft sein soll, muss die Beratung von Chronikern künftig großzügiger abgerechnet werden.

Die Osnabrücker Kardiologin Cornelia Lüttje, die auch mit dem TherapieTreuePreis geehrt wurde, hat für ihre Patienten zur Einstimmung auf das Thema einen kurzweiligen Film gedreht. „Unser Herz schreibt einen Brief“ ist von Otto Waalkes berühmtem Dialog der Organe inspiriert: „Großhirn an Blutdruck: steigen!“ Im Film bringt das Herz innerhalb von fünf Minuten gegenüber dem Blutdruck die Schadensberichte der Organe vor, malt den Teufel einer multimorbiden Zukunft an die Wand, schließt aber hoffnungsvoll: Happy End möglich – wenn du deine Tabletten nimmst und dich mehr bewegst!

Der Film ist ein Baustein in Lüttjes Konzept, in dessen Zentrum die Transparenz steht. „Meine Patienten bekommen ihre Befunde zu sehen, sie wissen, woran sie sind.“ Außerdem hat die ­Kardiologin für die meisten eine gute Nachricht: Zu hoher Blutdruck ist therapierbar. Schäden am Herz und an den Arterien gelten als teilweise reversibel, vorausgesetzt, die Therapie wird konsequent verfolgt. Gibt ein Mensch in den mittleren Lebensjahren das Rauchen auf, kann er damit sein Herzinfarkt­risiko erheblich senken. Und mit jedem Kilogramm Körpergewicht, das er verliert, lässt sich der Bluthochdruck reduzieren. Es hat also jeder die Wahl. Auch als chronisch Kranker.

Die Namen der Patienten wurden geändert.

Chronische Krankheiten

In Deutschland leiden laut der Studie „Gesundheit in Deutschland aktuell 2012“ des Robert Koch-Instituts (RKI) gut 40 Prozent der Bevölkerung an einer chronischen Krankheit, also einer lange andauernden Erkrankung, die nur schwer oder nicht vollständig geheilt werden kann und eine wiederkehrende Inanspruchnahme von Leistungen des Gesundheitssystems nach sich zieht. Eine einheitliche Definition für diese Krankheit existiert nicht.

Besonders häufig anzutreffen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie koronare Herzkrankheit und Schlaganfall, Diabetes, Krebs und chronische Atemwegserkrankungen. In Deutschland entfallen allein auf diese genannten Erkrankungen drei Viertel aller Todesfälle und rund ein Viertel der Krankheitskosten. Aber auch chronische Muskel-Skelett-Erkrankungen, psychische Erkrankungen, Seh- oder Hörbeeinträchtigungen sowie genetisch verursachte Krankheiten tragen ganz erheblich zur Krankheitslast der Bevölkerung bei.

Allen Erkrankungen ist gemein, dass sie die Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig beeinflussen und entweder nur schwer oder gar nicht heilbar sind. Allerdings wird zumindest ein Teil der chronischen Erkrankungen durch vier wesent­liche Faktoren beeinflusst: Fehlernährung, mangelnde körperliche Aktivität, Tabak-konsum und exzessiver Alkoholkonsum. Prävention kann also die Ausbildung der Krankheit verhindern oder zumindest ihren Schweregrad und ihren Verlauf mildern.

In jüngster Vergangenheit haben die chronischen Erkrankungen die Infektionskrankheiten als häufigste Todesursache weltweit abgelöst. Noch im 19. Jahrhundert starben beinahe 80 Prozent aller Menschen an Infektionen, 1930 waren es noch knapp 50 Prozent, 1980 nur noch ein ­Prozent – Infektionskrankheiten können ­inzwischen durch immer bessere ­Antibiotika sehr gut bekämpft werden.

Die Zahl der chronisch Kranken hingegen wächst, vor allem aufgrund der steigen­-den Lebenserwartung. Mit zunehmendem Alter nimmt auch die Häufigkeit chronischer Erkrankungen (Multimorbidität) zu. In der RKI-Studie gaben deutlich mehr als die Hälfte aller befragten Frauen und Männer ab 65 Jahren an, mindestens eine chronische Krankheit zu haben. In der jüngsten Altersgruppe (18 bis 29 Jahre) liegt der Anteil chronisch Kranker bei ­weniger als einem Fünftel aller Befragten. 


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.