Schweden

Hier treffen neuerdings zwei Welten aufeinander: staatlich und privat. Doch entgegen aller Theorie ist das Ende des jahrzehntelangen Staatsmonopols nicht immer zum Vorteil der Patienten.




Trostlos und trüb wie in einem Mankell-Film präsentiert sich das schwedische Gesundheitssystem: Die Ärztezentrale von Malmö ist in einem schlichten, jahrzehntealten Bau aus gelbem Backstein an einer Ausfallstraße zu Hause. Durch die Fenster scheint Leuchtstoffröhrenlicht hinter weißen Jalousien. Eine Betonrampe und ein paar ebenso graue Stufen führen zum Eingang, der dem eines Mietshauses ähnelt. Wohl um die Tristesse eines Sozialbaus zu vermeiden, sind weinrote Markisen angebracht, auf denen in hübscher Schreibschrift „Sorgenfri“ steht.

„Wir Ärzte bei Sorgenfri werden vom Staat bezahlt, und die Patienten zahlen nichts, von einer Praxisgebühr abgesehen“, sagt die Chefin Annika Brorsson und fügt hinzu: „Aber alle bekommen den gleichen Service.“ Damit fasst sie den Kerngedanken des schwedischen Gesundheitssystems zusammen, geprägt von jahrzehntelanger sozialdemokratischer Politik: Geben nach Möglichkeit, nämlich über die Steuer – Nehmen nach Bedürfnis. Egal, ob Steuerzahler oder nicht, jeder, der in Schweden lebt oder arbeitet, hat Anrecht auf kostenlose ärztliche Behandlung. Die Finanzierung erfolgt über die allgemeine Einkommensteuer. Eine extra selbst finanzierte Krankenversicherung ist nicht notwendig.

Doch seit 2006, als Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt mit seiner konservativ-liberalen Koalition ins Amt kam, hat sich vor allem im Gesundheitssystem einiges geändert. Der von den Sozialdemokraten immer verteidigte Anti-Privatisierungskurs bei Apotheken, Krankenhäusern und Praxen wurde umgekehrt. Seitdem gingen zahlreiche Praxen sowie vereinzelt Krankenhäuser von staatlicher in private Regie über, und Apotheken wurden an Investoren verkauft. Ziel war es, das Angebot zu verbessern und privates Unternehmertum dort zuzulassen, wo bisher der Staat ein Monopol hatte, und so für mehr Beschäftigung zu sorgen.

„Ich begrüße die Privaten. Vielfalt und Wettbewerb sind gut“, sagt Annika Brorsson von Sorgenfri. Sie konkurriert seitdem mit privaten Praxen um Patienten. Alle Schweden können jetzt zwischen einer privaten oder öffentlichen Hausarztpraxis wählen. Wer mehr will, also Zusatzleistungen, die nicht bezahlt werden, kann sie dazukaufen oder sie mit einer privaten Versicherung finanzieren. Gesundheitskontrollen sind solche Zusatzleistungen, die die privaten Praxen anbieten, wo man übrigens auch schneller drankommt als in der staatlichen Warteschleife.

Die Privatisierung führt zu Zweiklassenmedizin

Fredrik Westander, freier Berater im Gesundheitswesen, kritisiert, dass dadurch eine Zweiklassenmedizin entstehe. „Der, der den größten Bedarf hat, sollte als Erster behandelt werden, nicht der mit mehr Geld“, sagt Westander, der im Oktober im Auftrag des Thinktanks Arena einen Bericht über die Privatisierung des Gesundheitssystems veröffentlicht hat. Die Vorteile der Privatversicherungen wie zusätzliche Behandlungen und kürzere Wartezeiten wögen die Nachteile nicht auf. Der Berater sieht zudem die Gefahr, dass private Firmen, die an ärztlichen Leistungen verdienen, Patienten Behandlungen verkaufen, die gar nicht unbedingt notwendig sind – nicht nur volkswirtschaftlich ein fragwürdiger Effekt.

Die Zahl der Privatversicherten hat in jüngster Zeit zugenommen und liegt heute bei rund vier Prozent der Bevölkerung. Damit bleibt Schweden aber noch weit hinter Dänemark und Großbritannien zurück, wo das Gesundheitssystem auch grundsätzlich steuerfinanziert ist. Genau genommen ist es eine private Zusatzversicherung, denn die Patienten nutzen wie alle anderen auch weiter das staatliche System. Offizielle Statistiken zu Einnahmen und Ausgaben der privaten Versicherungen gibt es nicht, doch Westander rechnet mit maximal 150 Millionen Euro jährlich, die die Privatversicherungen für ihre rund 400000 Versicherten abdecken.

In Schweden wird das Gesundheitssystem also einerseits öffentlich via Steuern finanziert und andererseits privat via Versicherung. Und die Hausarztpraxen, ob nun privat oder staatlich betrieben, funktionieren alle nach demselben Prinzip: Die, die nicht primär Privatpatienten nehmen, finanzieren sich durch die Pauschalbeträge, die jährlich pro Patient vom Staat überwiesen werden. Im Falle von Sorgenfri beträgt der Grundbetrag rund 300 Euro, die die Region Skåne, zu der Malmö gehört, überweist. Für einige Leistungen wie Augenuntersuchungen wird noch zusätzlich Geld gezahlt.

„Vor 2009 haben Verwaltung und Politik unser Budget festgeschrieben, ohne viel Logik; so wie jetzt ist es besser“, findet Brorsson. Rund 12 000 Patienten sind in ihrer Praxis gemeldet, sie werden von zehn Ärzten betreut. Prinzipiell kann jeder seinen Hausarzt frei wählen und auch wechseln. Es ist aber notwendig, diese Wahl registrieren zu lassen. Üblicherweise bleibt man mehrere Jahre bei seinem Hausarzt, der dann entsprechend lange Geld überwiesen bekommt. „Die Kommunen und Regionen können selber entscheiden, nach welchem Schlüssel sie Geld an die Praxen verteilen“, sagt Stefan Ackerby vom Kommunalverband SKL.

Gut gedacht – schecht gemacht

Auch wenn das System über Steuern finanziert wird, müssen die Bürger sich an Kosten für Arztbesuch und Medizin bis zu einem gewissen Grad beteiligen. Arzneimittel bis rund 100 Euro pro Jahr zahlt jeder selbst. An allem, was darüber liegt, beteiligt sich der Staat, wobei niemand auf jährlichen Kosten von mehr als 200 Euro sitzen bleibt. Ähnlich sieht es bei der Praxisgebühr aus: Im Jahr werden nie mehr als 100 Euro fällig. Zahnarztbehandlungen hingegen müssen überwiegend selbst bezahlt werden.

Der Apothekenmarkt in Schweden wurde im Jahr 2009 privatisiert, die Auswirkung ist offensichtlich. Sah man früher im Stadtbild nur den grünen Schriftzug der staatlichen Monopolapotheken, leuchtet jetzt an jeder Ecke ein anderes Apothekenschild. Am Platz Triangeln in der Malmöer Innenstadt liegen keine 100 Meter voneinander entfernt gleich drei Apotheken.

Die konservativ-liberale Regierung hat vor allem aus ideologischen Gründen privatisiert. Mehr Wettbewerb sollte mehr Service für die Kunden bedeuten, und mit mehr Apotheken sollten mehr Schweden versorgt werden. Statistisch gesehen hat das funktioniert: Die Zahl der Apotheken ist um rund ein Drittel gestiegen. Doch die Kunden der drei Apotheken am Triangeln stellen keine bessere Servicequalität fest. So beklagt sich Kristina Blomquist, die gerade mit einer kleinen Tüte eine „Medstop-Apotheke“ verlässt: „Früher konnten die im Computer nachschauen, wo ein Medikament vorrätig ist, wenn sie es selbst nicht hatten. Jetzt muss ich überall hinlaufen.“ Konkurrenz über die Preise der Arzneimittel ist nicht möglich: Die sind staatlich reguliert und in allen Apotheken gleich.

Trotz Privatisierungswelle ist das Krankenhaussystem in Schweden überwiegend staatlich geblieben. Schmuckstück in Malmö ist das neue Universitätskrankenhaus, das von außen auch als Designhotel durchgehen würde. Das Gebäude ist rund, die Fassade teils aus Glas, teils farbenfroh in Grün, Orange oder Rot. Der Eingangsbereich der Notaufnahme ist licht und großzügig gestaltet – hier erinnert nichts an ein Krankenhaus, eher würde man meinen, sich in der VIP-Lounge eines Flughafens zu befinden. Wenn es nach Per Wihlborg gehen würde, wäre es hier noch ruhiger. „Dreißig bis vierzig Prozent der Patienten schicken wir wieder nach Hause, weil ihr Leiden gar nicht akut ist“, sagt der Oberarzt der Notaufnahme.

Wihlborgs Bemerkungen sind spitz. Hauptsächlich beklagt er die Überlastung des Krankenhauses. „Die Hausärzte sind überfordert, weil sie zu wenig Kapazitäten haben, deshalb schicken sie zu viele Patienten zu uns. Oder die kommen gleich von selbst, obwohl das gar nicht nötig wäre“, sagt er. Da schrecke auch die Patientenabgabe von 40 Euro nicht ab. Der Andrang in der Notaufnahme belege Kapazitäten, die anderswo zur Behandlung benötigt würden und treibe die Kosten in die Höhe.

Fehlende Hausärzte – volle Krankenhäuser

Es müsse doppelt so viele Hausärzte geben, sagt auch Marie Widen, die Vorsitzende des Ärzteverbundes. Besonders auf dem Land herrsche Mangel – die Arbeit in der Großstadt oder im nahen Norwegen, wo besser bezahlt wird, sei attraktiver. Seit einigen Jahren sollen Telemedizinprojekte die Unterversorgung mit Ärzten ausgleichen: Die Kommunikation zwischen Patient und Arzt erfolgt über eine Art Skype, und auch Daten wie Blutdruckwerte werden elektronisch übermittelt, sodass beide Hunderte von Kilometern voneinander entfernt sein können. Der Arzt kann mehr Patienten behandeln, unnötige Krankenhausbesuche werden vermieden.

Die Krankenhausleitung von Malmö muss im Budget künftig rund 50 Millionen Euro einsparen und hat unter anderem den Vorschlag gemacht, nur noch Patienten anzunehmen, die überwiesen worden sind. Das gab viel Kritik, vom Tisch ist die Idee aber noch nicht.

Bis jetzt darf man also noch einfach so ins Krankenhaus gehen, und genau das hat Johan Carlsson auch gemacht. Der 31-jährige Tischler liegt in einem Krankenhausbett im offenen Bereich der Notaufnahme und wartet auf einen Röntgentermin, der in drei Stunden sein soll. „Ich hatte bei der Arbeit ziemliche Bauchschmerzen, und da ich vor Kurzem eine Adipositas-Operation hatte, wollte ich das lieber kontrollieren lassen“, sagt er. Obwohl es schon drei Stunden her ist, dass er einen Arzt gesehen hat, wartet Carlsson geduldig. „Ich bin ja in guten Händen“, sagt er. Muss er in der Klinik bleiben, zahlt er eine Tagesgebühr von zehn Euro, Operationen sind komplett subventioniert.

Wartezeiten bei Operationen sind neben der Unterversorgung im ländlichen Raum und teilweise bei den städtischen Hausärzten eines der großen Probleme im schwedischen Gesundheitssystem.

Carlsson hat auf die Operation wegen seiner Fettleibigkeit Monate warten müssen, doch auch Voruntersuchungen und lebensnotwendige Behandlungen erfolgen häufig erst sehr spät. So schwankt die durchschnittliche Wartezeit für Behandlungen bei Prostatakrebs – dem bei Männern am häufigsten vorkommenden Krebs – je nach Kommune zwischen 126 und 295 Tagen, zeigt ein neuer Bericht des Sozialrats. Selbst wenn der Krebs schon Metastasen gebildet hat, müssen Patienten mitunter noch Monate auf die Behandlung warten. Ähnliche Probleme gibt es auch bei anderen Krebsarten und regelmäßig bei Augenoder Hüftoperationen. Manch einer lässt sich deshalb lieber im Ausland operieren.

Immerhin: Die Wartezeiten sind inzwischen kürzer als noch vor 2010. Damals wurde eine ganz konkrete marktwirtschaftliche Komponente eingeführt: eine Bonuszahlung für die Kommunen, wenn sie 80 Prozent der nicht akuten Fälle binnen 90 Tagen operieren. Ein finanzieller Anreiz im Staatssektor, der Gutes bewirkt hat.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.