„Uns fehlt das Gesicht.“

Abzocker, Preistreiber, Goldgräber – um das Image der Pharmaindustrie in Deutschland ist es schlecht bestellt. Zu Recht? Bernd Wegener, Vorstandschef des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) über Fakten, Falschmeldungen und die Fehler seiner Zunft.




Herr Wegener, Ihre Branche ist hilfreich und zählt zu den innovativsten im Land. Im Ansehen rangiert sie dennoch ganz unten. Woran liegt das?


Ich wundere mich vor allem über die Diskrepanz zwischen Produkt und Absender. Unsere Produkte haben in der Bevölkerung einen Zustimmungsgrad von 80 Prozent. Die Menschen schätzen und respektieren Arzneimittel. Selbst gentechnologische Präparate werden von 62 Prozent der Bevölkerung akzeptiert, ganz im Gegensatz zu Lebensmitteln etwa. Gleichzeitig ist derjenige, der diese Produkte herstellt, ungefähr so beliebt wie die Vertreter der Atomindustrie. Da kann man sich schon fragen, woran das Auseinanderdriften liegt – zwischen dem Produkt selbst und demjenigen, der es sich ausdenkt, erforscht, entwickelt und produziert.

Haben Sie eine Antwort gefunden?

Da spielen die unterschiedlichsten Dinge rein. Allen voran natürlich der ständig wiederholte Vorwurf der hohen Renditen, der ja immer gerne in Verbindung mit Pharmapreisen genannt wird. Pharma und Gier – der Zusammenhang wird gezielt und ziemlich erfolgreich in die Öffentlichkeit getragen.

Er ist ja auch nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Ich kenne keine Branche, die in so langen Zeiträumen denken muss wie wir und in der bei den anderen Leistungserbringern innerhalb des Systems so wenig Verständnis für die Situation des Lieferanten existiert. Das sind regelrechte Zyklen, in denen wir beschossen werden.

Jetzt zum Beispiel, am Jahresanfang, haben wir wieder die Kampagne der Krankenkassen, in der gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass das Geld in diesem Jahr nicht reicht. Warum? Na klar, weil die Preise der Pharmariesen so hoch sind. Die Kassen machen Stimmung, um ihre Ziele durchzusetzen und sich selbst Handlungsspielräume zu verschaffen. Im Verteilungssystem Gesundheitswesen mit einem gedeckelten Budget geht es am Ende eben immer um Macht.

Davon hat die Pharmaindustrie ja nun auch nicht wenig. Sie ist eine der Großen im Land, und ob wir wollen oder nicht: An Ihrer Branche kommt keiner vorbei.


Mein Problem beginnt schon mit dem Wort Pharmaindustrie. Journalisten tun gerne so, als sei das ein monolithischer Block. Tatsächlich sind wir eine sehr inhomogene Gruppe von sehr vielen Kleinen und wenigen Großen. Und die sind geschrumpft: Vor zwanzig Jahren hatten wir in Deutschland noch sieben Weltkonzerne. Heute ist nicht mal mehr ein deutscher Hersteller unter den ersten zehn.
Aber wir haben es alle zusammen mit einem emotional hoch beladenen Produkt zu tun – der Gesundheit. Sie können sich ein Auto kaufen oder nicht. Sie können Bahn fahren oder nicht. Was uns angeht, haben Sie keine Wahl: Sie brauchen unser Produkt. Und Abhängigkeit schafft keine Sympathie. Zudem betrifft sie jeden, deshalb redet auch jeder mit. Inzwischen gehört es quasi zum guten Ton, Pharma zu kritisieren. Am liebsten mit dem Totschlagargument: Man darf nicht an Krankheit verdienen. Was natürlich völliger Blödsinn ist. Wir müssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Gesundheit gar nicht leisten.

Wer ein wenig differenzierter argumentiert, wird Ihnen diesen Vorwurf kaum machen. Natürlich muss und soll die Branche verdienen. Die Frage ist nur: wie viel?


Ob die Gewinne verhältnismäßig sind, können wir gerne diskutieren. Dann müssen wir aber unterscheiden zwischen Deutschland und dem Rest der Welt. Ein Unternehmen, das seine Umsätze hierzulande erzielt, kommt, wenn es Glück hat, auf vielleicht acht oder neun Prozent. Das ist ordentlich, keine Frage. Aber es ist kein Grund, von Goldgräberstimmung zu reden.

Eine Umsatzrendite von 20 Prozent und mehr, wie sie Merck oder Pfizer ausweisen und die fälschlicherweise auf die gesamte Industrie übertragen wird, lässt sich allein auf dem US-Markt erzielen. Warum? Weil es sich dort vier Prozent der Weltbevölkerung leisten, 36 Prozent aller weltweiten Arzneimittelausgaben zu bezahlen. Und das nicht etwa, weil sie so viele Medikamente schlucken – sondern durch deren Preisstellung im Markt. Barack Obama hat ja versucht, das zu korrigieren, sich aber eine blutige Nase geholt.
Ob ich das richtig finde, ist eine andere Frage. Die Verhältnisse lassen sich jedenfalls nicht auf Deutschland übertragen. Und sie sagen schon gar nichts über DIE Pharmaindustrie.

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass Sie alle nicht schlecht verdienen. Der deutsche Markt ist der drittgrößte der Welt und außerdem einer der hochpreisigsten.


So pauschal stimmt das nicht, zudem sind die Preise hierzulande von vielen Faktoren abhängig. In den Medien werden ja immer gerne einzelne Produkte vorgeführt und innerhalb Europas verglichen. Tatsache ist: Wenn ich als Hersteller europaweit beispielsweise einen Blutdrucksenker abgebe, kostet eine Packung mit 30 Tabletten in Spanien vielleicht 6,30 Euro und in Frankreich 12 Euro. In Deutschland zahlen Sie dafür aber rund 15 Euro. Die Differenz erklärt sich durch unterschiedliche nationale Rahmenbedingungen wie Handelsspannen und Mehrwertsteuer. Aber nicht durch Preistreiberei der Pharmaindustrie.

Dann sind all die Kritikpunkte an der Industrie nur Polemik? Sie wollen sagen, die Branche selbst hat zu ihrem schlechten Image nichts beigetragen?


Oh nein, im Gegenteil. Unser Bild in der Öffentlichkeit prägen wir in hohem Maße mit. Deshalb müssen wir ganz sicher auch kräftig vor unserer eigenen Tür kehren. Die Pharmaindustrie hat Fehler gemacht. Schlimme Fehler. Nehmen Sie nur Contergan. Was damals passiert ist, war eine Tragödie. Und so etwas fällt auf die gesamte Branche zurück.

Contergan liegt 50 Jahre zurück. Meinen Sie wirklich, das Image der Branche leidet heute vor allem darunter?


Sicher nicht, aber Contergan markierte einen Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung. Damals haben wir unsere Unschuld verloren. Den zweiten großen Schock lösten Anfang der Achtzigerjahre die HIV-kontaminierten Blutkonserven aus. In Frankreich wurden seinerzeit rund 4000 Patienten mit dem Virus infiziert; auch in Deutschland gab es mehr als 1800 Opfer. Das sind für mich schlimme, unverzeihliche Fehler, mit denen wir schlecht umgegangen sind und die wir außerdem sehr unprofessionell kommuniziert haben.

Auch andere Branchen machen schlimme Fehler. Wir kennen Ölkatastrophen, Chemieunfälle, massenhafte Rückrufe von Autoherstellern. Jüngst haben die Banken ihr Image eingebüßt. Und trotzdem sind die Industrien in der öffentlichen Wahrnehmung nicht derart schlecht angesehen.

Ich fürchte, unsere Industrie wirkt nicht menschlich. Sie hat kein Gesicht. Bei uns gab es nie eine führende Person in der Öffentlichkeit, wie etwa im Bankensektor. Man kann Josef Ackermann gut finden oder nicht, aber er prägt die Industrie mit seinen Fehlern und seinen Stärken. Wir könnten die Sektoren durchgehen – es gibt jede Menge Beispiele für Köpfe, die stellvertretend für eine Branche stehen.
Für Pharma gab es nie eine starke Persönlichkeit, die bereit gewesen wäre, sich zu exponieren. Und eine Branche ohne Gesicht kann eben auch keine emotionalen Pluspunkte für sich sammeln. Anonymität wirkt kalt und schreckt ab.

Bernd Wegener: „Wir müssen an Krankheit verdienen, sonst können wir uns Gesundheit gar nicht leisten.“

Warum ändern Sie das nicht?

Das ist weniger eine Frage des Wollens als des Könnens. Unsere Industrie ist inzwischen in vier Verbände aufgeteilt – ein Einzelner bringt heute nicht mehr genug Gewicht in die Waagschale, um als Stellvertreter für alle akzeptiert zu sein.

Es würde schon helfen, wenn das einzelne Unternehmen offe ner kommunizieren würde. Patienten sind nicht blauäugig, sie erwarten keine Wunder. Aber sie wollen ernst genommen und verlässlich aufgeklärt werden. Krankheiten sind nun einmal bedrohlich, und Ängsten kann man nur mit Informationen begegnen.

Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber Kommunikation ist ein kompliziertes Thema. Und Unternehmen, die selbst ihren Geschäftsbericht nur als Notwehrmaßnahme auslegen, stehen vermutlich nicht in der ersten Reihe, wenn es darum geht, komplexe oder auch unbequeme Wahrheiten zu transportieren. Die Welt ist voll von solchen Unternehmen, nicht nur in unserer Branche.

Wer sich nicht erklärt, darf auch nicht darüber klagen, dass sich die Leute ihr eigenes Bild machen.


Wir versuchen ja, uns zu erklären. Deshalb haben wir Sie auch beauftragt, ein Magazin über unsere Branche zu produzieren, bei dem wir uns inhaltlich völlig raushalten und auf eine faire journalistische Berichterstattung setzen.

Fairness verlangt Transparenz, das gilt für uns wie für andere. Wer sich ein Urteil bilden soll, muss die Fakten kennen. Daran mangelt es aber viel zu oft. Das beklagen Ärzte, Politiker und Patienten genauso wie die Vertreter des IQWiG, des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das die Bundesregierung vor einigen Jahren eingerichtet hat.

Das IQWiG ist ein Kapitel für sich.

Weil es der Branche Umsatzeinbußen beschert? Schließlich wird dort über den therapeutischen Zusatznutzen von Präparaten entschieden, der nachgewiesen sein muss, damit ein neues Medikament teuer auf den Markt kommen kann.

Nein. Sondern weil es ein Gremium ist, das sich bisher nicht von dem Verdacht freimachen konnte, wissenschaftliche Argumente allein mit dem Ziel zu entwickeln, den Wert eines Arzneimittels und damit seine Preisstellung zu reduzieren.

Wo ist das Problem? Nutzen und Wert eines Arzneimittels werden sich doch messen lassen.


In der Theorie schon. Die Theorie geht ja auch davon aus, dass Medizin eine exakte Wissenschaft ist. Aber das ist Humbug, tut mir leid.

Jetzt machen Sie es sich zu leicht. Auch wenn die Medizin nicht jedes Phänomen kennt, erklären oder behandeln kann, muss es doch verlässliche Prüfund Beurteilungskriterien geben, die dem Patienten ein unabhängiges Urteil und eine gewisse Sicherheit geben – und dann auch als Grundlage für einen angemessenen Preis dienen.

Natürlich muss es das geben, aber dazu braucht es diverse Experten. Ich will den Leuten im IQWiG nicht ihre Kompetenz absprechen. Sie haben einen wissenschaftlichen Hintergrund und wissen Studien und Statistiken sehr genau zu beurteilen. Aber damit allein ist es nicht getan. Um Arzneien adäquat beurteilen zu können, braucht es mehr als den rein pharmakologischen Blick. Man müsste den Bewertern zumindest die Vorstände der medizinischen Fachgesellschaften an die Seite stellen oder Vertreter des G-BA, des Gemeinsamen Bundesausschusses, die neben der Pharmakologie den Patienten kennen. Der Wert eines Medikaments lässt sich nur im Gesamtzusammenhang sehen.

Aber seine Wirksamkeit ist doch von der Zulassungsbehörde längst geprüft und bescheinigt. Das IQWiG entscheidet danach doch nur über zusätzlichen Nutzen als Grundlage für den Preis.

Das ist ja das Problem. Die Wirksamkeit eines Medikaments wird unter Idealbedingungen nachgewiesen. Wenn ich als Hersteller ein Medikament zur Senkung des Blutdrucks auf den Markt bringen will, muss ich beweisen, dass es dem Hypertoniker nützt. Dazu muss ich für meine Studien nach Möglichkeit Patienten finden, die tatsächlich nur unter Bluthochdruck leiden. Der Mensch, der gleichzeitig Diabetes, ein Nierenproblem oder eine Fettstoffwechselerkrankung hat, würde meine Ergebnisse verfälschen.
Multimorbidität ist aber nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ein Drittel der über 70-Jährigen leidet an mindestens fünf chronischen Erkrankungen. Bis zu 20 Prozent der 70- bis 99-Jährigen erhalten 13 und mehr Wirkstoffe täglich. Folglich gibt es Interaktionen zwischen den Arzneimitteln – die Struktur des einzelnen Wirkstoffs ist gar nicht mehr klar erkennbar. An dieser Diskrepanz kommen wir nicht vorbei, auch nicht in der Nutzenbewertung. Das IQWiG blendet sie in seiner Beurteilung aber völlig aus.

Der Umkehrschluss ist auch keine Lösung. Sollen die Kassen jeden Preis bezahlen, nur weil sich die Wirkungsweise eines Medikaments im Alltag nicht exakt definieren lässt?


Ich habe keine perfekte Lösung. Ich versuche nur deutlich zu machen, dass die Fragen sehr komplex sind und dass es sich die Politik ziemlich einfach macht, wenn sie so tut, als gäbe es simple Beurteilungskriterien –, und damit den Verdacht schürt, die Industrie wolle sich die Taschen füllen. Das ist ja auch leicht. Das Image haben wir sowieso schon.

Ihre Situation war bis zur Einführung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) aber auch sehr komfortabel. Bis dahin hatten Sie das Privileg, die Preise für neuartige Medikamente selbst festzusetzen, unabhängig davon, ob sie einen Mehrwert zu existierenden Präparaten bieten.

Das AMNOG greift aber zu kurz. Es wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Und statt uns immer in Details zu verheddern, sollten wir hierzulande vielleicht einmal überlegen, wie wir Forschungsleistungen bewerten wollen.
Ein Medikament zu entwickeln dauert Jahre. In den ersten sieben bis acht Jahren versuchen Sie zunächst einmal nur, die klinische Wertigkeit einer Substanz in Relation zu anderen zu bewerten. Da forschen Sie eigentlich blind. Sie wissen weder, wo das hinführt, noch, ob Sie Ihr Ziel erreichen. Und Sie haben schon gar keine Ahnung, ob und wie viele Ihrer Wettbewerber sich gerade mit denselben Fragen befassen.
Erste mögliche – und mit anderen vergleichbare – Ergebnisse erzielen Sie frühestens in Phase II, in der Sie Versuche an Patienten durchführen. Danach gilt es noch zahllose weitere Hürden zu nehmen. Erzielen Sie einen relevanten therapeutischen Effekt? Können Sie die Ethikkommission überzeugen? Kommen Sie überhaupt in Phase III? Schaffen Sie irgendwann die Zulassung? Gesetzt den Fall, all das gelingt Ihnen: Dann sind jetzt 12 bis 15 Jahre vergangen ...

... und Sie bringen ein neues Medikament auf den Markt.

Genau, und dieses Medikament sorgt im Gegensatz zu anderen Substanzen beispielsweise für eine Lebensverlängerung des Patienten um sechs Monate.

Ein Zusatznutzen, den Ihnen das IQWiG auch bescheinigt. Damit erzielen Sie am Markt einen hohen Preis.


Mir ist der Durchbruch geglückt. Ich bin der Erste. Und mein Wettbewerber? Wann immer er mit seinem Produkt kommt: Er hat schon den Makel me-too. Sein Präparat ist vielleicht nur wenige Monate später am Markt, sein Produkt ist anders gelagert als meines, aber auch seines verlängert das Leben um einige Monate. Er ist trotzdem nur ein Nachahmer. Seine Investitionen sind so hoch wie meine, er hat Hunderte Millionen Euro investiert – und er wird dennoch einen Preisabschlag hinnehmen müssen, weil sein Nutzen dem meinen nicht überlegen ist.
Und von welchen Kriterien ist das alles abhängig? Es kann allein daran liegen, dass die Ethikkommission in dem Land, in dem er seine erste Prüfung abgelegt hat, länger für ihre Entscheidung gebraucht hat als meine. Vielleicht war auch sein CEO ein paar Wochen krank, was das Projekt verzögert hat. Oder ein Computervirus hat die Auswertung der Statistiken verzögert. In einem Zeitraum von 15 Jahren gibt es zahllose Gründe für einen Verzug um wenige Monate. Und dennoch: Der Zweite ist in jeder Hinsicht der Verlierer.

Wenn Mercedes-Benz vor BMW eine neue Technologie auf den Markt bringt, wird die Marke auch als Star gefeiert.

Dann kann sich der Kunde aber immer noch für den BMW entscheiden, wenn ihm das Auto besser gefällt. Zudem kommt keine Behörde, die BMW zwingt, den Preis mindestens 20 Prozent niedriger anzusetzen als den des Mercedes. Und vermutlich sehen sich die Münchener auch nicht dem Vorwurf ausgesetzt, bei ihrer neuen Technologie handele es sich nur um eine Scheininnovation.

Die Patienten erwarten bei dem Begriff Innovation vermutlich ein Medikament, das eine bis dahin nicht therapierbare Krankheit heilt.


Den Patienten mache ich auch keinen Vorwurf. Behörden, Politikern, Kassen, Instituten oder Medien, die es besser wissen, hingegen schon. Man wird den Verdacht nicht los, dass die Realität aus Kostengründen bewusst ignoriert wird.

Was ist die Realität?

Unsere Wirklichkeit ist die Verbesserung des Bestehenden. Über die Zeit gesehen, sind das riesige Innovationssprünge. Sie vollziehen sich oft aber nur in kleinen Schritten.

Dass etwa Leukämie bei Kindern heute zu 90 Prozent heilbar ist, erforderte einen Entwicklungsprozess von weit mehr als zehn Jahren. Und der Erfolg ist vielen Unternehmen geschuldet. Diesen kranken Kindern wird heute ein Cocktail aus durchschnittlich fünf Arzneien verordnet, die teilweise nur wenig verbessert sind. Aber sie entfalten ihre Wirkung nur, wenn sie in der richtigen Kombination, zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Dosierung und für die richtige Dauer verabreicht werden. Dahin zu kommen ist ein komplizierter, mühsamer, gemeinsamer Prozess.
Den gehen wir bei vielen Krankheiten. Beispielsweise auch bei Aids. Heute hat ein 20-jähriger Patient, bei dem HIV diagnostiziert wird, eine Lebenserwartung von 66 Jahren. Ende der Neunzigerjahre lag sie noch 15 Jahre darunter. Die Sterblichkeit von Kindern mit Leukämie sank zwischen 1990 und 2004 jedes Jahr um drei Prozent. Sind das Scheininnovationen?
Natürlich wünschen auch wir uns große Durchbrüche. Aber die Mega-Entwicklungen liegen erst einmal hinter uns, viele Gebiete sind gut erforscht. Trotzdem gibt es heute von weltweit etwa 30 000 bekannten Erkrankungen noch immer rund 20000, die wir nicht behandeln können. Das sind keine riesigen Patientengruppen, keine großen Märkte – es sind kleine, unbehandelte Nischen. Sie anzugehen ist die Aufgabe der pharmazeutischen Industrie in den nächsten Jahrzehnten.

Manchmal gehen Sie auch Fragen an, deren Antwort keiner verlangt hat, und schaffen sich Ihre Märkte selbst. Jede Kleinigkeit wird heute pathologisiert. Vor ein paar Jahren war der Mensch erschöpft und auch mal traurig, heute leidet er unter Burnout und ist depressiv. Ein Kind, das man früher aufgeweckt genannt hätte, gilt neuerdings als hyperaktiv. Alles Mögliche ist inzwischen angeblich krankhaft und damit behandlungsbedürftig.

Das hat aber weniger mit der Pharmaindustrie als mit der sozialen Akzeptanz von Krankheitsprofilen zu tun. In den Zwanzigerjahren fielen die Frauen noch in Ohnmacht, heute heißt es: Trink mal einen Kaffee. Ein Magengeschwür oder ein Herzinfarkt ist noch immer eine Krankheit mit hoher sozialer Anerkennung. Über seine Hämorrhoiden spricht keiner, obwohl die genauso schwierig sein können.
Natürlich beobachten wir solche gesellschaftlichen Veränderungen. Wir stellen uns darauf ein, assoziieren Produktnutzen und versuchen, daraus ein Geschäft zu machen. Aber wir erfinden keine Krankheiten. Das einst aufgeweckte Kind leidet heute möglicherweise an ADHS, an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Das ist inzwischen ein anerkanntes Krankheitsbild. Dass Ärzte vielleicht zu viele Kinder so diagnostizieren, ist ein Problem, da gebe ich Ihnen recht. Aber dafür kann doch die Pharmaindustrie nichts.

Sie verdienen daran.

Richtig, und damit sind wir wieder bei der Ausgangsfrage: Darf man an der Krankheit von Menschen verdienen? Aus diesem Dilemma werden wir nie herauskommen.

In diesem Dilemma bewegen Sie sich jetzt seit fast 40 Jahren – in unterschiedlichen Funktionen. Ist das auf Dauer nicht frustrierend?


All das, was wir jetzt diskutiert haben, macht vielleicht zehn Prozent meiner Arbeit aus. Ich schöpfe meinen Lebenszweck lieber aus den 90 Prozent, und deshalb fühle ich mich in meiner Branche sehr gut aufgehoben. Weil wir auch in einem sehr hohen Maße Nutzen spenden. Weil wir Neues schaffen, Entwicklungen vorantreiben. Ich bin von Menschen umgeben, die etwas Gutes, etwas Richtiges wollen.
Das mag pathetisch klingen, aber so ist es: Wer in die Pharmaindustrie geht, tut das immer auch, um die Welt ein klein wenig besser zu machen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.