Schluckbeschwerden

Es gibt Leute, die finden Pillen doof. Ich nehm’ das jetzt mal persönlich.




Mein Kumpel Karl-Heinz ist 50 und „kritisch“, sagt jedenfalls Karl-Heinz. Sein Lieblingssatz lautet: „Man darf nicht alles einfach so runterschlucken.“ Deshalb nimmt der Karl-Heinz auch keine Pillen. Die sind nur Betrug. Den Ärzten traut er auch nicht über den Weg. Alles Quacksalber, sagt der Karl-Heinz, denen kannst du nicht trauen, die wollen nur dein Geld. Guck doch mal, mit welchen Autos die rumfahren! Na siehst du.

Karl-Heinz sagt das Wort „Pharma“ nie ohne „Konzerne“, und wenn er es sagt, dann verzieht er sein Gesicht. Karl-Heinz sagt auch nie „Gewinn“, sondern nur „Profit“, und das spricht man irgendwie gespuckt aus. Konzerne sind immer Verbrecher. Man muss kritisch bleiben, sagt Karl-Heinz. Die Pillen schluck’ ich nicht. Sie sind alle bitter.

Ja, bitter. Vor 30 Jahren wäre Karl-Heinz in der Öffentlichkeit wahrscheinlich noch als Angehöriger einer randständigen Glaubensgemeinschaft oder eines neuen Öko-Kults identifiziert worden. Heute aber steht der kritische Karl-Heinz mit seiner Haltung, wie Gesinnung auf Neudeutsch heißt, mitten in der Gesellschaft. Leute wie Karl-Heinz sind die, die man in Fernseh-Talkshows einlädt, wenn man einen „mündigen Verbraucher“ sucht, und das tut man ja immer.

Leute wie Karl-Heinz sind es, die die Einschlägigkeit des Begriffs Pharma neu geprägt haben, etwa im Internet. Das ist der Ort, der, wenn man in ihm nach dem Wort „Pharmaindustrie“ googelt, massenhaft Begriffskombinationen mit Wörtern wie „Manipulation“, „Betrug“, „Gefahr“ und „Schäden“ hergibt und nur ganz selten das Gegenteil.

Für Karl-Heinz werden die ganzen „kritischen“ Fernsehmagazine gemacht und all die „kritischen“ Blogs und Geschichten in Zeitschriften und Tageszeitungen. Wenn es um die Pharmazie geht, um die bitteren Pillen, dann wird der kritische Unterton zum Hintergrundrauschen, das letztlich alles andere übertönt. Das gilt selbst für solche Storys, in denen nicht ein dauerempörtes, aber nur bedingt auch ausrecherchiertes „Ich klage an!“ auf Sendung geht.

Um die Karl-Heinzis dieser Welt, den neuen Mainstream, der nicht alles schluckt, ruhigzustellen, braucht man ein Ritual, in dem zunächst mal klargestellt wird, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Guten: Das sind immer die, die nicht für den Konzern arbeiten und die keine Pillen drehen. Ein Beispiel dafür lieferte ein Interview, das der Berliner Tagesspiegel im Juni 2011 mit der neuen Chefin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller führte. Birgit Fischer war zuvor Vorstandsvorsitzende einer der mitgliederstärksten deutschen Krankenkassen gewesen. Die Frage zu Beginn des Interviews lautete: „Frau Fischer, warum sind Sie von den Guten zu den Bösen gewechselt?“ Der Rest des Interviews hatte weniger von diesen Klischees zu bieten – aber wen interessiert das dann noch? Zuerst müssen mal die „richtigen Fragen“ gestellt werden. Die Bösen sind immer die Pharmakonzerne. Gut ist, wer dagegen ist. Aber wer ist bei einer solchen Haltung eigentlich der Dumme?

Klar hat Karl-Heinz recht. Man muss kritisch bleiben. Nicht alles schlucken. Ganz gleich, was einem serviert wird – Pillen oder Propaganda. Die Pharmaindustrie geht mit komplexen Produkten um, und sie findet sich in komplizierten Verhältnissen zwischen Ärzten und Patienten wieder. Die Antwort darauf war lange das, was auch in der Schulmedizin und in der Großtechnologie zum Standard gemacht wurde: Die Leute verstehen das nicht. Fangen wir erst gar nicht an, es zu erklären. In Branchen und bei Technologien, wo man das lange dachte, gibt es heute eine massive Schieflage im öffentlichen Meinungsbild. In einer offenen Gesellschaft muss man auch offen reden, selbst wenn der Gegenstand, über den man etwas sagen soll, komplex ist – vielleicht gerade dann. Wer nicht verteufelt werden will, muss sich verständlich machen. Alles andere erhöht die Nebenwirkungen.

Die sind in der Tat nicht ohne. Es ist auch die Folge einer verantwortungslosen Gesinnung, die hier sichtbar wird. Impfen gilt bei vielen jungen Eltern mittlerweile als schlecht. So warnen Experten seit Jahren davor, beispielsweise auf die Masern-Impfung zu verzichten. Zunehmend gibt es Fälle von SSPE, subakuter sklerosierender Panenzephalitis, die tödlich verläuft – und die heimtückischerweise durchschnittlich sieben Jahre nach der Maserninfektion ausbricht. Weltweit sterben an Komplikationen nach einer Masernerkrankung mehr als 160 000 Menschen – pro Jahr. Deutschland hat, als Folge einer mangelnden Impfdisziplin, heute wieder eine der höchsten Masern-Infizierungsraten Europas.

Die „harmlose Kinderkrankheit“ Masern muss nicht tödlich verlaufen. Einschneidend ist auch eine Gehirnentzündung mit Fieberschüben, Krämpfen und Schüttelfrost. Ich weiß, wovon ich rede. Als ich vier war, brachte mir mein Bruder Masern aus dem Kindergarten mit – und die führte bei mir zu einer solchen Enzephalitis, die mich die nächsten Jahre beschäftigen sollte. Kindergarten gab es für mich nicht, stattdessen mitternächtliche Besuche des Hausarztes. Nach zwei solcher Jahre schielte ich wie Opossum Heidi, die „harmlose Kinderkrankheit“ hatte noch eine Reihe anderer unangenehmer Effekte – aber ich war am Leben, weil ich viel Glück hatte, was man im Jargon auch Medikamente nennt.

Da hilft nur Meditation, da musst du Yoga machen, entspann dich. Das hörte ich von ganz normalen, wohlmeinenden Mitmenschen 35 Jahre später, als es mir, schon einige Tage, im Rücken stach und ich Fieber hatte, mich schlapp fühlte. So was wird heute sofort als kleiner Burnout identifiziert, von Leuten, die das meist im Internet gelesen oder in einer Talkshow gehört haben. Da reicht Kamillentee oder alternativ „ein gutes Gespräch“.

Stimmt schon: Nicht alle der 20 000 Menschen, die pro Jahr in Deutschland an einer ambulant erworbenen Lungenentzündung sterben, tun das, weil sie mit dieser Mischung aus Aberglauben und Skepsis gegenüber der Naturwissenschaft statt mit Medikamenten versorgt werden. Aber wenn es im Rücken sticht, das Fieber nicht geht, man sich schlapp fühlt – dann sind die Tipps der Karl-Heinzis gefährlich. Hier heißt es: zurückzweifeln. Alles andere wäre reine Selbstverstümmelung.

Das gilt auch, wo die Karl-Heinzis Therapie in eigener Sache anwenden. Es war vor gut einem Jahr. Wieder ein Stechen, aber diesmal in der Brust. Kurz darauf eine schwierige Operation, dann folgte eine Reha – und Gelegenheit, Karl-Heinz in Aktion zu erleben. Ein Patient, der nach zwei Herzinfarkten und einer langen Operation gerade wieder laufen lernte – um seinen Mitpatienten stolz zu berichten, dass er seine Tabletten regelmäßig im Klo runterspült. Denn Pillen, sagt er, sind nur Betrug. Irgendwann kam Karl-Heinz dann nicht mehr. Das war kein Fake. Er war echt tot.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Jahr 2003 eine Studie über das Pilleneinnahmeverhalten von Patienten veröffentlicht. Nicht einmal die Hälfte der Kranken in den reichen, medizinisch gut versorgten Ländern nimmt ihre Pillen nach Vorschrift. Das kostet Menschenleben und führt mit zu einem enorm teuren Gesundheitssystem. Auch dafür gibt es viele Gründe, zum Beispiel Vergesslichkeit, also echte Demenz – und jene Art Vergesslichkeit der Karl-Heinzis, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse deshalb nicht schätzen, weil sie ganz selbstverständlich und alltäglich für sie bereitstehen.

Keine Frage: Zweifeln ist richtig. Kritik ist wichtig. Aber auch Misstrauen kann Ihre Gesundheit gefährden. Man muss nicht alles schlucken. Aber es bleibt dabei: Wissen heilt. Vorurteile nicht. Das kann man ruhig so schlucken – und es mal ganz persönlich nehmen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.