Kein Sauseschritt zur Therapie

Ideen gibt’s reichlich. Das gilt für Musik wie für neue Medikamente. Tatsächlich aber entstehen nur selten echte Hits daraus. In der Musik genauso wie bei Medikamenten. Doch Horst Lindhofer aus München ist beides geglückt. Szenen eines ungewöhnlichen Forscherlebens.




Seinen ersten Hit landet Horst Lindhofer kurz nach dem Abitur. Der Song „Pogo in Togo“ dudelt durch alle deutschen Diskotheken. Die Band „United Balls“ surft ganz oben auf der Neuen Deutschen Welle mit. Heute, dreißig Jahre später, nach Biologiestudium, Doktorarbeit und Firmengründung, macht der gebürtige Münchner wieder Schlageilen. Mit seiner Biotech-Firma Trion Pharma hat er es in der dreißig Jahre alten deutschen Biotech-Industrie als Erster geschafft, eine Idee für eine Krebstherapie komplett in Deutschland zu entwickeln, auf den Markt und zur Anwendung am Patienten zu bringen.

Zwei Karrieren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Denn Show-Geschäft und Arzneimittelentwicklung haben nun wirklich nichts miteinander zu tun.

Oder doch?

Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet einem unkonventionellen, rebellischen Ex-Lead-Gitarristen einer Punk-Band gelingt, was die deutsche Biotech-Branche seit Jahrzehnten vergeblich versucht? Nur Zufall, dass sich ein ehemaliger Musiker lieber verlässliche und langfristige Partner für seine Firma sucht statt anonyme, nur am schnellen Gewinn interessierte Risikokapitalgeber? Dann wäre es wohl auch nur ein Zufall, dass Lindhofers Idee von Anfang an von einem finanzstarken Partner, dem Fresenius-Konzern, gefördert wurde – so wie eine junge Band unter den Fittichen des etablierten Musik-Labels.

Man kann es sehen, wie man will. Zumindest am Anfang gibt es zwischen den beiden Welten durchaus Ähnlichkeiten. Während Musiker in tristen Garagen proben, nach coolen Riffs, eingängigen Beats und Melodien suchen, sitzen Biologen, Chemiker oder Mediziner in ähnlich nüchternen Labors der öffentlich finanzierten Grundlagenforschungsinstitute (siehe Grafik). Hier entstehen die meisten Ideen für Arzneimittel. Denn im Idealfall ist hier das „Herumspielen“, das Testen verrückter Ideen möglich. „Wir sind dafür da, auch mal was Neues zu probieren, nicht nur dem Mainstream zu folgen, sondern auch unwahrscheinliche Hypothesen zu überprüfen“, hat Stefan Thierfelder immer gesagt. Der Leiter des Instituts für Immunologie der Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) unterstützt Anfang der Neunzigerjahre einen ehrgeizigen Jungforscher: Horst Lindhofer. In Thierfelders Labor entwickelt der Biologe spezielle Wirkstoffe, sogenannte trifunktionale Antikörper – und viele Forscher-Kollegen warnen, er sei auf dem Holzweg. Viel zu potent, viel zu gefährlich seien diese Antikörper. Aus dieser Idee könne gar kein Medikament werden.

Tausende Ideen scheitern

So ist das immer auf dem mühsamen Weg von der Idee zum Produkt. Besonders in der Medikamentenentwicklung. Am Anfang gibt es zahllose Gründe, warum es nicht klappen kann. Später auch. Und meist haben die Nörgler auch noch recht. Denn von 100 Wirkstoffen, die zum ersten Mal am Menschen getestet werden (Phase I), wird nur etwa einer als Medikament zugelassen. Vorher sind bereits Tausende Wirkstoffe daran gescheitert, dass sie zu giftig sind, zu lange oder zu kurz im Körper verbleiben, Mutationen auslösen, krebserregend, fruchtschädigend oder einfach zu teuer in der Herstellung sind. Und so weiter und so fort.

Manche Ideen für neue Arzneien bleiben aber auch aus ganz banalen Gründen blanke Theorie: Ein Forscher wechselt in ein anderes Labor. Einer Biotech-Firma geht das Geld aus. Ein Fehler in der Statistik verfälscht ein Studienergebnis – in jeder Phase bleiben potenzielle Arzneien auf der Strecke. Denn auch wenn es Forscher, Pharmafirmen, Ärzte und Gesundheitspolitiker in schicken Broschüren gern so darstellen: Ein stringentes System, in dem jede Idee hinreichend und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen auf ihre Wirksamkeit am Menschen getestet wurde, existiert nicht.

Kein Wunder, dass die Produktivität der Pharmaindustrie sinkt. Obwohl der Aufwand für die Entwicklung eines neuartigen Medikaments seit 1970 jährlich um etwa sieben Prozent auf schätzungsweise 800 Millionen Dollar gestiegen ist, schaffen es damals wie heute nur 20 bis 30 Medikamente pro Jahr durch die Zulassung auf den Markt. Nach wie vor regiert der Zufall, und das Risiko ist hoch, nur mühsam gebändigt durch das enorme Engagement Einzelner, manchmal sogar ehemaliger Musiker.

Risikofreudig und hartnäckig ist Horst Lindhofer schon in Teenager-Tagen, als er noch Raketen in den Münchner Himmel jagt. Als Musiker schießt er die Warnungen des Vaters („Diese Musik ist doch nichts Richtiges“) und die Selbstzweifel („Ich bin wohl kein John Lennon“) in den Wind – und hat Erfolg. Der Musikerkarriere kehrt er den Rücken, als ihn die Neugier packt. Dem damals 22-Jährigen springt ein Artikel aus dem Magazin Spektrum der Wissenschaft ins Auge: Darin ging es um Antikörper und darum, was man mit ihnen machen kann. Kurzentschlossen schreibt sich Lindhofer in der Ludwig-Maximilians-Universität ein, absolviert ein Biologiestudium und landet schließlich im Labor des Antikörper-Spezialisten Stefan Thierfelder.

Dort befasst man sich gerade mit einer Projektidee für Antikörper, die zwei Zielmoleküle erkennen können, sogenannte bispezifische Antikörper. Normalerweise sind Antikörper monospezifisch: Die beiden kurzen Arme des y-förmigen Proteins können nur ein bestimmtes Molekül greifen – so wie ein Schlüssel nur in ein Schloss passt. Bispezifische Antikörper greifen mit dem einen Arm des Y ein krebstypisches Molekül und mit dem anderen eine Immunzelle, um sie so zum Tumor zu führen. „Das fand ich total faszinierend, dass man die Abwehrzellen gewissermaßen an die Hand nehmen und gegen den Tumor dirigieren kann“, sagt Lindhofer. Er merkt schnell, dass das Verschmelzen der beiden Antikörpertypen quälend aufwendig und alles andere als wirtschaftlich ist. Doch er findet einen Ausweg.

Die richtige Dosis entscheidet

„Es war Glück, dass ich in einem Labor gearbeitet habe, das zufällig auch Antikörper in Ratten herstellt.“ Denn es stellt sich heraus, dass das Verschmelzen eines Maus-Antikörpers mit einem Ratten-Antikörper viel einfacher ist. Das allein macht die neue Antikörpertechnik schon relevant für die Anwendung. Aber Lindhofer fällt noch ein weiterer Kniff ein. Er will den langen Arm, den „Fuß“ des Y, optimieren. Dieses dritte Ende des Antikörpers bestimmt, welche Aktionen das Immunsystem gegen die Krebszelle oder das Bakterium einleitet. „Es können zum Beispiel Fresszellen herangeholt werden, wenn der Antikörper ein Bakterium gegriffen hat“, sagt Lindhofer.

Als einer der Ersten verändert er dieses dritte Bein – die meisten Kollegen haben Bedenken, dass das Immunsystem dadurch überaktiv wird und sich gegen die Zellen des Patienten richten könnte. Doch Lindhofer macht weiter. Unbeirrt verfolgt er seine Idee eines „trifunktionalen“ Antikörpers, der nicht nur Tumorund Killer-T-Zellen zusammenbringt, sondern gleich auch noch die Fresszellen der Körperabwehr dazu. „Krebs ist so hartnäckig, dass wir das volle Potenzial des Immunsystems brauchen“, sagt er, und das bayerische R rollt gewaltig. Seine Beharrlichkeit zahlt sich aus: Die Aggressivität der trifunktionalen Antikörper bekommt Lindhofer durch eine tausendfach geringere Dosierung in den Griff – ein weiterer Vorteil für die Vermarktung, weil so viel weniger des teuren Wirkstoffs hergestellt werden muss.

An ein Medikament oder gar eine eigene Firma denkt Lindhofer zu jenem Zeitpunkt, 1993, allerdings nicht. Wie die meisten Grundlagenforscher treiben ihn Neugier und die Anerkennung von Wissenschaftskollegen. Als er auf einer Krebsforschungskonferenz in den USA mit seinen Ergebnissen einen Preis gewinnt, wird er in München plötzlich wahrgenommen. „Professoren, die mich vorher nie beachtet hatten, luden mich ein, boten mir das Du an.“ Eitelkeit? Nicht nur: „Wissenschaft funktioniert nur durch Austausch, und der kommt erst in Gang, wenn sich andere für deine Arbeit interessieren.“

Trotzdem lässt sich Lindhofer von seinem Chef überzeugen, auf seine Entdeckungen Patente anzumelden, obwohl solch ein Ansinnen von vielen Grundlagenforschern 1993 noch als Verrat an der Freiheit der Forschung eingestuft wird. „Aus meiner Musikerzeit kannte ich die Vorteile, sich die Rechte auf die eigene kreative Arbeit zu sichern“, sagt Lindhofer. „Das Geld für die Konzerte war kaum der Rede wert. Aber wenn die eigenen Kompositionen im Radio oder Fernsehen laufen, dann wirft das schon was ab.“ Für „Pogo in Togo“ bekommt er bis heute jedes Jahr ein paar Euro von der GEMA.

1995 beginnt Lindhofer, seine Antikörper auf den Einsatz am Menschen vorzubereiten. Zuerst testet er an Mäusen, und tatsächlich: Die Antikörper schaffen es, die Tiere vom Krebs zu befreien. „Ein großartiges Gefühl“, sagt er. „Wir haben uns gefühlt wie Könige.“ Auch dieses Ergebnis führt zu Patenten, doch eine eigene Firma kommt dem Forscher noch immer nicht in den Sinn. „Ich dachte eher, dass sich irgendwann ein Pharmakonzern melden würde, der das dann entwickelt“, sagt Lindhofer und lacht über seine damalige Naivität.

Pokern für ein neues Verfahren

Ein Technologietransferbeauftragter der GSF bringt ihn schließlich auf die Idee, die Sache selbst anzupacken. Lindhofer lernt, dass es meist nicht die großen Pharmafirmen sind, die Neuentwicklungen aus der Grundlagenforschung aufgreifen, sondern dass um die Ideen herum kleine Biotech-Firmen gegründet werden – und zwar meist von den Forschern selbst. Das nötige Geld stammt von Risikokapitalgesellschaften, die darauf wetten, ihre Investition samt Rendite nach ein paar Jahren von den großen Pharmafirmen zurückzubekommen – wenn das Start-up bewiesen hat, dass seine Idee zur Arznei taugt und sie ihm abgekauft wird.

Auf dem Weg zum Jungunternehmer bewirbt sich Lindhofer 1997 bei einem Start-up-Wettbewerb von McKinsey und schreibt auf, wie seine Forschungsergebnisse zur Krebstherapie werden könnten. Er gewinnt – und plötzlich sitzt der Grundlagenforscher in Meetings, schreibt Businesspläne, verhandelt mit Risikokapitalgebern und handelt beim GSF Exklusivlizenzen auf die eigenen Forschungsergebnisse aus. Mit Nebenwirkungen: „Das war so viel Stress, dass ich erst einmal einen Hörsturz bekam.“

Als Trion Pharma, wie die neue Firma heißen soll, fast am Start ist, passiert etwas, das für die Branche sehr ungewöhnlich ist: Lindhofer wird vom Vorstand des Fresenius-Konzerns eingeladen, seine Idee vorzustellen. Bei dem Medizintechnik-Unternehmen, das in den Neunzigern mit dem Verkauf von Dialysegeräten rasant gewachsen war, kannte man den Münchner Forscher bereits als Stipendiat der Else Kröner-Fresenius-Stiftung.

Lindhofer wittert seine Chance, und er hat gelernt: Um Fresenius seine Antikörper-Idee schmackhaft zu machen, schlägt er nicht etwa ein Arzneimittel vor, sondern eine Art Staubsauger-Medizinprodukt. Weil die Antikörper Krebszellen greifen, könnten sie das Knochenmark, das krebskranken Patienten seinerzeit vor der aggressiven Chemound Strahlentherapie entnommen wird, von Krebszellen befreien, sagt er. Eine wichtige Voraussetzung, damit der Patient nur seine blutbildenden Stammzellen zurückbekommt. Nicht minder wichtig: Ein solcher „Staubsauger“ ließe sich, wie in der Medizintechnik üblich, in zwei Jahren Entwicklungszeit realisieren.

Das war hoch gepokert, sagt er heute. „Aber auf ein zehnjähriges Arzneimittelentwicklungs-Projekt hätte sich Fresenius bestimmt nicht eingelassen.“ Die Partie geht an ihn. Der Vorstand sei interessiert, ließ man ihn wissen. „Und das mit dem Risikokapital solle ich mal ganz schnell vergessen.“

Im März 1998 gründet der Ex-Musiker, Ex-Grundlagenforscher und Neu-Unternehmer Horst Lindhofer die Trion Pharma – in der Tasche ein Kooperationsund Lizenzvertrag von Fresenius. Obwohl der Partner zunächst vor allem an dem Staubsauger interessiert ist, sichert sich Fresenius auch die weltweiten Vermarktungsrechte für Medikamente auf Basis der trifunktionalen Antikörper. Lindhofers Rechnung geht auf. „Unser Vorteil war, dass wir komplett finanziert waren“, sagt er. Und er nutzt das Geld nicht allein, um die Antikörper für die Staubsauger-Technik fit zu machen. Es ermöglicht ihm auch die ersten präklinischen Tests der Antikörper in Zellkulturen, Mäusen und Affen, die nach den Regularien der europäischen Zulassungsbehörde EMA für neue Medikamente nötig sind. Dazu gehören umfangreiche toxikologische Untersuchungen, aber auch Nachweise darüber, wie lange der Wirkstoff im Körper verbleibt, wie er abgebaut wird, ob er auf die Fruchtbarkeit Einfluss hat, ob er Mutationen oder Krebs auslöst, und welche Dosis für den ersten Einsatz im Menschen vermutlich sinnvoll wäre. Eine große Investition (im einstelligen Millionenbereich) ist außerdem für eine Produktionsstätte nötig, die den EMA-Richtlinien und denen der nationalen Behörden entsprechen müssen, damit die Antikörper so produziert werden können, dass sie sicher sind für den Einsatz am Menschen.

Eine Therapie wird überflüssig

Für das Medizinprodukt, das der Unternehmer nebenbei vorantreibt, sind viele der Tests gar nicht nötig. Aber sie sind Voraussetzung, um mithilfe der GSF (heute Helmholtz Zentrum München) die ersten Krebspatienten am Klinikum Großhadern der Ludwig-MaximiliansUniversität mit trifunktionalen Antikörpern zu behandeln. Und Lindhofer tut gut daran. Denn die positiven Ergebnisse aus dieser Pilotstudie (wie bei Krebsbehandlungen üblich Phase I/II) helfen ihm über eine kritische Zeit in der Zusammenarbeit mit Fresenius hinweg: Die Staubsauger-Technik funktioniert zwar, doch sie ist inzwischen überflüssig geworden.

Mittlerweile sind die Ärzte nicht mehr überzeugt, dass aufwendiges Transplantieren von Knochenmark und Hochdosis-Chemotherapien ihren Patienten tatsächlich helfen. „Das ganze Therapiekonzept fiel in sich zusammen. Unser Medizinprodukt hatte plötzlich keinen Markt mehr“, sagt Lindhofer. Jetzt ist Feierabend, dachte er, jetzt wird sich Fresenius zurückziehen. Statt auf die Kündigung der Kooperation zu warten, tritt er die Flucht nach vorn an. Er legt dem Fresenius-Vorstand die positiven Daten aus den Pilotstudien in Großhadern vor: Hätte das Unternehmen vielleicht Interesse daran, eine Arzneimittelentwicklung zu wagen?

Das ist eine freche Frage. Denn Lindhofer stellt sie zu einer Zeit, in der die deutsche Biotech-Branche gerade in eine tiefe Krise stürzt. Während die Euphorie um den Neuen Markt in den Neunzigerjahren noch Investoren in Scharen lockt und die Aktienkurse von Biotech-Firmen in die Höhe schießen, platzt die Blase im Millennium-Jahr mit lautem Knall, als den Investoren das Risiko und die Langwierigkeit der Medikamentenentwicklung klar wird. In diesem Jahr ist so mancher Traum ausgeträumt, doch an der Spitze von Fresenius steht kein Spekulant, der mit der Investition in Trion Pharma allein eine schnelle Rendite erwartet.

Gerd Krick ist Unternehmer. Und der gelernte Ingenieur weiß, dass jede Technik eigenen Entwicklungsgesetzen folgt. Auch der Dialysefilter, den Krick einst selbst ersann und auf dessen Basis Fresenius globaler Marktführer für Dialysetechnik werden konnte, hatte mehr Zeit und Kosten in Anspruch genommen, als geplant war. In jenem Jahr 2000 entscheidet sich Krick deshalb wie schon zuvor für Geduld und unternehmerisches Risiko. Trion Pharma kann weitermachen. Lindhofer bekommt die Chance, die Wirksamkeit seiner trifunktionalen Antikörper zu beweisen.

Lernprozess für Immunzellen

Das war eine für die Industrie ungewöhnliche, oft belächelte Entscheidung – bei Fresenius habe man gar nicht gewusst, worauf man sich einließ, hieß es. Schließlich gehen Konzerne wie Novartis, Roche oder Pfizer in der Regel erst dann eine Kooperation mit kleinen Biotech-Firmen ein, wenn deren Wirkstoffkandidaten in Phase-II-Studien bewiesen haben, dass sie Einfluss auf die Krankheit der Patienten haben. Bei Tausenden von Biotech-Buden mit ebenso vielen Entwicklungsprojekten weltweit ist das Risiko für die Unternehmen viel zu hoch, in eine Firma zu investieren, deren Arzneimittel-Idee sich möglicherweise als Flop herausstellt. Lieber zahlen sie weitaus mehr Geld für Projekte, die schon die wichtigsten Hürden in der Arzneimittelentwicklung erfolgreich genommen haben.
Die ersten Jahre, den Transfer ihres Wissens aus der Grundlagenforschung in die klinische Prüfung der Wirkstoffe am Menschen, müssen die jungen Unternehmen deshalb mit öffentlichen Fördergeldern und vor allem mithilfe von Risikokapital-Investoren bestreiten. Aber Ende 2000, als Biotech-Firmen an der Börse auf 20 Prozent ihres Vorjahreswertes abgeschmiert waren, hätte Horst Lindhofer wohl kaum einen Cent Risikokapital bekommen.

Fresenius bleibt an Bord, pumpt weiter Geld in die Entwicklung der trifunktionalen Antikörper – drängt aber auch auf eine schnelle Wirksamkeits prüfung. Häufige (also lukrative) KrebsIndikationen erfordern aufwendige und teure Studien an 500 oder mehr Patienten. In einer Nischenindikation könnten die Antikörper schneller getestet werden. Nicht zuletzt deshalb kommen Lindhofers Innovationen zunächst an Patienten mit malignem Aszites zum Einsatz, einer Erkrankung, bei der sich große Flüs sigkeitsmengen im Bauch des Patienten ansammeln.

Auf diese Patienten stieß Lindhofer durch Zufall – eine Technische Assistentin seiner Forschungsgruppe war an Krebs erkrankt, und in der Folge füllte sich ihre Bauchhöhle mit Gewebeflüssigkeit: maligner Aszites, wie ihn etwa 30 000 Patienten pro Jahr in Europa entwickeln. Die Betroffenen müssen regelmäßig zur Punktion, um die Flüssigkeit abzulassen. Weil damit auch wichtige Proteine verloren gehen, sterben die Patienten meist nicht am Krebs, sondern an Auszehrung. Die erkrankte Kollegin ist eine der ersten Patientinnen, deren Leiden die Antikörper erkennbar lindern. In den Monaten, die Lindhofers Kollegin noch lebte, trat kein Aszites mehr bei ihr auf.

Für Trion Pharma erweist sich die Nischenindikation tatsächlich als ideale Abkürzung zum Wirksamkeitsnachweis für Lindhofers Antikörper. „Erstens konnten wir den Behörden zeigen, was im Körper passiert – bevor, während und nachdem wir die Antikörper eingeleitet haben.“ Während die Forscher vor der Behandlung sehr viele Tumorzellen in der Bauchhöhlenflüssigkeit messen, ist sie nachher nahezu frei von Krebszellen, dafür aber voller Immunzellen, die von den Antikörpern herangeschafft wurden. „Und zweitens konnten wir beim malignen Aszites mit wenigen Patienten und innerhalb kurzer Zeit einen messbaren Vorteil für die Kranken zeigen“, sagt Lindhofer. Die Behandlung erspart nicht nur die wöchentlichen Punktionen. Inzwischen ist sich der Forscher sicher, dass die Patienten auch eine höhere Überlebenschance haben: Das Immunsystem lernt, dass es gegen rückkehrende Tumorzellen eine Immunreaktion auslösen muss.

Als sich abzeichnet, dass Trions Antikörper, genannt Removab, sicher und wirksam sind, gründet Fresenius 2003 die Tochtergesellschaft Fresenius Biotech. Ein unglücklicher Name, denn das Unternehmen soll tun, was die Aufgabe einer Pharmafirma ist: klinische Studien vorbereiten und organisieren, mit den Zulassungsbehörden kommunizieren, zugelassene Medikamente vermarkten, bewerben, vertreiben. Man könnte auch sagen: Fresenius Biotech soll das Label für Trion Pharma werden und die trifunktionalen Antikörper zum Hit machen.

Üblicherweise schließen Biotech-Firmen spätestens nach dem ersten Wirksamkeitsnachweis in der klinischen Prüf-Phase II einen Kooperationsvertrag mit einer erfahrenen Pharmafirma, die dann die weitere Entwicklung, Zulassung und Vermarktung übernimmt. Denn der Weg von der Idee zum Markt und zum kommerziellen Erfolg braucht eben mehr als finanzielles Engagement, erklärt Christian Schetter, Geschäftsführer der Fresenius Biotech GmbH. Die 2003 neu gegründete Tochter musste die dafür nötige Infrastruktur erst aufbauen. So wächst mit Voranschreiten der Removab-Entwicklung auch die Fresenius Biotech. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen 180 Mitarbeiter, die nicht nur die letzte, entscheidende Phase-III-Studie organisieren, sondern Removab auch durch die Zulassung bringen. Und das ist alles andere als eine Formalie.

Obwohl nur Medikamentenkandidaten zur Zulassung eingereicht werden, die sich auch noch in der letzten klinischen Prüfung bewährt haben, scheitern zehn Prozent aller Arzneien an dieser Hürde. Fresenius reicht Removab Ende 2007 zur Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA ein. Auf elektronischem Weg, denn sonst hätten schätzungsweise 85 000 Blatt Papier mit den von der Behörde geforderten Informationen nach London geschafft werden müssen.

Danach läuft die Uhr. Nach 180 Tagen muss die EMA erstmals antworten, fragt Details nach, fordert weitere Daten. Bei Fresenius sind mehrere „Rapid Response Teams“ allein damit beschäftigt, binnen vorgeschriebener Zeiträume zu antworten, um den Prozess nicht unnötig zu verzögern. Im April 2009 ist es geschafft: Die EMA erteilt die Zulassung für Removab als Therapie gegen malignen Aszites.

Am Ziel allerdings ist das Medikament damit noch lange nicht. „Man hat zwar das Gefühl, dass man bereits den Gipfel erreicht hat“, sagt Schetter. „Aber im Grunde ist man erst im Basislager.

Ein letzter, aber harter Aufstieg steht erst noch bevor.“ Denn auch wenn das Medikament durch die EMA jetzt europaweit zugelassen ist, muss Schetters Mannschaft Removab in jedem europäischen Land außerdem noch zur Vermarktung anmelden. Kein leichtes Unterfangen, denn ob Frankreich, Spanien oder Italien, überall gibt es dafür unterschiedliche Verfahren und Preiskommissionen. Und jede will erneut viele der Unterlagen sehen, die bereits der Europäischen Arzneimittelbehörde vorlagen und den Preis von 11500 Euro pro Behandlungsrunde rechtfertigen sollen. Zwei weitere Jahre gehen damit ins Land, und Schetter gewinnt den Eindruck, dass die Kommissionen auch unter politischem Druck stehen. Mit Verzögerungen sei im Grunde aber immer zu rechnen, denn „was noch nicht fertig geprüft ist, kann auch das Budget noch nicht belasten“.

Ein Mittel nur für Spezialisten

Ob der Preis für Removab nun angemessen oder zu hoch ist? Fresenius’ Kalkulation berücksichtigt jedenfalls bereits die kommenden Einsatzgebiete für das Medikament in früheren Krebsstadien. „Removab hat mehr Potenzial, als nur die Bauchwassersucht im Endstadium einer Krebserkrankung zu kontrollieren“, sagt Schetter, im Wissen, dass die Substanz bereits erste positive Daten in Phase-II-Studien als frühe Therapie gegen Eierstockkrebs oder Magenkarzinom erbracht hat. Solche künftigen Anwendungen spielen bei der Preiskalkulation eine wichtige Rolle, denn einmal eingeführt, lässt sich ein Preis später nur noch mit Mühe korrigieren. In Deutschland, Italien und Belgien wird Removabs Preis akzeptiert, in Frankreich und Spanien noch nicht.

Neben den Preisverhandlungen muss sich Fresenius auch ums Marketing kümmern, denn die behandelnden Ärzte müssen von Removab erfahren und überzeugt werden. „Kein Arzt verschreibt das Medikament, weil es ein toller neuer und sogar trifunktionaler Antikörper ist“, sagt Schetter. Entscheidend sei am Ende, ob es in die ärztlichen Richtlinien für die Behandlung des malignen Aszites aufgenommen wird. „Unser Ziel ist, Removab zum Mittel der Wahl zu machen.“ Dazu hat Fresenius Biotech eine eigene Vertriebsmannschaft, kooperiert aber auch mit Partnern, in Schweden beispielsweise mit Swedish Orphan Biovitrum.

Der Aufwand, den der Mittelständler treiben muss, ist groß. Auch ein Grund, warum die Entwicklung von Removab als Medikament für malignen Aszites – trotz seiner Wirksamkeit – in großen Pharmakonzernen vermutlich gestoppt worden wäre, glaubt Schetter: „Es gab früher diese magische Marktgröße von etwa 300 Millionen. Darunter rechnete es sich für die Vertriebsapparate der großen Pharmafirmen einfach nicht.“ Das eröffne Möglichkeiten für „Speciality“-Pharma-Firmen wie Fresenius Biotech: „Für Innovationen, die kleinen Patientengruppen helfen, die aber bei den großen Firmen durch den Rost fallen würden.“

Ein ganzes Leben für eine Arznei

Mit schwarzen Zahlen rechnet der Spezialist, der neben dem trifunktionalen Antikörper noch ein zweites Produkt vertreibt, erst im Laufe der nächsten Jahre. Removab hat Fresenius bislang etwa acht Millionen Euro eingespielt – noch weit entfernt von den 20 bis 40 Millionen Euro, die bei einer üblicherweise anzunehmenden Marktpenetra tion von 20 bis 30 Prozent der Patienten mit malignem Aszites in Europa erreichbar sein könnten. Weit entfernt auch von dem schätzungsweise knapp dreistelligen Millionenbetrag, den Fresenius seit 1993 schon in Lindhofers Idee investiert hat. Und noch weiter entfernt von Umsätzen, wie sie der Pharmakonzern Roche mit seinem monofunktionalen Antikörper Avastin erzielt, den die Biotechfirma Genentech entwickelt hat: 4,4 Milliarden Euro allein in 2011. Wenn die trifunktionalen Antikörper als Standardtherapie für Eierstockoder Magenkrebs zugelassen würden, sei auch ein wirtschaftlicher Erfolg auf breiter Basis möglich, sagt Schetter. „Letztlich wird Fresenius Biotech, aber auch der Lizenzgeber, also Trion, daran gemessen, wie sich das Medikament am Markt macht.“

Dessen Chef, Horst Lindhofer, denkt längst über den Einsatz bei der Bauchwasserkrankheit hinaus und hat am Berliner Universitätsklinikum Charité Studien mit angestoßen, um den trifunktionalen Antikörper an Patientinnen mit frühen Stadien von Eierstockkrebs zu testen. Danach sieht es gut aus für die große Vision. Normalerweise haben etwa Dreiviertel der Patientinnen nach der Operation des Eierstock-Tumors und der anschließenden Chemotherapie einen Rückfall. „Und wer einen Rückfall hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit sterben. Es gibt dann keine heilende Behandlung mehr.“ Also wurden seine Antikörper – im Rahmen einer klinischen Studie – bei Patientinnen gleich nach der Operation in den Bauchraum gespritzt. Während nach zwei Jahren üblicherweise nur noch 30 Prozent der Patientinnen rückfallfrei sind, blieben von den mit Trions Antikörpern behandelten Frauen 60 Prozent rückfallfrei.

Bis aus all den Ergebnissen eine zugelassene Therapie werden kann, benötige er sicher noch einmal fünf bis sieben Jahre, sagt Lindhofer seufzend. Im Grunde dauere es immer ein ganzes Forscherleben lang, um eine neuartige Wirkstoff-Technik nutzbar zu machen. Songs schreiben geht schneller, stellt er fest und klingt müde. „,Pogo in Togo‘ – das hatten wir in zwanzig Minuten geschrieben, und nach einem Jahr war’s schon ein Hit.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.