Kann das auch explodieren?

Die Kosten im Gesundheitssystem steigen kontinuierlich. Immer weniger Beitragszahler, immer höhere Beiträge. Kann das auf Dauer gut gehen? Und wo führt das hin?




1. BEGRIFFSSTUTZIG

Es war schon damals eine ziemlich beeindruckende Zahl: Durchschnittlich 143 000 Euro Gesundheitskosten würde jeder neugeborene männliche Säugling im Laufe seines Lebens verursachen. Die Summe stammt aus dem Jahr 1992, wir rechneten noch in der alten Währung, und knapp 280 000 D-Mark waren seinerzeit gewaltig.

Inzwischen hat sich ja nicht nur der Deutsche an größere Summen gewöhnt. Aber die aktuelle Zahl hat es in sich: Jeder Junge, der heute auf die Welt kommt, wird das System über die Jahre im Schnitt etwa 264 500 Euro kosten.

Wenn Politiker und Ökonomen heute mit Ziffern wie diesen hantieren, verknüpfen sie ihre Analysen und Prognosen gern mit dem schönen Wort Kostenexplosion, ohne das man hierzulande über Gesundheit oder Krankheit eigentlich gar nicht mehr redet. Klingt ja auch logisch. Wenn die Kosten alle zwanzig Jahre um 80 Prozent steigen, kann sich schließlich jeder leicht ausrechnen, wohin das führt.

Aber ist die Rechnung wirklich so einfach? Und falls ja: Was bedeutet das für die Zukunft? Werden wir künftig nicht mehr rundum mit Versorgung rechnen können? Wird das medizinisch Notwendige an Arzneimitteln und Behandlungen für einen Großteil der Bürger womöglich gar nicht mehr zur Verfügung stehen? Werden wir sogar „explizite Prioritäten setzen“ müssen, wie es die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer 2007 in einem Gutachten forderte?
Glaubt man der Politik, ist die Antwort klar: Nein, das werden wir nicht. „Eine Prioritätenliste für medizinische Leistungen wird es nicht geben“, verkündete 2009 SPD-Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Ihr Nachfolger Philipp Rösler erklärte, dass er eine „Rangfolge“ von medizinischen Leistungen mit seinen ethischen Vorstellungen als Arzt nicht in Einklang bringen könne: „Keine Abstufung, Rangfolge oder Rationierung.“ Nicht anders Daniel Bahr. Der Bundesminister für Gesundheit hat die Sache klargestellt: „Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss so stabil gestaltet werden, dass Debatten über eine Rationierung oder Priorisierung unnötig werden.“

Was das konkret bedeutet, soll ein Anruf im Bundesgesundheitsministerium klären. Doch die Auskunft des zuständigen Pressereferenten erweist sich als wenig hilfreich. Im Grunde, gibt der Mann allen Ernstes zu Protokoll, kümmere man sich in Berlin nur um die Gesundheitspolitik für das jeweils kommende Jahr. Das erklärt natürlich vieles, hilft aber wenig bei der Suche nach Antworten, deshalb ist es vielleicht nützlich, sich zunächst einmal die Zahlen anzuschauen.

Wir messen die Ausgaben für Gesundheit in Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), also dem Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die im Land in einem bestimmten Zeitraum produziert werden. Anfang des 20. Jahrhunderts gaben die westlichen Industrienationen kaum mehr als ein Prozent des BIP für ihre Gesundheit aus. 1960 waren es schon 4,5 Prozent. Danach wurde es bedrohlich: In Deutschland und in weiten Teilen Europas konnte man von Mitte der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre zum Teil zweistellige Zuwachsraten im Gesundheitsbereich beobachten. In den Niederlanden waren die Ausgaben innerhalb des Jahrzehnts sogar um 30 Prozent gewachsen. Deutschland steigerte seinen Anteil der Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung am BIP von 3,18 Prozent im Jahr 1963 auf immerhin 5,67 Prozent im Jahr 1975.

Es war die Zeit, in der auch der Begriff der „Kostenexplosion“ geboren wurde. 1974 tauchte er erstmals auf, in einem Gutachten mit dem Titel „Krankenversicherungsbudget“, das Heiner Geißler, damals Sozialminister in Rheinland-Pfalz, vorlegte. Ein Jahr später titelte der Spiegel: „Krankheitskosten: Die Bombe tickt.“ Experten schätzten damals, dass bei Andauer des Trends das gesamte bundesdeutsche Bruttosozialprodukt bis zum Jahr 2019 allein durch die Gesundheitsausgaben ausgeschöpft sein würde.

Nun waren in den Siebzigerjahren nicht nur die Ausgaben für die Gesundheit dramatisch gestiegen. Auch der Ölpreis, die Ausgaben des Staates für den Eisenbahnverkehr und die Kosten des deutschen Bildungswesens kletterten deutlich nach oben. Deshalb dauerte es auch nicht lange, und die Aufregung hatte sich gelegt. Gegen Ende des Jahrzehnts entspannte sich die Situation wieder. Die düsteren Prognosen bewahrheiteten sich nicht.

Die Beschwörungsformel von der Kostenexplosion ist geblieben. Richtig ist: Inzwischen investieren wir 11,6 Prozent des BIP (2009) in unsere Gesundheit, das sind gut 278 Milliarden Euro jährlich – 3400 Euro pro Kopf. Rund 76 Milliarden davon lassen wir uns ärztliche Leistungen kosten, 65 Milliarden fließen in den Posten „Pflegerische und therapeutische Leistungen“, also in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, 45 Milliarden Euro geben wir in Deutschland für Arzneimittel aus.

Seit einiger Zeit aber schlagen die Experten wieder Alarm, diesmal lauter als je zuvor. In wenigen Jahren, so heißt es, werden wir uns unsere Gesundheit nicht mehr leisten können. Entweder steigen die Kosten und jeder von uns muss direkt (durch höhere Krankenkassenbeiträge) oder indirekt (über höhere Steuern) einen beträchtlichen Anteil seines Einkommens – Experten sprechen von 30 Prozent (die Kosten für Pflege noch nicht eingerechnet) – in seine Gesundheit investieren. Oder wir begrenzen die Leistungen, das heißt: Nicht alles, was medizinisch machbar oder vielleicht angezeigt ist, wird künftig auch verfügbar sein. Das nennt man Rationierung, ganz egal, ob das der dann amtierende oberste Gesundheitshüter mit seinen ethischen Vorstellungen vereinbaren kann oder nicht.

Ist das jetzt wieder nur Panikmache? Oder basieren die heutigen Prognosen auf härteren Fakten als lediglich den Zeitkurven der vergangenen Jahre?

2. SPURENSUCHE

Je nachdem, welches Institut gefragt wird, sieht die Zukunft hierzulande hellgrau, dunkelgrau oder auch schwarz aus. Einigkeit immerhin herrscht in der Frage der Kostentreiber. Danach haben die steigenden Gesundheitskosten zwei wesentliche Ursachen:

  1. Der medizinische Fortschritt und damit verbunden die Ausweitung des medizinischen Leistungskatalogs.

  2. Der mit dem demografischen Wandel verbundene Rückgang der Einnahmen der Kassen und gleichzeitige Anstieg älterer und behandlungsbedürftiger Menschen.

3. MEHR GELD – MEHR GESUNDHEIT?

In den Berechnungen der Experten ist der medizinisch-technische Fortschritt der wichtigste Kostentreiber. Strittig ist, ob mit den steigenden Kosten auch ein höherer Nutzen einhergeht. Die Frage ist zentral, denn wenn uns das Geld, das wir in Medikamente und bessere ärztliche Versorgung investieren, nicht gesünder macht, dann könnten wir uns den Aufwand auch sparen – und das Thema Kostenexplosion wäre endgültig vom Tisch.

Einen Hinweis darauf, dass mehr Ausgaben nicht zwangsläufig eine bessere Gesundheit garantieren, liefern die Vereinigten Staaten. Das US-amerikanische Gesundheitssystem ist das mit Abstand teuerste der Welt – und doch bewegt sich die Lebenserwartung der Bürger in den USA deutlich unter dem Niveau von anderen Industrienationen. Viel Geld macht also nicht automatisch gesünder.

Das gilt nur leider nicht generell. Denn dieselben statistischen Datensätze, die die Schlusslicht-Position der USA belegen, zeigen auch: In allen OECD-Ländern geht das Wuchern bei technischen und medizinischen Leistungen sehr wohl mit einer steigenden Lebenserwartung einher. Zwischen 1970 und 2003 ist in OECD-Ländern der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP um rund 75 Prozent gestiegen – parallel dazu hat sich die Lebenserwartung um sieben Jahre erhöht. Und der Zuwachs lässt sich ganz konkret an der immer besseren medizinischen Versorgung festmachen.

Um nur ein paar Beispiele zu nennen: 1969 wurde hierzulande die erste koronare Bypass-Operation durchgeführt – 2009 zählten wir 162417 derartige Herzoperationen in Deutschland. Das erste künstliche Hüftgelenk haben deutsche Ärzte 1956 implantiert – im Jahr 2009 wurde rund 160 000 Patienten ein neues Hüftgelenk eingesetzt. 1971 erfolgten die ersten Untersuchungen mit Computer-Tomografen, im Jahr 2009 ist die Zahl auf vier Millionen gestiegen. Auch bei den endoskopischen Untersuchungen ist der Fortschritt belegt:
1983 war hierzulande Premiere, vor drei Jahren wurden allein im stationären Bereich mehr als eine Million Gastroskopien, also Magenspiegelungen, durchgeführt.

Können wir uns all diese Hüftgelenke, Bypässe und Endoskopien wirklich sparen, ohne dass sich dadurch die gesundheitliche Versorgung verschlechtert?

4. GESTORBEN WIRD NUR EINMAL

Die Zahl der Jungen, die das Gesundheitssystem mit ihren Beiträgen finanzieren, sinkt, die Zahl der Älteren steigt. Und mehr Ältere brauchen mehr Versorgung. Nach jüngsten Berechnungen wird die Gruppe der über 67-Jährigen stark zunehmen. 2008 lebten in Deutschland 14,9 Millionen Menschen dieser Altersklasse, 2020 werden es 16,5 Millionen sein, 2030 soll ihre Zahl auf knapp 20 Millionen steigen.

So weit, so unstrittig. Uneinig waren die Beobachter bislang in der Frage, ob die Gesundheitskosten des Menschen über die gesamte Lebenszeit hinweg steigen, wir also für das System teurer werden, je länger wir leben, oder ob nur die Behandlung am Lebensende immer kostspieliger wird. Die rechnerisch willkommenere Variante ist natürlich die Teuerung vor allem zum Lebensende. Denn auch, wenn wir alle länger leben: Gestorben wird nur einmal – sodass sich auch bei einer insgesamt älter werdenden Bevölkerung der Anstieg der Behandlungskosten im Rahmen hielte.

Leider hat eine aktuelle Untersuchung auf Basis von 1,2 Millionen privat Versicherten belegt, dass die Rechnung nicht aufgeht. Das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherungen WIP hat nachgewiesen, dass der Ausgabenanstieg in allen Altersstufen erfolgt. Also keine Entwarnung.

Entsprechend düster sind die abgeleiteten Prognosen. Der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, auf den sich die AOK in ihrem Versorgungs-Report 2012 stützt, sagt für das Jahr 2050 einen Anstieg der Beitragssätze um 19 Prozent voraus, resultierend allein aus demografischen Faktoren. Folgt man seiner Argumentation, würde das bedeuten, dass wir diese 19 Prozent künftig zusätzlich zum Anstieg durch den medizinisch-technischen Fortschritt schultern müssen.

5. MEHR EFFIZIENZ?

Die Behauptung wird immer wieder gern aufgestellt: Eine effizientere Struktur des Gesundheitswesens wird die steigenden Kosten kompensieren können! Rationalisierung statt Rationierung also. Der amtierende Gesundheitsminister Daniel Bahr gehört zu den Verfechtern der These. Wir erinnern uns: „Die Finanzierung des Gesundheitswesens muss so stabil gestaltet werden, dass Debatten über eine Rationierung oder Priorisierung unnötig werden.“

Klingt prima, Effizienz ist ja auch ein schönes Wort, das in Industrie-Sektoren durchaus schon bewiesen hat, was es bewirken kann. Im Zusammenhang mit der Gesundheit erweist sich die Politikerfloskel allerdings als fadenscheinig. Bislang haben jedenfalls alle politischen Maßnahmen lediglich Einmaleffekte erzielt – kleine Knicke in der ansonsten stetig nach oben strebenden Verlaufskurve. Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für unsere europäischen Nachbarländer.

6. UMVERTEILUNG?

Umverteilung ist ebenfalls ein schönes Wort, das nicht nur den Vertretern der Partei Die Linke gut gefällt. Auch der Mediziner und Gesundheitsökonom Michael Schlander mag es. Dass der Gründer und Leiter des Instituts für Innovation und Evaluation im Gesundheitswesen, der an der Universität Heidelberg lehrt, damit hierzulande allerdings nur selten zitiert wird, hängt vermutlich mit der Radikalität seiner Ansichten zusammen.

Absolut betrachtet, wird Gesundheit immer teurer. Relativ betrachtet hingegen, meint Schlander, bleibt alles mehr oder weniger beim Alten. Denn die KostenexplosionsVerfechter haben die Rechnung ohne das Wirtschaftswachstum gemacht. Durch unser Wachstum steht für Gesundheit immer mehr Geld zur Verfügung, deshalb ist der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt in jüngster Vergangenheit auch kaum gestiegen – nämlich nur um zwei Prozentpunkte von 9,6 Prozent in 1992 auf 11,6 Prozent in 2009.

Dass die Krankenkassen dennoch stöhnen, liegt nach Ansicht des Experten nicht an den steigenden Kosten, sondern an einer „Erosion der Bemessungsgrundlage“: Das Wirtschaftswachstum ist in den Portemonnaies jener 90 Prozent der Bürger, die über die Krankenkasse versichert sind, nicht angekommen. Lohnzuwächse sind ausgeblieben. Deshalb haben die Krankenkassen weniger Einnahmen erzielt und waren gezwungen, die Beiträge zu erhöhen.

Schlanders Berechnungen zeigen, wie sich die Beitragssätze entwickelt hätten, hätten die Gehälter mit dem Wirtschaftswachstum Schritt gehalten. Das Resultat: Wir wären mit den Beiträgen heute auf dem Stand der Achtzigerjahre. Statt mit einer Kostenexplosion haben wir es seiner Ansicht nach deshalb lediglich mit „distributiven Fragen“ zu tun. Die Politik muss nur für eine entsprechende Umverteilung sorgen, dann macht sich das Wirtschaftswachstum auch im Budget der Krankenkassen bemerkbar. So könnten wir auf unserem heutigen Konsumniveau bleiben und alle zusätzlichen Kapazitäten, die uns das Wirtschaftswachstum bringt, in die Gesundheit investieren. Im Grunde machen wir das sowieso schon. Denn während in anderen Bereichen des Konsums mit zunehmendem Wohlstand einer Gesellschaft eine Sättigung eintritt, ist dies bei Gesundheitsleistungen nicht der Fall. Ökonomen nennen das „Einkommenselastizität“.

Professor Schlander hat ausgerechnet, dass wir uns auf diese Weise bis etwa 2050 weiterhangeln könnten. Vielleicht sogar noch länger. Denn wenn die steigenden Investitionen in die medizinische Betreuung außerdem noch dazu führen, dass sich auch die allgemeine Gesundheit verbessert, dann erhält das Wachstum so noch einen Extra-Schub. Das wiederum haben Ökonomen mithilfe des sogenannten GrangerTests herausgefunden. Der Test kann zwischen zwei Größen, die statistisch betrachtet miteinander korrelieren, jene Größe ermitteln, die als Ursache die andere bedingt. Das Ergebnis schien eindeutig: Mehr Gesundheit bewirkt ein größeres BIP-Wachstum, nicht umgekehrt.

Der Haken bei der Sache: Die „distributiven Fragen“ sind so leicht natürlich nicht zu klären. Sie erfordern übergreifende Maßnahmen zur Eindämmung der Lohn-Ungleichheit, eine stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften, vielleicht auch so etwas wie eine radikale Anhebung der Mehrwertsteuer oder eine Bürgerversicherung, in der die privaten und die gesetzlichen Krankenversicherungen zusammengeführt werden. All dies ist im Prinzip möglich – politisch allerdings schwer durchsetzbar und angesichts weit in die Zukunft reichender Versorgungsansprüche vor allem der Beamtenschaft ganz sicher nicht kurzfristig realisierbar.

7. SPAREN?

Halten wir noch einmal kurz fest: Die Kosten im Gesundheitswesen werden steigen. Wir können das System durch höhere Beiträge finanzieren – teuer. Wir können effizienter werden – schwierig. Wir können umverteilen – langwierig. Zudem politisch nicht gewollt, denn so ein Vorhaben kostet Wählerstimmen. Bleibt als eine weitere Option: sparen. Nur wo?

An welcher Stelle künftig der Hebel angesetzt werden muss, hängt nicht zuletzt davon ab, wie genau sich der medizinische Fortschritt auf die Kostenentwicklung auswirken wird. Heute ist es Konsens, dass bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne Rücksicht auf Kosten behandelt wird. „Lebensschutz“ hat höchste Priorität. So steht es in der Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Thema „Priorisierung medizinischer Leistungen“ von 2007.

Und so bestimmt es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem „Nikolausbeschluss“ vom 6. Dezember 2005: In Fällen lebensbedrohlicher Erkrankungen besteht eine Leistungspflicht der Krankenkassen selbst dann, wenn der medizinische Nutzen der gewünschten Behandlung nicht nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse nachgewiesen ist.

Ob wir uns solche Prinzipien in Zukunft leisten können, hängt auch von der Entwicklung des Marktes für Arzneimittel und Gesundheitstechnik ab. Nur wenn exorbitant teure Behandlungen von Einzelfällen nicht überproportional zunehmen, wird es auch künftig möglich sein, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen nicht auf die Kosten zu schauen.

Untersuchungen für die USA zeigen, dass ein Großteil der Zusatzkosten nicht durch einige wenige „Superstars“ an Medikamenten und Behandlungsmethoden verursacht wird, sondern durch die Ausweitung vorhandener Therapien auf eine größere Zahl von Patienten. Das Urteil der Experten in der Sache ist dennoch gespalten.

Eine Untersuchung des (industrienahen) IGES-Instituts geht der Kostenentwicklung bei innovativen Spezialpräparaten am Beispiel der Krebsmedikamente nach. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Umsatzentwicklung in diesem gemeinhin als besonders kostenintensiv erachteten Segment in Wirklichkeit nur unwesentlich höher liegt als in anderen Bereichen. Das IGES prognostizierte eine Steigerungsrate von jährlich 4,8 Prozent für den Zeitraum zwischen 2009 bis 2013.

Nun ist eben diese Studie von anderen Experten wie dem (kassennahen) Leiter des Zentrums für Sozialpolitik der Universität Bremen, Gerd Glaeske, stark angegriffen worden. Er kritisierte den zu eng abgesteckten Untersuchungszeitraum (geht man weiter zurück als 2009, lassen sich doch starke Steigerungen erkennen) sowie, dass der Einsatz von Medikamenten im Krankenhaus nicht berücksichtigt wurde. Im Gegensatz zum IGES sieht Glaeske insbesondere im Markt für innovative Krebsmedikamente ein wachsendes und ernstes Problem für die Krankenkassen. Wenn Glaeske recht hat, dann werden uns die steigenden Gesundheitskosten in Zukunft nötigen, mit dem zentralen Grundsatz zu brechen, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ohne Rücksicht auf Kosten und nachgewiesenen Nutzen zu behandeln.

Es gibt aber noch weitere Baustellen. Nach dem am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen „Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes“ (AMNOG) durchlaufen neue Medikamente, die aufgrund der Seltenheit der mit ihnen behandelten Krankheiten „Orphan drugs“ (Waisenkinder) genannt werden, nur oberhalb einer Umsatzgrenze von 50 Millionen Euro eine externe Zusatznutzenprüfung durch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Unterhalb dieser Umsatzgrenze gilt für neue Medikamente die Nutzenprüfung der Europäischen Kommission, die ohnehin bereits davor stattfand – und der Hersteller verhandelt seinen Preis (unabhängig vom IQWiG) ausschließlich mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung.

Unter den 30 teuersten Arzneimitteln in Deutschland befinden sich derzeit 18 Produkte mit Orphan-drug-Status. Umstritten ist dabei vielfach, ob die Medikamente dem Patienten im Vergleich zu den bisherigen Behandlungsoptionen einen zusätzlichen Nutzen bringen.

Das Nierenkrebsmedikament Afinitor (Kosten pro Packung mit 30 Tabletten: mehr als 4700 Euro) geriet vor einiger Zeit in die Schlagzeilen, weil sich zeigte, dass das Fortschreiten der Erkrankung mithilfe von Afinitor lediglich um drei Monate hinausgeschoben werden konnte – obwohl das Medikament als neuer Anti-Krebs-Bestseller gepriesen wurde. Hinausgeschobenes Krebswachstum ist dabei nicht notwendig gleichbedeutend mit einer Verlängerung des Lebens. In manchen Fällen kämpfen die Medikamente zwar Krebszellen für einige Zeit nieder – dafür wachsen andere anschließend umso schneller nach. Der vorübergehenden Verbesserung folgt eine umso rasantere Verschlechterung; womöglich stirbt der Patient sogar früher.

Vieles deutet darauf hin, dass die Krankenkassen die Kosten für Orphan drugs in Zukunft nicht mehr ohne Preisverhandlungen übernehmen werden. Für diesen Fall gibt es folgende Szenarien:

  1. Die Verhandlungen mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung könnten die Hersteller nötigen, die Preise für die teuren Spezialpräparate zu senken.

  2. Die Pharmaindustrie könnte in Zukunft vermehrt darauf verzichten, entwicklungsintensive und in der Anwendung kostspielige Innovationen auf den Markt zu bringen.
  3. Der Pharmaindustrie könnte es nicht gelingen, Innovationen auf den Markt zu bringen, die einen zusätzlichen Nutzen im Vergleich zur Standardtherapie haben.

Was aber, wenn die Industrie weiterhin innovative Medikamente zu hohen Preisen auf den Markt bringt, deren Nutzen sie klar belegen kann? Die Kosten könnten für die Versichertengemeinschaft den Rahmen des Tragbaren sprengen. Mit diesem Szenario geht es ans Eingemachte: Die geschmähte Rationierung, also das Vorenthalten bestimmter Leistungen, wäre die Folge. Wie aber könnte so etwas aussehen?

8. RATIONIERUNG?

Bislang sieht der Gesetzgeber vor, dass Medikamente, die neu auf den Markt kommen, vom IQWiG auf ihren Zusatznutzen und gegebenenfalls auch auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis geprüft werden. Dabei werden jedoch ausschließlich Therapien und Medikamente verglichen, die demselben Zweck dienen. Mit dieser Beschränkung will man die moralische Zwickmühle vermeiden, zwischen der Relevanz zum Beispiel einer Krebsund einer Schlaganfall-Therapie unterscheiden zu müssen.

Gut möglich, dass man in Zukunft nicht um solche Vergleiche herumkommt.

Dies zeigt ein Fall, der Ende 2010 das Schweizer Bundesgericht beschäftigte. Dabei ging es um die Frage, ob eine Krankenversicherung dazu verpflichtet ist, die Kosten einer Behandlung mit Myozyme zu übernehmen – einem der weltweit teuersten Medikamente überhaupt. Die Therapiekosten werden pro Patient auf mehr als 400 000 Euro im Jahr beziffert. In dem zur Diskussion stehenden Fall galt die Wirksamkeit zwar als erwiesen, aber als sehr gering. Myozyme sollte eingesetzt werden zur Therapie im Spätstadium der seltenen Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe. Die Krankheit führt zu einer Muskelschwäche besonders der Atemund Skelettmuskulatur. Von der Behandlung mit dem Medikament versprachen sich die Ärzte eine Verbesserung der Lungenfunktion und eine Vergrößerung des Radius, innerhalb dessen sich die Patientin, an der sich der Streitfall entzündete, fußläufig bewegen kann. Konkret ging es um einen zu erwartenden Vorteil von 28 zusätzlichen Metern.

Das Gericht entschied gegen eine Erstattungspflicht. Dabei berief es sich auf den Grundsatz der Gleichheit. Weil in der Schweiz viele Menschen mit ähnlich limitierter Gehstrecke wie die betroffene Patientin leben, so das Urteil, könnten unmöglich jedem von ihnen 400 000 Euro pro Jahr zur Verfügung gestellt werden, auch wenn sie hinsichtlich ihrer Lebensqualität vermutlich profitieren würden. So leiden zum Beispiel 2,8 Prozent der Schweizer an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung. Würde jeder von ihnen auf vergleichbare Weise behandelt, entstünden dadurch Kosten in Höhe von 74 Milliarden Euro. Für die Finanzierung müssten die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung pro Mitglied um monatlich 900 Euro steigen.

Obwohl das Urteil von vielen Experten begrüßt wurde, darunter der Baseler Gesundheitsökonom Stefan Felder, regten sich auch Zweifel. Müsste man nach derselben Logik nicht auch Organtransplantationen verbieten? Schließlich stehen dafür nicht genug Organe zur Verfügung und viele Patienten sterben, weil es zu wenige Spender gibt. Das Gleichheitsprinzip kommt hier also auch nicht zur Anwendung. Trotzdem wird dem Einzelnen die benötigte Organtransplantation nicht vorenthalten.

Andere Kritiker bemängelten nicht das Gleichheitsprinzip, sie wiesen stattdessen auf die Schwierigkeit hin, eine angemessene Vergleichsbasis zu finden. Muss in Betracht gezogen werden, dass die Behandlung der Patientin womöglich nicht nur mehr Bewegungsfreiheit ermöglicht, sondern auch ihr Leben verlängert? Kommt es nicht auch darauf an, wie gut oder schlecht es einem Patienten vor der Behandlung geht? Sollte denen, denen es besonders schlecht geht, bevorzugt geholfen werden? Oder muss das Geld vielmehr dort investiert werden, wo der größte Zuwachs an Lebensqualität zu erwarten ist?

9. WAS IST LEBENSQUALITÄT?

Sind ein drei Monate längeres Leben ein Zuwachs von Lebensqualität? Sind es weniger Schmerzen? Geringere Nebenwirkungen? Ein Bewegungsradius von einigen Metern mehr? Wer will das definieren – und wie?

Gesundheitsökonomen nehmen das Qaly-Verfahren zu Hilfe, das schon Ende der Fünfzigerjahre entwickelt wurde. Mit ihm bestimmen sie das Kosten-Nutzen-Verhältnis einer Behandlung. Qaly steht für „quality-adjusted life year“ und ist nicht unkompliziert. Um herauszufinden, ob eine neue Therapie sinnvoll und nützlich für den Patienten ist, wird mithilfe von Studien zunächst ermittelt, um wie viele Jahre sich seine Lebenserwartung im Vergleich zur bisherigen Therapie verlängert. Gewonnene Lebensjahre reichen für eine Beurteilung aber nicht aus – wichtig ist, mit welcher Lebensqualität sie verbunden sind. Über Fragebögen wird deshalb erfasst, wie der Patient die Lebensqualität der gewonnenen Jahre beurteilt, gemessen auf einer Skala zwischen null und eins. Eins entspricht vollkommener Gesundheit – null dem Tod.

Im nächsten Schritt werden für beide Behandlungsalternativen die gewonnenen Lebensjahre mit der Lebensqualität multipliziert. Dabei hat beispielsweise ein halbes gewonnenes Lebensjahr bei vollständiger Gesundheit denselben Wert wie ein ganzes gewonnenes Jahr mit eingeschränkter Lebensqualität. In beiden Fällen führt die Rechnung zu 0,5 Qalys. Der Zugewinn an Qalys macht die unterschiedlichen Behandlungsalternativen messbar.

So weit das Grundprinzip des Verfahrens. Die Probleme, die sich aus einer solchen Bewertung von Lebensqualität ergeben, sind dieselben wie bei Myozyme: Sind Beurteilungen von Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen überhaupt miteinander vergleichbar? Und: Welche sind die relevanten Eigenschaften, aufgrund derer ein Fall dieser oder jener Gruppe zugeordnet werden soll? Wäre es nicht fair, die Patienten zu bevorzugen, denen es von vornherein schlechter geht?

Trotz der grundsätzlichen Probleme wird das Qaly-Verfahren mittlerweile von Gesundheitsökonomen vor allem in den angelsächsischen Ländern verwendet. In Deutschland hat sich die Regierung dagegen entschieden, eine KostenNutzen-Bewertung auf „qualitätsbereinigte Lebensjahre“ durch das IQWiG vornehmen zu lassen.

Doch es gibt auch Alternativen zu Qaly. Eine neue vielversprechende Methode, die systematische Verzerrungen vermeiden will, kommt aus der empirischen Ethik. Anstelle von Entscheidungsprinzipien wird hierbei – und zwar über alle Einzelfälle hinweg – die Meinung aus der Bevölkerung eingeholt: Wer soll welche Hilfe erhalten? Solche Diskussionen werden uns blühen, wenn das Gesundheitssystem teure Medikamente und ihre Anwendung auf breiterer Basis nicht mehr finanzieren kann. Und was kommt dann? Etwa die Zwei-Klassen Medizin? Haben wir die nicht längst?

10. VORSORGE

Kann schon sein, dass beim Einsatz innovativer Medikamente die Schere zwischen „Gesetzlicher“ und „Privater“ bereits heute auseinandergeht. Der Bochumer Sozialrechtler Stefan Huster ist sich trotzdem sicher: „Eine Zwei-KlassenMedizin sollte es nicht geben.“ Huster ist Mitglied der Forschergruppe „FOR 655“, die sich mit der Priorisierung in der Medizin befasst, und er spielt auf einen ganz anderen, deutlich größeren Hebel zur Vermeidung einer Kostenexplosion an, wenn er sagt: „Gesundheit wird nicht nur beim Arzt entschieden.“

Die Basis für Gesundheit und Krankheit wird in den meisten Fällen viel früher gelegt. Soziodemografische Faktoren wie das Einkommen oder das Bildungsniveau der Eltern wiegen schwerer als das Level medizinischer Versorgung, ja selbst schwerer als Übergewicht, Rauchen oder chronischer Schlafmangel.

Ob Jugendliche rauchen, wie oft und in welchen Mengen sie Alkohol trinken oder Haschisch konsumieren, hängt vor allem vom Schultyp ab. Das Risiko eines schädlichen Mundgesundheitsverhaltens korreliert mit dem Migrationshintergrund. Generell gilt zudem: Menschen, die an der Armutsgrenze leben, leiden vermehrt an Angstzuständen und Depressionen, an Harninkontinenz, Arthrose, Arthritis und Gelenkrheumatismus sowie an Migräne und häufigen Kopfschmerzen. Bei Frauen steigt das Vorkommen von Diabetes und Bluthochdruck mit sinkendem Einkommen. Männer in der Armutsrisikogruppe haben ein 1,5-mal so hohes Adipositas-Risiko wie Männer der höchsten Einkommensgruppe, bei Frauen ist das Risiko sogar doppelt so hoch.

Keine Frage: Wir leben in einer Mehrklassengesellschaft. Nur ist gerade die Arztpraxis nicht der Ort, wo sie sich am deutlichsten zeigt. Innovative Behandlungsmethoden und wirksamere Medikamente werden – egal wie teuer – die aufgeführten Missstände kaum beheben können. Investitionen in Prävention und Gesundheitserziehung hingegen könnten dazu führen, dass die Kosten künftig nicht mehr in dem Tempo steigen werden wie bisher. Auch dies wäre ein mögliches Szenario – und ein Effizienzgewinn bisher ungekannten Ausmaßes. Damit hätte sich die Kostenexplosion auf einfache Weise erledigt.

Allerdings müsste dafür in Generationen und nicht in Legislaturperioden gedacht werden. Mit einem Bundesgesundheitsministerium, das sich jeweils nur um das kommende Jahr kümmert, ist das nicht zu machen.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.