Ihr Kinderlein kommet

Sanya Böhles erinnert sich noch gut an die Zeit, in der sie mehr Geld für die Betreuung ihrer Kinder ausgab, als sie verdiente. Sechs Jahre ist das jetzt her. Die Aussicht auf einen Krippenplatz in den städtischen Kitas in Frankfurt war gleich null. Also brachte sie ihre Tochter Isabel in den amerikanischen Kindergarten, und für die kleine Lucy, damals ein Jahr alt, heuerte sie eine Nanny an. Beides zusammen fraß ihr ganzes Gehalt auf, aber was wollte sie machen? Es war der einzig mögliche Weg zurück in die Arbeit.





Was tun, wenn die qualifizierten jungen Leute aus dem Ausland nur kommen, wenn sie auch ihren Nachwuchs versorgt sehen? Ganz einfach:
 Betreuungsplätze schaffen. So hat es die Europäische Zentralbank (EZB) gemacht. Inzwischen unterhält sie in Frankfurt schon drei Betriebskindergärten.

Die Deutsch-Engländerin war vier Jahre zuvor mit ihrem Mann, einem Investmentbanker, von der Themse an den Main gezogen. Sie selbst hatte bis dahin als Management Consultant für die Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte gearbeitet. Sie entsprach dem Ideal der Karrierefrau, der weitere Weg nach oben war vorbestimmt. Bis die Kinder kamen. Schon der Umzug hätte einen Wiedereinstieg beim früheren Arbeitgeber erschwert, die Familiengründung machte ihn endgültg unmöglich. Sanya Böhles ist mit ihrer Entscheidung im Reinen. Auf der Karriereleiter habe sie zehn Schritte zurück gemacht, aber sie ist nicht draußen, sondern drin, und es sei nun mal so: „In einer Position, wie ich sie hatte, kann man nicht 60 oder 70 Prozent arbeiten. Da geht es immer um 100 Prozent plus.“

Der 1. Dezember 2004 brachte die Wende. An diesem Tag wurde Böhles’ befristete 70-Prozent-Teilzeitstelle bei der EZB in einen unbefristeten Job als Management Assistant umgewandelt. Der neue Arbeitsvertrag sorgte für ungeheure Erleichterung, aber nicht wegen der dauerhaften Position. Viel wichtiger: Für Mitglieder der Stammbelegschaft unterhält ihr Arbeitgeber eigene Kindertagesstätten. Was trivial klingt, ist hierzulande noch immer eine Seltenheit und mit Schlagworten wie Familienfreundlichkeit oder Vereinbarkeit von Kind und Karriere längst zur Worthülse verkommen. Für Frauen wie Böhles, die arbeiten und Mutter sein wollen, ist es ein Segen. Und für die EZB weit mehr als wirtschaftliches Kalkül. Es klingt natürlich maßlos übertrieben, aber es ist auch nicht ganz falsch, wenn man sagt: Die Kitas sicherten der Europäischen Zentralbank ihr Überleben.

Als das Europäische Währungsinstitut, der Vorläufer der heutigen EZB, 1994 gegründet wurde, zählte Deutschland im EU-Vergleich zu den Schlusslichtern in Sachen Kinderbetreuung im Krippenbereich, woran sich – nebenbei gesagt – bis heute nur wenig geändert hat. Damals und in den Jahren danach kamen Hunderte neuer Zentralbanker aus allen Mitgliedstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion nach Frankfurt. Auch Frauen mit Karriereplänen und Kinderwunsch waren dabei. Wer schon Nachwuchs im Kindergartenalter mitbrachte, erlebte die Mainmetropole als Betreuungs-Diaspora. „Manche Mitarbeiter aus dem Ausland waren an weit bessere Bedingungen in der Kinderbetreuung gewöhnt“, erinnert sich Personalreferentin Barbara Bernhardt. „Sie signalisierten uns schnell, dass es hier ein Problem gab.“

In Finnland hatten Eltern schon damals Anspruch auf einen Krippen- oder Tagespflegeplatz, in den Niederlanden mussten sich selbst Frauen, die ihren Säugling in eine private Ganztagskrippe gaben, keine vorwurfsvollen Blicke gefallen lassen. Sogar im kreuzkatholischen Irland, zumindest in den größeren Städten, war es für Frauen inzwischen völlig normal, ein halbes Jahr nach der Geburt des Kindes wieder im Büro zu erscheinen und den Nachwuchs derweil betreuen zu lassen. Ganz abgesehen vom Rabenmütter-Syndrom, jenem zweifelhaften Alleinstellungsmerkmal der Deutschen, gibt es hierzulande zwar seit 1996 einen Rechtsanspruch auf einen immerhin halbtägigen Kindergartenplatz vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zur Einschulung. Angesichts der leeren Kassen der Kommunen existiert er aber bis heute nur auf dem Papier. Ab 2013 endlich soll jedes Kind unter drei Jahren in Deutschland einen Kita-Platz haben. 750 000 neue Krippenplätze sind dafür nötig – ein ehrgeiziges Ziel.

Die Neu-EZBler jedenfalls mussten sich notgedrungen mit handgestrickten Lösungen über die Runden helfen. Sie engagierten Tagesmütter, Nannys oder Au-pair-Mädchen, wer konnte, ließ die Oma von zu Hause einfliegen. Gerade in der Aufbauzeit waren Überstunden an der Tagesordnung, sagt EZB-Personalreferentin Bernhardt, „und wer da an die Öffnungszeiten einer städtischen Kita gebunden ist, die vielleicht um ein Uhr mittags die Tore schließt, arbeitet ständig unter erhöhtem Stress.“

Die Folgen dieses Problems waren jahrelang spürbar. Noch 2004 zeigte die Führungskräfte-Struktur der Zentralbank eine deutliche Unwucht. 11,8 Prozent der bei der EZB beschäftigten Männer, aber nur 1,9 Prozent der Frauen hatten Managementpositionen inne. Gertrude Tumpel-Gugerell, damals wie heute einzige Frau im sechsköpfigen Direktorium der Bank und engagierte Verfechterin von Chancengleichheit am Arbeitsplatz, kam seinerzeit zu dem ernüchternden Resultat: „Verglichen mit anderen Institutionen hat die EZB noch einen relativ geringen Anteil von Frauen in Management- und Expertenfunktionen.“

Allerdings hatte die Bank zwischenzeitlich schon auf den Betreuungsnotstand reagiert – sie musste. In einer betriebs- internen Umfrage hatte die Personalabteilung im Jahr 2000 das Interesse an einer betrieblichen Kinderbetreuung ausgelotet. Die Resonanz war so groß, dass schon wenige Monate später die erste EZB-Kita mit 30 Plätzen eröffnet wurde. Den laufenden Betrieb und das pädagogische Konzept überließ die Bank dem Trägerverein „Gesellschaft zur Förderung betrieblicher und betriebsnaher Kindereinrichtungen e.V.“, der damals bereits mehrere ähnliche Einrichtungen in Frankfurt unterhielt und bis heute ähnliche Kooperationsabkommen hält, etwa mit der Deutschen Bank, der Frankfurter Goethe- Universität, dem Hessischen Rundfunk oder der GTZ.

GUTE BETREUUNG – MEHR KINDER

Die Information über die Pionier-Kita war kaum gedruckt, da waren auch schon sämtliche Plätze belegt. Als bald darauf eine Villa im Westend frei wurde, die heutige „Villa Dante“, zog die Tagesstätte dorthin um und verdoppelte ihre Kapazität auf 72 Plätze. Auch die reichten bald nicht mehr, die Personalabteilung wurde von Anmeldungen überschwemmt, es kamen ja immer neue Mitarbeiter nach Frankfurt. Einige brachten Kinder mit, bei anderen kündigte sich Nachwuchs an. Also wurde ein Jahr nach der ersten Einrichtung die zweite EZB-Kita eingeweiht – im Haus gleich hinter der Villa Dante. Inzwischen ist eine dritte hinzugekommen, zusammen bieten sie Platz für 234 Kinder. Noch immer zu wenig. Erst kürzlich hat die Bank einen Vertrag mit einem weiteren Träger über 30 zusätzliche Plätze für EZB-Kinder abgeschlossen.

Der Bedarf war anfangs kaum prognostizierbar. Zwar war das Gros der neuen Mitarbeiterinnen seinerzeit Mitte 20 bis Mitte 30, statistisch gesehen also im gebärfreudigsten Alter. Aber wie schnell entscheiden sich junge Paare für ein Kind, wenn sie in eine völlig neue Umgebung kommen oder sich dort erst finden? Niemand konnte das wissen. Heute steht die Zahl fest: In Frankfurt gibt es fast 1400 „EZB-Kinder“. Die meisten von ihnen haben irgendwann einmal in einer der Betriebs-Kitas „Der Herbst, der Herbst, der Herbst ist da“ gesungen. Nach Ansicht von Barbara Bernhardt bestätigt sich hier das Say’sche Gesetz, nach dem jedes Angebot sich seine Nachfrage selbst schafft: „Ein gutes Betreuungsangebot ist möglicherweise eine Voraussetzung dafür, dass Paare sich für weitere Kinder entscheiden.“

Zumindest auf die Böhles trifft das zu. „Ohne die Erfahrung, wie gut die Kinder in der Villa Dante aufgehoben sind, wäre uns die Entscheidung für ein drittes Kind sicher schwerer gefallen“, sagt Sanya Böhles. Die kleine Cecilia ist jetzt zwei Jahre alt und ein fröhliches Kindergartenkind. Ihre älteren Schwestern Isabel und Lucy besuchen – wie fast alle EZB- Kinder – mittlerweile die Europäische Schule in Frankfurt, eine Ganztagsschule, an deren Gründung die Bank maßgeblich beteiligt war, und die Vorschulkinder schon ab vier Jahren aufnimmt.

„Ohne die Villa Dante wäre uns die Entscheidung für ein drittes Kind sicher schwerer gefallen.“ Sanya Böhles (mit Töchterchen Cecilia)

Auch die gute Idee hat Schule gemacht. In Frankfurt und andernorts in Deutschland, wo Kommunen und freie Träger allein die Betreuungsengpässe nicht überbrücken konnten, haben inzwischen eine Reihe von Unternehmen eigene Betriebskindergärten eingerichtet, darunter die Commerzbank, Vodafone, Daimler, Bosch, Lidl, Beiersdorf, Springer, Airbus oder die Allianz. Seit Anfang 2008 fördert auch das Bundesfamilienministerium die betriebliche Kinderbetreuung. Aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds gewährt es eine zwei- jährige Anschubfinanzierung, die bis zu 50 Prozent der zu- wendungsfähigen Betriebskosten decken kann.

Anders als die meisten Kindergärten in städtischer, kirchlicher oder freier Trägerschaft bieten die betrieblichen Einrichtungen in der Regel flexible Betreuungs- und lange Öffnungszeiten, die an die überstundenträchtigen Arbeitszeiten der Beschäftigten angepasst sind. Die EZB-Kitas sind von 7 bis 20 Uhr offen – ein Traum für jede berufstätige Mutter. „Die ersten Kinder kommen um halb acht“, erzählt Carmen Nothnagel, stellvertretende Leiterin der Villa Dante, „die letzten werden in der Regel um 19 Uhr abgeholt.“ Wenn sich ein Meeting in die Länge zieht, kann es auch schon mal 20 Uhr werden. „Dann ist das Kind die letzte Stunde eben mit einer Betreuerin allein hier.“ Nicht wenige Kinder kommen jeden Tag früh und sind abends bei den letzten, die abgeholt werden, oft von Au-pairs oder Babysittern. Die Villa Dante ist ihr zweites Zuhause – und der Arbeitgeber von Mama oder Papa sammelt Punkte. Das Urteil der Eltern bei der jüngsten Mitarbeiterbefragung vor zwei Jahren war eindeutig: Für das Statement „Die Öffnungszeiten erfüllen meine Bedürfnisse in vollem Maße“ gab es eine Zustimmung von 96,2 Prozent.

Die EZB-Kitas orientieren sich aber nicht nur bei den Öffnungszeiten an der Praxis der fortschrittlichen EU-Länder, aus denen sie ihre Belegschaft rekrutieren. Auch bei der Altersfrage der Kleinen stellen sie das Gros der öffentlichen oder kirchlichen Konkurrenz weit in den Schatten. In die Villa Dante werden Säuglinge ab drei Monaten aufgenommen – eine Option, die besonders von Frauen im Management gern genutzt wird. Es gebe eine Reihe von Führungskräften, sagt Barbara Bernhardt, die schon drei oder vier Monate nach der Geburt wieder am Schreibtisch sitzen.

Philippine Cour-Thimann, Principal Economist in der Abteilung Geldpolitische Lage der EZB, hat die Turbo-Rückkehr in den Job gleich vierfach praktiziert. Seit 2001 hat sie zwei Mädchen und zwei Jungen bekommen, heute neun, sieben, fünf und drei Jahre alt, und jedes Mal war sie vier Monate nach der Geburt wieder im Büro. Sechs Jahre lang machte sie beim Arbeitspensum keine Abstriche. Erst nach der Geburt des vierten Kindes, das wie seine drei älteren Geschwister vor ihm tagsüber in der Villa Dante war, reduzierte sie ihre Arbeitszeit auf 90 Prozent.

Die heute 39-jährige Ökonomin war 1999 aus Paris zur EZB gekommen und hatte dort ihren Mann kennengelernt. Als sie das erste Mal schwanger war, wurde sie manchmal von deutschen Frauen angesprochen: Jetzt bleibst du doch bestimmt erst mal drei Jahre zu Hause, nicht wahr? „So etwas hätte ich in Frankreich niemals gehört“, sagt sie, „da wird eine Frau höchstens gefragt, ob sie nach dem gesetzlichen Mutterschaftsurlaub gleich wieder arbeitet oder etwas später.“ Sie weiß, dass manche sich das nur schwer vorstellen können – vier Kinder und dazu einen aufreibenden Job. „Wissen Sie, was ich mir schwer vorstellen kann?“, fragt sie und schiebt die Antwort gleich hinterher: „Vier Kinder und keine Arbeit als Ausgleich. Das Schöne ist, beides zu verbinden, um Ausgeglichenheit und Freude an die Kinder weiterzugeben.“

6 MONATE ELTERNZEIT SIND ÜBLICH

Aber auch das muss gesagt sein: Für EZB-Managerinnen, die nach der Geburt eines Kindes keinen Karriereknick riskieren wollen, ist die Kinderkrippe gewissermaßen alternativlos. „Als Führungskraft drei Jahre Elternzeit nehmen, das wäre in vielen Fällen schon sehr problematisch“, gibt Personalreferentin Bernhardt zu. Zum Glück stellt sich das Problem nicht: Bisher ist noch keine Frau so lange zu Hause geblieben. „Auf höherer Ebene ist ein halbes Jahr üblich.“

Nicht wenige würden gern noch früher zurück in den Job, nach drei oder vier Monaten anstatt nach sechs. Keine Chance, in den drei Kitas gibt es einfach nicht genug freie Plätze. Zurzeit stehen auf der Warteliste rund 80 Namen. „Aber die warten nicht alle“, relativiert Carmen Nothnagel von der Villa Dante. „Es sind Frauen dabei, die gerade schwanger geworden sind und sich schon für einen Platz in 2012 beworben haben, damit sie dann bessere Chancen haben.“

Sanya Böhles ist eine Mitarbeiterin der EZB. Seit sie Mutter ist, arbeitet die einstige Managerin den Managern zu.
Gertrude Tumpel-Gugerell hat noch viel vor. Die einzige Direktorin im sechsköpfigen Leitungsgremium der EZB will den Frauenanteil von 16 Prozent in Führungspositionen der Bank deutlich erhöhen.
Sieht verwaist aus, aber der Schein trügt: In den Zimmern der Villa Dante toben und schlafen zwischen 7 und 20 Uhr jeden Tag 72 „EZB-Kinder“. Und die Warteliste für kleine Neuankömmlinge ist lang.

Über das Ranking auf der Liste entscheiden harte, nachprüfbare Kriterien. Alleinerziehende haben absolute Priorität. Danach folgen die Fälle, in denen beide Eltern Vollzeit arbeiten – auch wenn nur ein Elternteil bei der EZB beschäftigt ist. Arbeitet ein Partner Teilzeit, gibt es Abzüge bei der Dringlichkeit. Kaum Aussichten auf einen Kita-Platz haben jene Mitarbeiter, deren Partner zu Hause ist und nicht arbeitet.

Unverzichtbarkeit gehört übrigens nicht zu den Kriterien, auch wenn das so mancher Chef gern hätte. Natürlich habe es schon mal entsprechende Wünsche von Vorgesetzten gegeben, berichtet Bernhardt, „aber das konnten wir auf andere Weise klären, etwa indem wir für eine Übergangszeit eine Tagesmutter oder eine Nanny vermittelt haben.“

Auch Fiona van Echelpoel musste einige Monate mit einer Nanny überbrücken, bevor sie für ihr zweites Kind einen Krippenplatz bekam. Die Bankerin aus Irland, die vor 14 Jahren zu den Frankfurter Euro-Pionieren gehörte, nahm das in Kauf; weder eine vorübergehende Teilzeitbeschäftigung noch eine längere Auszeit kamen für sie infrage. Weil ihr Ehemann seit Anfang des Jahres in Dublin arbeitet, rückte sie auf der Warteliste für ihre im November 2009 geborene Tochter Emily etliche Plätze nach oben. Allerdings nicht weit genug – wegen des großen Andrangs, der zu der Zeit gerade herrschte, bekam sie nicht sofort einen Krippenplatz. Mithilfe ihres Arbeitgebers löste sie das Betreuungsproblem.

Was der sich sein Engagement in die Kinderbetreuung kosten lässt, verrät er nicht. Die Eltern zahlen die offiziellen Beitragssätze der Stadt Frankfurt, also beispielsweise 198 Euro pro Monat für den Ganztagsplatz eines Kindes unter drei und 158 Euro für einen Halbtagsplatz. Die EZB trägt 60 Prozent der Betriebsausgaben der Kitas und natürlich die Kosten für Umbau, Renovierung und Ersteinrichtung der Häuser. Einige Hunderttausend Euro kommen da sicher zusammen. Aber sicher ist auch: Die Investition rechnet sich.

Frauen, die früher aus der Elternzeit zurückkehren, sind zufriedener, motivierter und weniger stressbelastet als lang pausierende Kolleginnen, außerdem fehlen sie seltener, das lehrt die Erfahrung. Zudem spart der Arbeitgeber Aufwand und Kosten für das Anheuern befristeter Ersatz-Arbeitskräfte, die aufwendige Neubesetzung von Stellen oder die mühsame Wiedereingliederung nach mehrjähriger Auszeit. Die Prognos AG hat den betriebswirtschaftlichen Nutzen familienfreundlicher Maßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen schon 2003 mit einer Rendite von 25 Prozent beziffert. Die Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände hat die Gegenrechnung aufgemacht und kommt bei einem nicht familien- freundlichen fiktiven Modell-Unternehmen mit nur 100 Mitarbeitern auf Kosten von 445000 Euro pro Jahr, weil die Belegschaft aufgrund von Stress (Streit mit der Ehefrau, verschobene Termine, Abholung des Kindes aus der Kita „auf den letzten Drücker“) dauerhaft nur 90 Prozent ihres Leistungspotenzials ausschöpft. Die Europäische Zentralbank beschäftigt in Frankfurt rund 1500 Mitarbeiter.

Ein Zuschussgeschäft? Bestimmt nicht, und dabei ist das stärkste Argument für das Engagement in die Vereinbarkeit von Kind und Karriere noch gar nicht in die Rechnung eingeflossen: In Zeiten des Fachkräftemangels ist Familienfreundlichkeit ein schwerwiegender Wettbewerbsvorteil im Kampf um die besten Köpfe. Für 90 Prozent aller Beschäftigten zwischen 25 und 39 Jahren mit Kindern ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mindestens so wichtig wie das Gehalt, ergab eine aktuelle Befragung der GFK im Auftrag des Bundesfamilienministeriums. Mehr als drei Viertel würden für mehr Familienfreundlichkeit die Stelle wechseln, mehr als ein Viertel der befragten Eltern hat dies bereits getan. Kann es überzeugendere Gründe für ein Investment in Kinderbetreuungsangebote geben? Für die EZB jedenfalls nicht, die Frage danach werde in Einstellungsgesprächen inzwischen viel häufiger gestellt als früher, hat Barbara Bernhardt fest- gestellt. „Manche sagen auch knallhart: ‚Ich kann nur kommen, wenn ich einen Platz in der Betriebs-Kita kriege.‘“

Gemessen an der erhofften karrierefördernden Wirkung nahezu idealer Betreuungsmöglichkeiten finden sich bei der Bank allerdings noch immer ernüchternd wenige Frauen im Management. In diesem Punkt hat sich die europäische Institution offenbar dem niedrigen deutschen Normalniveau angepasst. Zwar zählt die EZB-Belegschaft inzwischen schon 40 Prozent weibliche Mitarbeiter. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen in der Bank ist seit 2004 aber lediglich von 14 auf 16 Prozent gestiegen. Eine offensive sieht anders aus, das weiß auch Direktorin Gertrude Tumpel-Gugerell. „Es existiert zwar ein größeres Problembewusstsein als noch vor zehn Jahren, aber es gibt noch einiges zu tun. Von selbst ändert sich nichts, man muss daran arbeiten.“

Da bleibt noch ein ordentliches Betätigungsfeld für die Talentförderer im Unternehmen. Ein klein wenig Zukunftsarbeit ist allerdings schon erledigt – in diesem Fall von den Männern der EZB. Immerhin 32 von ihnen haben bis Ende Oktober dieses Jahres schon Elternzeit beantragt – eine glatte Verdopplung im Vergleich zum Gesamtjahr 2009.


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.