Das Räumkommando

Ein Kompetenz-Team von Siemens hilft Unternehmen, ihre Produkte einfach und barrierefrei zu gestalten. Damit Behinderte und Nichtbehinderte sie mühelos benutzen können.




Als Markus Dubielzig seinen Chef Klaus-Peter Wegge vor Jahren zum ersten Mal von der Arbeit nach Hause fuhr, entfuhr ihm plötzlich ein „Sie wollen mich wohl veräppeln!“. Wegge, von Kindheit an blind, hatte seinen Mitarbeiter gerade darauf hingewiesen, dass er die richtige Abbiegung verpasst habe. „Mein Chef hatte die Stelle am Geräusch einer Gummi-Naht auf der Fahrbahn erkannt“, erinnert sich Dubielzig.

Mit dem ausgeprägten akustischen Erinnerungsvermögen von Blinden, aber auch mit den Fähigkeiten und Handicaps anderer Behinderter beschäftigen sich die zwei Informatiker täglich. Klaus-Peter Wegge, 48, leitet das Siemens Accessibility Competence Center (ACC), das zum C-Lab gehört, einem gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungslabor der Siemens AG und der Universität Paderborn. In der ehemaligen Nixdorf-Hauptverwaltung beraten Wegge, Dubielzig und vier weitere Kollegen sämtliche Siemens-Einheiten sowie externe Kunden in Sachen Barrierefreiheit: Produkte und Dienstleistungen vom ICE über Internetseiten bis zu Hausgeräten sollen möglichst so gestaltet werden, dass sie von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ohne fremde Hilfe genutzt werden können.

Was das ACC an Erkenntnissen liefert, hat auch deshalb Gewicht, weil dort Betroffene arbeiten. Neben Klaus-Peter Wegge selbst, der nach einem Unfall im Alter von drei Jahren erblindete, sind zwei andere Mitarbeiter blind oder stark sehbehindert, bis vor Kurzem gehörte auch ein Rollstuhlfahrer zum Team. „Wir wissen, worüber wir reden“, sagt Wegge, „das ist unser Alleinstellungsmerkmal.“
Dabei ist der Blick, den Wegges Kompetenzteam einnimmt, keineswegs auf Behinderte fokussiert, sondern orientiert sich an möglichst breiten Nutzergruppen. Es gehe darum, das Leben für alle einfacher zu machen, sagt Wegge und scherzt: „Ich hab’ mir immer gewünscht, dass mein Computer so einfach zu bedienen ist wie mein Telefon.

Mein Wunsch wurde erfüllt: Jetzt weiß ich nicht mehr, wie mein Telefon zu bedienen ist.“ Dann erzählt er von einem Siemens-Telefon, das speziell für Senioren entwickelt wurde – und sich erfolgreich an jüngere Frauen verkaufte, weil die mit dem Apparat vor allem telefonieren wollen, ohne verwirrenden Technik-Schnickschnack. Überraschend? Eigentlich nicht. Wegge sagt: „Mal ehrlich: So gut wie alle Waschmaschinen auf dem Markt können ganz gut waschen. Was sie unterscheidet, ist die Benutzerschnittstelle.“ Soll heißen: Der Kunde freut oder ärgert sich vor allem darüber, wie gut oder schlecht sich Geräte bedienen lassen.

Gerade ist im C-Lab eine Lieferung Waschmaschinen aus Spanien eingetroffen: Wegges Team soll testen, wie tauglich deren Sprachausgabe ist, die zwar für Blinde entwickelt wurde, aber auch Nichtbehinderte überzeugen könnte. Dann nämlich, wenn die akustische Ansage besser durch die vielen Kombinationsmöglichkeiten aus Temperaturen, Programmen und Waschgängen führt als Begriffe, farbige Lämpchen und Symbole.

Seine Expertise als Berater und Tester bringt das Kompetenz-Zentrum häufig in europäische Forschungsprojekte mit anderen Firmen, Universitäten und Organisationen ein. Dabei geht es oft um Geräte und Technologien weit entfernt von jeglicher Marktreife. Beispielsweise um „intelligente“ Kühlschränke, die ihren Inhalt erkennen und auf Verfallsdaten abgelaufener Lebensmittel hinweisen. Um Waschmaschinen, die je nach der eingefüllten Wäsche automatisch das geeignete Reinigungsprogramm wählen. Oder um die komplette Vernetzung von Haushalts- und Elektronikgeräten unterschiedlicher Hersteller: Intelligent verknüpft, könnte der Nutzer sämtliche Geräte vom Fernseher über die Heizung bis zur Alarmanlage mithilfe eines einzigen Geräts steuern und überwachen – via Telefon oder Computer. Technologisch gesehen, ist der Weg gar nicht so weit, weiß Wegge, der in mehreren internationalen Standardisierungs- und Normungsgremien sowie in Industrieverbänden sitzt: „Für den Endkunden wäre das eine wunderbare Sache. Problematischer als jede technische Hürde ist aber die mangelnde Bereitschaft so manchen Herstellers, sich nicht nur in Forschungsprojekten, sondern auch in der Marktpraxis darauf einzulassen.“

Deutlich weiter sind die Berater inzwischen bei dem kürzlich abgeschlossenen EU-Forschungsprojekt „Enabled“, das die Navigation von Blinden und Sehbehinderten zum Thema hatte. Im Verbund mit mehreren Partnern half das Siemens Competence Center bei der Aufrüstung eines schon seit Jahren erhältlichen Navigationsgeräts für Blinde. Dank neuer Software soll der Apparat auf Basis von Gelbe-Seiten-Informationen bald auch sogenannte Location
based Services akustisch bereithalten: spezielle Infos etwa über die nächstgelegene Apotheke, den nahesten Geldautomaten oder über Restaurants in der Umgebung.

Bei Enabled ließ das ACC von mehr als 300 Blinden und Sehbehinderten auch akustische Stadtpläne testen, die von anderen Projektpartnern entwickelt worden waren. Mit der neuen Software könnten zum Beispiel Fremdenverkehrsämter ihre Stadtpläne akustisch kennzeichnen (Vogelgezwitscher bei Parks, Geplätscher bei Flüssen und Seen, Glocken bei Kirchen), was Blinden die Möglichkeit gäbe, sich zu Hause am Computer auf eine Reise vorzubereiten. „Man bekommt so ein akustisches Bild von der Stadt, das sich sehr gut einprägt, wie unsere Tests ergaben“, sagt Markus Dubielzig. „Wenn am Navigationsgerät mal das GPS ausfällt oder der Akku leer ist, hat der Blinde auf diese Art zumindest eine grobe Vorstellung davon, wo er ist.“

Das Brillen-Projekt der Siemens-Kollegen in München könnte möglicherweise eine weitere Wahrnehmungs- und Orientierungslücke für Blinde und Sehbehinderte schließen, meint Klaus-Peter Wegge: „Im Bereich der Hinderniserkennung gab es bisher nichts Vernünftiges. Gelänge es, die letzten technischen Probleme zu lösen und die Brille auch in der Größe und im Aussehen so zu verbessern, dass sie für ihren Träger keine Kontaktbarriere zu anderen darstellt, dann wäre die Brille ein echter Fortschritt.“

Doch Wegge denkt schon weiter. Seine Vision: verschiedene Hilfssysteme in ein großes, modular aufgebautes System zu integrieren, dessen Teile sich mühelos verstehen und nach Bedarf kombinieren lassen: „Ein Baustein wäre die Navigation mithilfe von GPS, der andere die Indoor-Navigation in öffentlichen Gebäuden dank W-Lan; die dritte Komponente könnten die ,Location based Services‘ sein und die vierte die Hinderniserkennung mit der Brille. Das alles zu verbinden, das wäre wirklich genial.“


Dieser Text stammt aus unserer Redaktion Corporate Publishing.