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Schmalzrieds Zukünfte, Folge 2

Rettet das Unvorhersehbare!

Gregor Schmalzried ist ein Beobachter der Digitalisierung. In Folge 2 seiner monatlichen Kolumne dreht sich alles um den Proof of Work – ein Prinzip, das in der Welt des modernen Internet allgegenwärtig ist und auf Dauer vor allem eines erzeugt: Langeweile.




brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried
brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried

• Vor zwei Monaten brauchte ich eine neue Computermaus. Der erste Impuls: „best computer mouse“ bei Google einzutippen. Aber dann hielt ich inne. Wie in einer finsteren Vorahnung wusste ich auf einmal, was das Ergebnis der Anfrage sein würde: eine Liste von nahezu identisch aussehenden Websites, alle mit Überschriften wie „The Best Computer Mouse in 2022“, „10 Top Computer Mice Compared“ oder „Best Gaming Mouse in 2022“. Alles gleich, und alles nutzlos.

Aber es geht auch anders. Statt „best computer mouse“ suchte ich nach „best computer mouse reddit” und landete in einem Thread auf der Social-Media-Plattform Reddit. Dort stritten sich zwei Nerds darüber, wie man die Apple Magic Mouse eigentlich richtig hält. Echte Menschen! Verrückt. Und noch dazu gab es ein paar Empfehlungen. Einer von denen bin ich dann tatsächlich gefolgt und habe die Maus gekauft (Sie ist okay. Was hatte ich erwartet. Es ist eine Maus.).

Dass Google-Suchen so unergiebig geworden ist, ist keine neue Beobachtung – und ich bin auch nicht der Einzige, der deshalb auf Reddit ausweicht. Aber warum ist das so? Hat Google nicht den besten Algorithmus von allen?

Ich glaube, der Grund, wieso der Suchmaschinen-Marktführer weniger nützliche Ergebnisse liefert als früher, ist der gleiche, warum Instagram langweilig geworden ist, warum handgemachte Tische mehr kosten als solche aus der Fabrik und warum Bitcoin so viel Energie verbraucht.

Der Grund heißt Proof of Work (auf Deutsch: Arbeitsnachweis).

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Was ist Proof of Work?

Stellen wir uns einen soliden Holztisch vor. Wenn wir ihn sehen, haben wir eine Vorstellung von seinem Wert. Wenn wir anschließend in einem Video sehen, wie ein Handwerker diesen Tisch in sorgfältiger Handarbeit selbst herstellt, steigt dieser Wert. Das Video ist in diesen Fall der Proof of Work – der Nachweis dafür, dass in diesem Möbelstück nicht nur Maschinen-, sondern echte Handarbeit steckt. Und das ist für die meisten Menschen mehr wert (um genau zu sein: für 77 Prozent, laut einer Verbraucherumfrage von Taste Tomorrow).

Wir freuen uns mehr über selbst gepflückte Blumen als über gekaufte, bewundern ein technisches Gerät mehr, wenn wir die Ingenieursleistungen dahinter verstehen... All das ist Proof of Work.

Auch in der digitalen Welt erfüllt er eine wichtige Funktion. In den sozialen Medien entscheidet er mit darüber, ob wir Inhalte interessant finden oder nicht: Ein Selfie vor heimischen Hügeln? Ganz nett. Ein Selfie vor der Chinesischen Mauer? Viel interessanter. Weil für Letzteres weit gereist werden muss, bekommt man dafür sehr wahrscheinlich mehr Likes. Influencerinnen und Influencer nehmen deshalb oft große Mühen auf sich, um an einen begehrten Foto-Spot zu kommen.

Auch Mr. Beast, der aktuell erfolgreichste Youtuber der Welt, hat die Relevanz des Proof of Work verstanden. In seinem bisher meistgeklickten Video ist zu sehen, wie er und sein Team in einer Real-Life-Version der Netflix-Serie „Squid Game“ 456 echte Menschen um 456 000 Dollar spielen lassen. Die Kommentare des Videos sind voller Bewunderung – nur bewundert fast niemand den Inhalt oder die Personen im Video. Stattdessen sprechen alle über den unglaublichen Aufwand hinter Set-Design und Ausstattung.

Proof of Work bei Bitcoin

Bei all dem geht es vor allem um Bitcoin. Denn ohne Blockchains und Bitcoin würde niemand (ich eingeschlossen) über Proof of Work sprechen.

Der Bitcoin will eine digitale Währung sein, die ohne offizielle Stellen wie eine Zentralbank verwaltet werden kann. Um solche Institutionen zu ersetzen, nutzt Bitcoin die Bitcoin-Blockchain – eine dezentrale Datenbank, die von einem weltweiten Netzwerk betrieben und verwaltet wird, an das sich theoretisch jeder anschließen kann.

Wenn ich Geld in Euro überweise, müssen sich verschiedene Banken, Kreditinstitute und (möglicherweise) Behörden über die Transaktion austauschen und diese verifizieren. Beim Bitcoin werden Transaktionen dagegen durch das weltweite Netzwerk verifiziert und als neue sogenannte Blöcke in die Blockchain eingetragen. Das fälschungssichere Kassenbuch wächst auf diese Weise immer weiter und bleibt stets aktuell, so die Idee.

Die ausführenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden dafür mit Bitcoin belohnt. Sie müssen sich für das Eintragen eines neuen Blocks aber erst qualifizieren, indem ihre Rechner, Bitcoin-Miner genannt, ein Rätsel lösen. Sie müssen eine mathematische Funktion um eine Variable ergänzen, so dass ein bestimmter Endwert entsteht. Die Variable lässt sich nicht errechnen, sondern nur erraten. Damit sind Bitcoin-Miner ununterbrochen beschäftigt. Denn sie stehen im Wettbewerb untereinander: Wer das Rätsel zuerst löst, darf die neue Transaktion hinzufügen. Wenn die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestätigen, dass diese korrekt ist, bekommt der Gewinner seine Belohnung.

Um zum Bitcoin-Miner zu werden, bedarf es also eines Proof of Work. Der soll verhindern, dass Betrüger der Blockchan eine gefälschte Transaktion hinzufügen können. Der Proof of Work soll in dem dezentralen System also für Vertrauen sorgen. Er ist allerdings auch der Grund dafür, dass Bitcoins so viel Strom verbrauchen. Kostbare Energie für eine an sich völlig sinnlose Arbeit, das Erraten beliebiger Zahlenkombinationen.

Die Bitcoin-Fans sehen darin kein Problem, im Gegenteil. Der Unternehmer und Bitcoin-Investor Michael Saylor bezeichnet ihn gern als „digitale Energie“. Schließlich täten klassische Währungen auch nichts anderes, als Energie in Geld zu verwandeln – beim Bitcoin geschehe dies unmittelbarer, transparenter und moderner.

Das Proof of Work-Regime

Obwohl es technisch eine ziemliche Herausforderung ist, lohnt es sich, zu versuchen, den Proof of Work-Mechanismus beim Bitcoin zu verstehen. Denn am Ende kommt dort folgendes heraus: In sinnlose Arbeit gesteckte Energie kann einen Wert erzeugen.

So betrachtet, ergibt auch das moderne Internet mehr Sinn. Und vor allem die Dinge, die dort nicht gut funktionieren.

Jeder erfolgreiche Content-Katalog im Netz, vom sozialen Medium bis zur Suchmaschine, steht früher oder später vor demselben Problem: Man verwaltet so viele Inhalte, dass man sie nur schwer sortiert bekommt. Das ist der Moment, in dem ein soziales Netzwerk von einem chronologischen Feed umschaltet auf einen, der per Algorithmus sortiert wird. Ein Algorithmus ist meist ein für die Außenwelt undurchschaubares Regelwerk, das Inhalte schon beim Upload in „gut“, „schlecht“ und alles dazwischen unterteilt. Die Sortierungsalgorithmen der Plattformen sind eine Art virtueller Flaschenhals, durch den aller Content hindurchmuss – und nur das, was der Algorithmus für gut befindet, bekommt große Aufmerksamkeit.

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Den Algorithmen auf die Schliche zu kommen, darum kümmert sich mittlerweile eine ganze Industrie: „An diesem Tag performen Instagram-Posts am besten!“ – „Reels boosten die Performance massiv!“ – „Nur drei bis fünf Storys am Tag!“ – „Regelmäßige Upload-Schedules!“ – „Kein Text auf Gesichtern!“ – „Immer Hashtags benutzen!“ – „Auf keinen Fall ein verwackeltes Foto!“ – „Ich habe gehört, rote Farben werden besonders gut behandelt!“

Unter den Social-Media-Plattformen ist vor allem Instagram bekannt dafür, dauernd neue Regeln aufzustellen, denen sich Social-Media-Managerinnen und – Manager sklavisch zu unterwerfen haben, wollen sie im großen Rauschen nicht untergehen.

Noch schlimmer ist es bei Google. Unter dem Schlagwort SEO (Search Engine Optimization) ist eine Branche entstanden, deren einziger Sinn und Zweck es ist, Websites so zu gestalten, dass sie den ständig wechselnden Google-Regeln für gute Websites entsprechen. Letztlich führt das Prinzip dazu, dass die Plattform den Leuten „Spring!“ zuruft, und der Content-Creator, der beim Sprung am höchsten kommt, wird mit einer größeren Chance belohnt, vom Algorithmus besser behandelt zu werden. Ob der Sprung selbst sinnvoll war? Das ist völlig egal. Google wollte lediglich, dass wir kuschen. Große Teile von Content Marketing und SEO sind deshalb genau wie der Proof of Work-Mechanismus bei Bitcoin vor allem eines: sinnlos verbrannte Energie, die zu allem Überfluss auch noch von Menschen verrichtet wird und nicht von Maschinen.

Und weil so viele Websites diesen Tipps so haarklein folgen, ist das Ergebnis ein großes Einerlei: Hunderte Websites, die alle gleich aussehen und alle den gleichen Content anbieten: „10 best computer mouses in 2022“ zum Beispiel. Das kommt dabei heraus, wenn eine Suchmaschine einen Mechanismus braucht, um Fantastilliarden Websites zu sortieren – und sich für den Proof of Work entscheidet.

Hat so ein Modell Zukunft? Die Google-Suchmaschine ist bei den Cool Kids zumindest schon lange nicht mehr angesagt, und auch Instagram verliert an Attraktivität. TikTok wird dagegen immer beliebter, obwohl auch dort ein ominöser Algorithmus regiert. Fachleute vermuten zwar, dass das Unternehmen regelmäßig per Hand eingreift (zum Beispiel, um chinesische Regierungspropaganda zu verbreiten), doch abgesehen davon scheint der Algorithmus größtenteils einfach nur eine Sache zu messen: Wie viele Leute schauen dieses Video gerne, und wie lang? Das war’s. Der Algorithmus versucht nicht, den Geschmack der Nutzer vorherzusagen. Er hört ihnen einfach nur zu.

Auf diese Weise schafft es TikTok immer wieder, virale Momente zu erzeugen, die auf anderen Plattformen unvorstellbar gewesen wären. Dass der damals 35-jährige Lagerarbeiter Nathan Apodaca 2020 auf seinem Longboard fuhr und dabei Fleetwod Mac sang, hätte ihm auf Instagram wahrscheinlich nicht viel genutzt, der Algorithmus hätte ihn nicht besser behandelt als ein Zehn-Minuten-Video von trocknender Farbe. Doch auf TikTok erreichte der Clip ein weltweites Publikum – er wurde unvorhersehbar zum viralen Hit und brachte den Fleetwood-Mac-Song „Dreams“ 43 Jahre nach Erscheinen zurück in die Charts.

Beim Bitcoin geht es nicht um Kreativität oder Originalität – der stumpfe Arbeitsnachweis erfüllt dort seinen Zweck. Wenn es aber um Inhalte geht, die berühren, informieren oder inspirieren sollen, machen Proof of Work-Algorithmen alles flacher, langweiliger und eintöniger. Und das hilft am Ende niemandem, denn letztendlich entscheidet immer noch irgendein Mensch, der durch sein Telefon scrollt, ob er einen Inhalt gut findet oder nicht. Und bisher gibt es keine technische Möglichkeit, dessen Meinung vorherzusagen. Zum Glück. ---

Die nächste Folge von „Schmalzrieds Zukünfte“ erscheint am 11. September 2022.