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Schmalzrieds Zukünfte, Folge 3

Endlich Freiraum

Gregor Schmalzried ist ein Beobachter der Digitalisierung. Folge 3 seiner Kolumne handelt von Veränderungen in den sozialen Medien. Der Konzern Meta möchte raus aus diesem Geschäft. Damit könnte eine neue, bessere Ära der digitalen Kommunikation beginnen.




brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried
brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried

• Na, heute Morgen schon Vero gecheckt? Oder einen Post auf Ello abgesetzt? Und danach mit Freunden auf Clubhouse abgehangen? Für alle Menschen, die nicht in einem Paralleluniversum leben, dürfte die Antwort „Nein“ sein. Wir haben den Zyklus schon so oft durchgespielt: Neue Social-Media-Anbieter werden erst gehypt, kommen dann aber nicht über ein Nischendasein hinaus und dienen schließlich nur noch als Negativbeispiel in Tech-Kolumnen.

Aktuell steht BeReal auf dem Hype-Podest, eine französische App, die alle ihre User einmal am Tag auffordert, binnen zwei Minuten ein simultanes Doppel-Foto zu posten: eines mit der Front-Kamera des Smartphones, das andere mit der Selfie-Kamera. So soll ein echter Augenblick festgehalten werden, keine inszenierte Authentizität wie bei Instagram & Co. Die App hat sich als Lo-Fi-Instagram-Alternative erst an Unis und Schulen etabliert und klettert gerade Stück für Stück die Treppe zu den älteren Zielgruppen nach oben. Bei »Zeit Online« fragt man sich bereits: „Ist BeReal das neue Instagram?“

Die Antwort ist (wenig überraschend): „Nein“. BeReal ist ganz sicher nicht das neue Instagram. Aber das heißt nicht, dass BeReal irrelevant ist. Einmal schaffte es die Plattform im Juli auf 21,6 Millionen aktive User und ist damit jetzt schon erfolgreicher, als es Vero, Ello oder Clubhouse je waren. Und selbst wenn sie sich nicht durchsetzt: BeReal stößt vielleicht etwas an, das größer ist als die App selbst. Nämlich eine neue Social-Media-Ära.

Metas Umbau

Es ist keine zwei Jahre her, dass die US-amerikanische Handelsbehörde FTC dem Konzern Meta Platforms (damals noch Facebook) unterstellte, ein Monopol bei Social Networking Services zu haben. Aber wenn Meta wirklich ein Monopolist ist: Warum hat der Konzern dann so viele Probleme? Der Kurs der Aktie ist seit seinem Allzeithoch im Oktober 2021 um die Hälfte gefallen. Mark Zuckerberg spricht öffentlich kaum noch über seine Kernprodukte, dafür um so lieber über Virtual Reality-Projekte.

Vor allem aber hat Meta vor Kurzem eine der größten Kurskorrekturen angekündigt, seit das Unternehmen existiert. Nur der Grund dafür ist nicht BeReal. Sondern TikTok.

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Trotz zahlreicher Skandale und berechtigter Fragen über die Nähe des Unternehmens zur chinesischen Regierung feiert TikTok gerade weltweit Erfolge, wie es sie in der Geschichte der sozialen Medien noch nie gegeben hat. Die App hat nicht nur schneller als irgendeine andere eine Milliarde monatlich aktive User erreicht, diese verbringen auch noch sehr viel Zeit dort. Und das alles, während Facebook zum ersten Mal in seiner Geschichte User verliert.

Über die vergangenen Monate hat Meta deshalb ein gigantisches Projekt in die Wege geleitet: Instagram und Facebook sollen zu TikTok-ähnlichen Plattformen umgebaut werden.

Funktionen von Konkurrenzprodukten zu kopieren ist für Meta nichts Neues: Twitter, Snapchat und TikTok haben vermutlich mehr zu der heutigen Meta-App-Familie beigetragen als Meta selbst. Doch hinter Mark Zuckerbergs aktuellem Plan steht mehr als nur ein paar neue Features – er will Instagram und Facebook offenbar grundlegend verändern.

Seit vielen Jahren ist Metas Kernfunktion der sogenannte Social Graph. Das Prinzip dahinter: Man vernetzt sich mit anderen Menschen und bekommt Inhalte auf Basis dieser Vernetzungen empfohlen: Freundin X hat dieses Bild gepostet, Freund Y hat diesen Kommentar geschrieben, Freundin Z gefällt dieses Video. Und so weiter.

Der Social Graph ist der entscheidende Faktor für Metas Monopolstellung. Er erzeugt nämlich sehr starke Netzwerk-Effekte: Die Leute werden zu jenen Plattformen gelockt, die schon die meisten Mitglieder haben.

Ein neues soziales Netzwerk funktioniert erst dann richtig, wenn jede Menge Leute dort sind — ansonsten weiß der Social Graph nicht, was er seinen Usern empfehlen soll. Aber die Leute sind alle auf Facebook und Instagram, sie haben sich dort über Jahre ihre persönlichen Netze aufgebaut. Und Meta erlaubt ihnen nicht, ihre Freunde-Sammlungen und Posts anderswohin mitzunehmen. Außerdem kopieren Facebook und Instagram die beliebtesten Funktionen der Konkurrenz früher oder später ohnehin – warum also sollte man die Plattform wechseln?

TikToks Trumpf

Jahrelang schien Metas Führungsposition aus diesem Grund unantastbar – bis TikTok kam. TikTok hatte, anders als Vero oder Ello, ein eigenes Erfolgsrezept: Weil Meta beim Social Graph den Heimvorteil hat, versucht die Plattform überhaupt nicht, mit ihm zu konkurrieren. Sie nutzt stattdessen etwas, das man Recommendation Graph nennen kann, und ganz anders funktioniert als Instagram und Facebook. Was die Freunde eines Users treiben, ist dem TikTok-Algorithmus egal. Stattdessen bombardiert er den User mit Content, den der eventuell gut finden könnte, und lernt immer mehr über dessen Schauverhalten. Nach einer Weile kann er ihm nur noch Inhalte ausspielen, die ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit gefallen. Dieser Prozess ist simpel und intuitiv, und funktioniert für fast jede Person auf der Welt gleich – egal von wo sie kommt oder wie viele Freunde sie hat.

Für eine App, die möglichst viel genutzt werden will, ist das schlicht und einfach ein besseres Content-Prinzip als der Social Graph. Der Recommendation Graph nervt uns nicht mit Babyfotos der Cousine oder anderen Inhalten aus dem Bekanntenkreis, die uns gar nicht so sehr interessieren. Auch sind wir bei TikTok von der Außenwelt abgeschirmt: Wir müssen uns keine Sorgen machen, etwas Unanständiges zu liken. Der Recommendation Graph urteilt und fordert nicht, er zieht uns nur langsam in den unendlichen, süchtig machenden Content-Sumpf.

Metas erklärter Plan ist es nun, von seinem altbewährten Social Graph abzurücken und selbst einen Recommendation Graph aufzubauen (intern spricht man von Discovery Engine). Das ist erstaunlich, denn noch vor wenigen Jahren wollte Mark Zuckerberg „sinnvolle Interaktionen zwischen Menschen fördern“. Außerdem war von einer Facebook-News-Offensive die Rede. Instagram wollte mit IGTV einen YouTube-Konkurrenten aufbauen, Facebook betreute eine Zeitlang sogar einen separaten TikTok-Konkurrenten namens „Lasso“. Und dann wurden einige der jüngsten Instagram-Änderungen nach enormem Protesten vorläufig wieder rückgängig gemacht.

Im Hause Zuckerberg wechselt man offensichtlich gerne mal die Meinung. Aber gehen wir mal davon aus, dass Meta es erstens diesmal wirklich ernst meint und es zweitens schafft, so viele gute Creators auf die Plattformen zu ziehen, dass genug gute Inhalte zum Empfehlen vorhanden sind. Wenn das passiert, werden Instagram und Facebook bald keine Plattformen zur sozialen Vernetzung mehr sein. Sondern Content-Maschinen wie TikTok.

Für Meta wäre das nur eine logische Weiterentwicklung. Metas Geschäftsmodell ist es nicht, Soziales zu vermarkten, sondern möglichst viel erfolgreiche Werbung auszuspielen. Dafür ist allein wichtig, dass die User viel Zeit auf der Plattform verbringen und dort bis zum Umfallen Fotos und Videos anklicken, schauen, scrollen und liken.

Aber was wird dann aus dem Social in Social Media?

Große Verschiebungen

Man kann sich die Social-Media-Landschaft wie ein Spektrum vorstellen. Ganz links haben wir den Recommendation Graph, dort ist egal, ob wir die Leute, denen wir zusehen, persönlich kennen, Hauptsache, sie unterhalten uns. Ganz rechts haben wir enge soziale Kontakte durch Messenger, Gruppenchats und private Discord-Server.

Facebook und Instagram haben jahrelang versucht, die Mitte zu bespielen, Recommendations und Soziales miteinander zu verbinden. Doch nun scheint sich das Unternehmen vorerst entschieden zu haben, dass sich die linke Seite besser zu Geld machen lässt als die rechte. Und das ist – tatsächlich – eine gute Nachricht. Denn wenn Meta sich wirklich weitgehend vom Modell des Social Networks verabschiedet und sich zusammen mit TikTok und Youtube auf der linken Seite des Social-Media-Spektrums um die wertvolle Watchtime der User streitet, entsteht auf der rechten Seite womöglich endlich etwas Neues.

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Wir haben heute schon Beispiele dafür, wie das aussehen kann: Es gibt Snapchat, eine App, die sich neu erfinden musste, nachdem seine zentrale Funktion (Stories, die nach 24 Stunden wieder verschwinden) von Instagram kopiert wurde. Snapchat hat sich als Messaging-App neu positioniert und wird rege genutzt – insbesondere von jungen Menschen. Es gibt Discord und Reddit, Plattformen, die ihre Nutzerinnen und Nutzer nicht alle in einem Pool versammeln, sondern als Hub für unzählige spezialisierte Communities dienen, in denen man sich austauschen und Kontakte knüpfen kann. Und nun gibt es auch BeReal – eine App, die den klassischen Social-Network-Gedanken (Was machen eigentlich meine Freunde gerade?) wieder in den Vordergrund rückt.

Der große Social-Media-Split könnte dazu führen, dass wir den sozialen Teil unseres Internet-Konsums wieder bewusster wahrnehmen. Während Meta und TikTok wie das Fernsehen dem unpersönlichen, passiven Konsum dienten, wären soziale Apps – in Analogie zu Telefon und Brief in der Ära vor dem Aufstieg des Internets – Medien, die man aktiv nutzt für den direkten, persönlichen Kontakt.

Zukunftsszenarien

Kein Mensch weiß, wie soziales digitales Leben in der Zukunft wirklich aussehen wird. Aber es zeichnen sich mögliche Szenarien ab:

Vielleicht entwickelt sich eine neue Social-Media-Kultur, in der experimentelle Apps wie BeReal immer häufiger auftauchen und auch Erfolg haben.

Vielleicht entwickelt sich eine soziale Kultur, die von Videospielen geprägt ist. Schon heute nutzen viele junge Menschen Gaming-Welten wie Fortnite und Roblox, um in digitaler Form mit Freunden rumzuhängen. Die Entwickler fördern das bewusst, und es könnte zu dem führen, was man mittlerweile als Metaverse bezeichnet: eine virtuelle Parallelwelt, in der Gaming- und Social-Inhalte nahtlos ineinander übergehen.

Vielleicht machen auch die Ideen des Web3 Schule: In der Vision von einem Internet auf der Basis von Blockchains hätten wir keine separaten Profile mehr auf unterschiedlichen Plattformen, sondern ein einziges, dezentral abgespeichertes virtuelles Erkennungsmerkmal. Damit könnten wir uns in alle möglichen Apps und Plattformen einloggen. Das hätte den Vorteil, dass große Plattformen sich nicht mehr auf ihre Netzwerkeffekte verlassen könnten. Wir hätten ein Right to Leave – ein Recht darauf, ungeliebte Plattformen zu verlassen, ohne unsere sozialen Kontakte dabei zu verlieren.

Alle drei Szenarien würden die Welt der sozialen Medien, wie wir sie heute kennen, stark verändern. In dem Moment, in dem Facebook und Instagram ihren Platz räumen, wäre die Ära der Social-Networking-Monopole vermutlich vorbei. Und das wäre gut so. ---

Die nächste Folge von „Schmalzrieds Zukünfte“ erscheint am 11. Oktober 2022, alle bisherigen finden Sie hier.