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Schmalzrieds Zukünfte, Folge 5

Der Ikea-Effekt

Gregor Schmalzried ist ein Beobachter der Digitalisierung. In Folge 5 seiner monatlichen Kolumne geht es um Interaktivität. Der passive Konsument ist out, digitale Produkte und Dienste beziehen die Kundschaft zunehmend mit ein. Aber die hat nicht immer Lust dazu.




brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried
brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried

• Im Jahr 2011 versammelten drei US-amerikanische Forscher eine Gruppe von Menschen und ließen sie Ikea-Kisten zusammenbauen. Anschließend erhielten die Probanden die Gelegenheit, ihre eigenen Kisten zu ersteigern – sie bekamen aber auch bereits im Vorhinein gebaute Kisten angeboten. Das Ergebnis ist heute bekannt als der Ikea-Effekt: Für ihre eigenen Kisten boten die Probanden im Durchschnitt 63 Prozent mehr. So viel war es ihnen wert, etwas zu besitzen, in das sie selbst Arbeit gesteckt hatten.

Auf die moderne Entertainment-Landschaft übertragen führt der Ikea-Effekt zwangsläufig zu einem anderen Schlagwort: Interaktivität (ich bin mir nicht sicher, ob je jemand Ikea-Waren als interaktive Möbelstücke bezeichnet hat, aber falsch wäre es nicht).

So wie wir in gewisser Weise eine Verbindung zu einem Möbelstück aufbauen, wenn wir es zusammenschrauben, interagieren wir mit jedem Medium. Wir reichern das, was wir lesen, hören oder sehen, mit unseren eigenen Erfahrungen und Gedanken an, sodass zwei Menschen im Kino direkt nebeneinandersitzen und dennoch ein völlig anderes Film-Erlebnis haben.

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Wenn wir mit Harry Potter fühlen, als er von der unsäglichen Lehrerin Dolores Umbridge terrorisiert wird, dann erleben wir dabei nicht sein Leiden. Wir erinnern uns an die Situationen, in denen wir selbst von einer Autoritätsperson schlecht behandelt wurden.

Bücher und Filme bedeuten uns mehr, wenn viel von uns selbst darin steckt. Wenn wir uns fühlen, als wären wir mittendrin im Geschehen – als hätten wir die Geschichte selbst erlebt oder, etwa im Fall von David Lynch-Filmen, selbst entschlüsselt.

Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in Videospielen. Ob in der Prärie von Red Dead Redemption 2 oder in den bunten Spielwelten von Super Mario Odyssey – fast alles, was wir sehen, ist eine Folge unserer eigenen Eingaben am Spiele-Controller. Ein Fernseher kann auch unbeachtet im Hintergrund laufen. Ein Videospiel aber funktioniert nicht ohne direkten Input von uns.

Videospiel ist mittlerweile die Popkultur schlechthin. Das liegt auch daran, dass Gamer ihr Hobby sehr oft als wichtigen Teil der eigenen Identität sehen. Deshalb verbringen sie besonders viel Zeit damit und geben besonders viel Geld dafür aus: 2021 war der globale Videospiel-Markt rund dreimal so groß wie der globale Film- und Musikmarkt zusammen – und das obwohl deutlich mehr Menschen Filme sehen und Musik hören als Videospiele spielen.

Weil sie von Haus von aus interaktiv sind, halten Videospiele ihr Publikum bei der Stange. Nur... dieses Publikum muss man erst einmal bekommen. Die meisten Videospiele haben im Vergleich zu anderen Medien eine hohe Einstiegshürde. Aber zum Glück gibt es ja das Internet. Auch dessen Einstiegshürden waren einst sehr hoch. Wollte man vor 40 Jahren einen Computer dazu bringen, etwas Bestimmtes zu tun, musste man sich technisch auskennen. Heute kann jedes Kind ein Smartphone bedienen. Noch nie war Interaktivität so einfach – und so und weit verbreitet. Im Unterschied zu früher macht sie heute oft süchtig.

Viele Digitalkonzerne haben das perfektioniert. In Hooked, dem Sachbuchliebling des Silicon Valley, beschreibt der Autor und Verhaltensanalyst Nir Eyal, wie gewohnheitsformende (oder umgangssprachlich gesagt: süchtig machende) Produkte erzeugt werden können. Der Hooked-Zyklus beginnt mit einem internen oder äußeren Trigger (beispielsweise einer Push-Benachrichtigung), der den User animiert, eine Handlung auszuführen, zum Beispiel eine App zu öffnen und zu nutzen. Darauf folgt eine Belohnung, etwa in Form von Likes, die den User veranlasst, beispielsweise mit neuen Posts ein weiteres Investment in die App zu tätigen. Auf die Investments folgen Trigger, und der Zyklus beginnt von Neuem.

Nahezu alle Apps, die sich an Konsumenten richten, funktionieren so. Besonders erfolgreich ist das Prinzip bei TikTok: Auf der chinesischen Plattform werden die User permanent gefordert und belohnt. Jedes neue Video ist ein Trigger, der uns verschiedene Handlungs-Optionen anbietet (zu Ende schauen, weiter-swipen, Kommentare liken). Der Algorithmus lernt aus unserem Verhalten und passt den Feed noch genauer unserem Geschmack an. Dieser Prozess ist so brillant designed, dass wir die Manipulation nicht merken.

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Öffnet man die App, ist man gleich drin, im unendlichen Strom der Kurzvideos. Und obwohl man eigentlich nur zwei Minuten reinschauen wollte, ist plötzlich eine halbe Stunde rum. TikTok scheint den Hooked-Zyklus so perfektioniert zu haben, dass uns die App als genauso aufregend und interaktiv erscheint wie ein Videospiel, das nach demselben Prinzip funktionieren. Man muss sich zwingen, die App zu schließen, um ihren unsichtbaren Fesseln zu entkommen.

Nur ... selbst wenn wir das schaffen, warten all die anderen Apps auf uns, die uns gefangen nehmen wollen. Heute ist fast jede Dienstleistung ein Videospiel mit Triggern, Belohnungen und Bestrafungen. Shopping, Abnehmen, Sportmachen Investieren – der Alltag ist längst gamifiziert.

Schon vor über zehn Jahren schrieb der Programmierer und Investor Paul Graham in seinem Blog: „Die Welt macht mehr süchtig als noch vor 40 Jahren. [...] Und sie wird in den nächsten 40 Jahren wohl noch süchtig machender werden.”

Schutzlos ausgeliefert sind wir den Belohnungszyklen und Suchtfaktoren trotzdem nicht. Menschen sind lernfähig. Hinzu kommt: Die stärkste und vielleicht schönste Interaktion ist menschliche Kommunikation – kein App-Zyklus kann da mithalten.

Nicht zuletzt aus diesem Grund ist zum Beispiel die Serien- und Film-Industrie im Umbruch. Die Macher von Hit-Serien wie Severance sprechen mittlerweile offen darüber, wie wichtig Austausch mit den Fans für ihren kreativen Prozess ist. Die Grenze zwischen Zuschauern und Schöpfern verschwimmt.

Dennoch sind die Interaktivität und ihr semantischer Bruder, die Gamifizierung, kein Super-Mario-Power-up-Pilz, der alles und jeden stärker und besser macht. Mitte der 2010er-Jahre waren ein paar Leute bei YouTube und in anderen Medien auf einmal fest davon überzeugt, dass das 360-Grad-Video die Zukunft von Online-Entertainment sein würde. Bei diesen Videos musste man die Maus hin und her bewegen, um zu sehen, was alles passiert. Ist das nicht eine super Idee? War es nicht. Alltagskonsumenten war das zu anstrengend. Und es scheint sich abzuzeichnen, dass interaktives Audio in Form von Mitmach-Hörspielen gerade das nächste Ex-Trendthema ist, das virtuell einstaubt.

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Dennoch leben wir in einem Zeitalter einer neuen Interaktivität. Zukunftsvisionen wie das Metaverse wollen sogar große Teile des Internets in ein einziges Open-World-Videospiel ummodeln. Und findige Produktentwickler werden immer neue Produktlinien finden, die sich durch Gamifizierung aufpeppen lassen (wie wäre es mit einem Wasserhahn, der trackt, wie viel ich am Tag trinke, und ab dem zweiten Liter das Wasser, als Belohnung, mit köstlichem Zitronenaroma versetzt?)

Aber Interaktion kann keinen Zweck ersetzen, keinen schlechten Content interessant machen. Sie ist ein Spielball von vielen im digitalen Zeitalter, aber wenn nichts gebaut wird, mit dem sich die Interaktion lohnt, rollt er einfach ins Leere. Oder... um die Metapher zu wechseln: Der Ikea-Effekt funktioniert eben nur, wenn das Regal nicht sofort wieder zusammenkracht. ---

Die nächste Folge von „Schmalzrieds Zukünfte“ erscheint im Dezember 2022, alle bisherigen finden Sie hier.