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Schmalzrieds Zukünfte, Folge 4

Das Long-Tail-Paradox

Gregor Schmalzried ist ein Beobachter der Digitalisierung. In Folge 4 seiner monatlichen Kolumne geht es um die Creator Economy. Sie steht für die Hoffnung, dass viele kreative Menschen ihre Leidenschaft zum Beruf machen können. Wie realistisch ist das?




brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried
brand-eins-Kolumnist Gregor Schmalzried

• Stellen wir uns ein Kino mit einer unendlichen Zahl von Sälen vor. Es kann alle Filme zeigen, die jemals produziert wurden. Selbstverständlich wären die Säle mit den Blockbustern die bestbesuchten. Aber die anderen würden speziell Interessierte anziehen. Sein unendliches Angebot von Nischenfilmen wäre für dieses Kino das perfekte Geschäft.

Dieser Gedanke steht hinter dem Long Tail. Diesen Begriff prägte 2004 Chris Anderson, der damalige Chefredakteur des US-Magazins »Wired«, in einem Essay. Das Internet, so Anderson, würde eine Wirtschaft einläuten, die nicht mehr drauf fixiert sei, ein Massenpublikum zu bedienen – stattdessen könnten Produkte für kleinere Zielgruppen den Markt dominieren.

Wenige Monate nach Andersons Essay wurde YouTube gelauncht, zwei Jahre später, im Januar 2007, kam Netflix mit seinem Streaming-Angebot auf den Markt. Etwa zur gleichen Zeit entdeckte der Musikproduzent Scooter Braun durch Zufall ein Video, in dem ein zwölfjähriger Junge aus Kanada einen Usher-Song sang. Er fasste den Entschluss, diesen Jungen berühmt zu machen – nicht viel später war Justin Bieber ein Weltstar.

Jeder kann in das Geschäft einsteigen

Fortan wurden die Einstiegshürden für eine Karriere als Musiker, Autorin oder andere Content-Creator immer niedriger.

Das geht los bei der Produktion: Wofür man im Jahr 2004 zum professionellen Schneiden eines Videos noch jede Menge Geld und Arbeitsspeicher brauchte, reicht heute die TikTok-App. Während charttaugliche Musik sich früher nicht ohne teures Equipment und Connections produzieren ließ, verfügten heute Teenager in ihren Kinderzimmern über die notwendige Technik.

Und auch in der Distribution hat sich viel getan: Social Media macht es möglich, von überall auf der Welt ein Millionenpublikum zu erreichen. Und Plattformen wie YouTube, Patreon und Twitch haben neue Wege erschaffen, mit diesem Publikum Geld zu verdienen.

Im Jahr 2022 ist die sogenannte Creator Economy alltäglich geworden – sie begegnet uns überall.

Eine typische 17-Jährige beginnt ihren Tag heute vielleicht mit dem neuen Song von Rapper Lil Nas X, dann schaut sie ein paar Clips von den TikTok-Zwillingen Lisa und Lena, hört auf dem Schulweg die neue Folge des Podcasts „Mordlust“ von Paulina Krasa und Laura Wohlers, trinkt nach Feierabend einen Dirtea-Eistee der Rapperin Shirin David und schaut den Film „The Kissing Booth“ auf Netflix, der auf einem Buch der Autorin Beth Reekles basiert.

Jede der genannten Personen hat ihr Publikum durch das Internet gefunden. Einige haben in ihren Kinderzimmern angefangen, Content zu produzieren. Heute verdienen sie damit Geld, teilweise sehr viel. Eine neue Internet-Ökonomie scheint also möglich zu sein.

Nur...was ist jetzt eigentlich mit dem Long Tail? Mit den Nischenangeboten und obskuren Ideen, die florieren sollten?

Aber nur wenige schaffen es nach oben

Tatsächlich wächst die Menge der Inhalte unaufhörlich: Täglich werden auf Spotify 70000 neue Songs hochgeladen, auf YouTube gibt es jede Stunde 30000 neue Videos, und auch die Zahl der veröffentlichten Bücher steigt jährlich. Geld allerdings verdient mit dem Long Tail allerdings kaum einer.

Auf Spotify gehen 90 Prozent der Einnahmen an 1,4 Prozent der Interpreten. Auf dem Streaming-Portal Twitch erreichten 2021 gerade mal 2000 Streamer ein Einkommen, das so hoch ist wie ein deutsches Durchschnittseinkommen (aber 81 machen mehr als eine Million Dollar in zwei Jahren). Sogar auf der Gaming-Plattform Roblox, auf der Millionen user-kreierte Videospiele zur Auswahl stehen, spielen im Durchschnitt 20 bis 25 Prozent der Gamer dasselbe Spiel. Die Creator Economy ist also vor allem eine Economy der Megastars. Und der klassischen Kreativwirtschaft geht es mittlerweile genauso.

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Beispiel Musikbranche: Die Zahl der Künstlerinnen und Künstler, die es in die Billboard-Charts schaffen, ist in den vergangenen Jahren stetig gesunken – die Einnahmen konzentrieren sich auf einen immer kleineren Kreis. Oder der Buchmarkt: Mittlerweile ist ein Prozent der in Deutschland angebotenen Titel für fünfzig Prozent des Umsatzes verantwortlich – und die Bestseller-Listen werden dominiert von Autorinnen und Autoren, die dort schon einmal waren. Neuzugänge gibt es kaum.

Das klarste Bild zeigt sich im Kino: Es werden zwar noch jede Menge Filme gedreht, doch die meisten sieht sich kaum jemand an. An den Kinokassen sind mittlerweile 90 Prozent der 20 erfolgreichsten Filme des Jahres eine Fortsetzung, Neuverfilmung oder Teil eines etablierten Marken-Universums (meist mit Superhelden). In den Neunzigerjahren traf das nur auf 25 Prozent zu.

Eine Zeitlang schien zumindest Netflix auf neue Stoffe und Ideen zu setzen. Vor wenigen Jahren noch wollte der Dienst den Markt der kleinen Kunstfilme besetzen, doch in Zukunft wolle man sich verstärkt auf größere Produktionen setzen – das Branchenblatt »The Hollywood Reporter« fasst die Strategie mit drei Worten zusammen: „Bigger, Fewer and Better“. Abkehr vom Long Tail also.

Je mehr Inhalte es gibt, desto stärker konzentriert sich das Publikum auf den Mainstream. Wie passt das zusammen?

Die Leute lieben vertraute Überraschungen

„Die meisten Verbraucher sind gleichzeitig neophil – neugierig auf die Entdeckung von Neuem – und zutiefst neophob – voller Angst vor allem, was neu ist”, schreibt Derek Thompson in seinem Buch „Hit Makers“. „Die besten Hitmacher haben das Talent, durch die Verknüpfung von Alt und Neu, von Furcht und Begreifen Augenblicke der Sinnhaftigkeit zu erzeugen. Sie sind Architekten vertrauter Überraschungen.”

Im Jahr 2022 gibt es so viel Neues wie nie zuvor – vor allem Krisen, Kriege, Katastrophen. Da scheint es folgerichtig, dass sich viele Menschen gerade mehr auf ihre neophobe Seite besinnen.

Keine Branche hat den Wert des Vertrauten so gut verstanden wie Hollywood. Disneys Streamingdienst ist die Heimat von Star Wars, Marvel, Pixar und unzähligen Klassikern. Trotzdem ist der Preis für ein Abonnement einer der niedrigsten. Das ist Teil von Disneys Strategie: Inhalte möglichst billig und breit verfügbar machen, sodass eine neue Generation von Kindern damit aufwächst. Das Geld wird auf anderem Wege verdient: mit Merchandising, Vergnügungsparks und Kreuzfahrten.

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Der New Yorker Marketing-Professsor Scott Galloway beschreibt das Phänomen so: Hollywood sei „featurized“. Das bedeutet: Hollywood hat aufgehört, selbst die Heimat großer Konzerne zu sein, und ist stattdessen zu einem Feature geworden, mit dem die großen Digitalkonzerne den Wert ihrer Produkte und Dienste steigern wollen.

Wenn Amazon mehrere Milliarden Dollar in seine „Herr der Ringe“-Serie investieren will, Spotify schätzungsweise 200 Millionen Dollar für die Senderechte an dem Podcaster Joe Rogan ausgibt und Apple der Konkurrenz die neue unbekannte Serie von „Breaking Bad“-Schöpfer Vince Gilligan wegschnappt, dann lässt sich ein Muster erkennen: Keines dieser Unternehmen rechnet damit, dass sich sein Investment durch den Verkauf des Produkts rentiert. Stattdessen will Apple mit diesen Inhalten mehr iPhones verkaufen und Amazon mehr Prime-Abos.

Die Creator Economy funktioniert zunehmend nach dem gleichen Prinzip. Aus diesem Grund versieht Shirin David einen Eistee mit ihrem Namen. Kids, die Shirin David gerne mögen, laufen vielleicht nicht alle automatisch los, um sich den nach der Sängerin benannten Eistee zu holen, aber wenn sie im Supermarkt vor dem Regal stehen, entscheiden sie wie die meisten von uns im Kinosaal: Sie wählen das ihnen vertraute Produkt.

Dieses Geschäft funktioniert nur für wenige, sehr bekannte Creators. Kein Mikro-Influencer kann einen Deal mit einem Lebensmittelkonzern abschließen, und ein mittelgroßes Publikum, so treu es auch sein mag, reicht nicht, um eine erfolgreiche Burgerkette zu gründen, wie es Mr Beast getan hat, nachdem er als YouTuber viele Millionen Abonnenten an Land gezogen hatte. Versuche, Geschäftsmodelle der Erfolgreichen auf viele weniger Erfolgreiche zu übertragen, scheitern immer wieder. Die Crowdfunding-Plattform Patreon hat gerade 17 Prozent ihrer Angestellten entlassen, und das Startup Maven, das versucht hatte, Masterclasses von mittelgroßen Creatorn gebündelt anzubieten, hat einen radikalen Kurswechsel angekündigt.

Die Creator Economy hat keine Mittelschicht. Sie funktioniert nur für die Großen. Ist der Long Tail also gescheitert?

Jein.

Hoffnungsvolle Ansätze

Chris Andersons Text über den Long Tail wurde tatsächlich in Teilen falsch verstanden. Er prophezeite nicht den Erfolg der Inhalte-Produzenten, sondern den der Aggregatoren wie Amazon oder Google, die das unendliche Angebot nutzen, um sich selbst unverzichtbar zu machen.

Wohin führt das? Vieles spricht dafür, dass die Phase der endlosen Gegenwart, in der sich die Popkultur immer neu recycelt, noch eine Weile anhalten wird. Aber es gibt auch Gegenbewegungen:

_In Communities auf Reddit, Discord und TikTok entstehen seltsame Trends, deren Reiz gerade darin zu liegen scheint, dass sie für Außenstehende unverständlich sind.

_Auf YouTube erzielen auch Videoproduzenten mit mittelgroßem Publikum ein beachtliches Einkommen, weil sie an den Werbeeinnahmen der Plattformen partizipieren.

_Die Erotik-Abo-Plattform OnlyFans, die ihren Profit in den vergangenen Jahren vervielfacht hat, zeigt, dass sich neue Geschäftsmodelle etablieren können, wenn sie ein reales Problem lösen (zuvor gab es kaum eine etablierte, einigermaßen sichere Infrastruktur für Sexarbeit im Internet).

Der Long Tail existiert also. Denn es gibt viele Menschen, die interessanten Nischencontent erschaffen. Eine anspruchsvolle Popkultur entsteht daraus aber erst, wenn diese Menschen die Möglichkeit haben, mit ihrer Arbeit gutes Geld zu verdienen. Bis dahin gewinnen weiter nur die Großen. ---

Die nächste Folge von „Schmalzrieds Zukünfte“ erscheint am 11. November 2022, alle bisherigen finden Sie hier.