Titel: Wir rechnen mit allem. Die Kunst der Improvisation
Schwerpunkt: Improvisation
Zum Inhalt dieses Heftes schreibt Chefredakteurin Gabriele Fischer in ihrem Editorial:
Die Angst vor dem Unbekannten
• Der Tipp kam von einem Leser. Ob wir uns nicht mal mit dem Thema Improvisation beschäftigen wollten? Improvisation? Das, was unseren wie den Alltag vieler Unternehmen bestimmt? Ist das denn ein Thema? Wir legten es auf den Stapel, begannen aber, immer mal wieder in Gesprächen die Frage einfließen zu lassen, welche Rolle Improvisation in der täglichen Arbeit spielt. Und stellten fest: Das Wort hat nahezu gesprächsbeendende Wirkung. Als hätten wir Chaos-Management unterstellt, wehrte die Mehrheit der Gesprächspartner heftig ab. Improvisation? Nein! Man wisse schließlich, was man tue, man arbeite mit Strategie, Organisation, Plan. Da war uns klar: Das ist ein Thema. Nicht nur, weil unsere eigene Erfahrung gegen die intuitive Abwehr sprach: brand eins erschiene nie, verließen wir uns darauf, dass alles kommt, wie anfangs gedacht. Uns wurde bewusst, dass jene Fähigkeit, die manche als Kunst bezeichnen, hierzulande einen nachhaltig schlechten Ruf genießt – und das in Zeiten, in denen sich Bedingungen ständig ändern, in denen schnelle Reaktionsfähigkeit wichtiger ist als der Plan. Und in denen Routine schnell zur Falle wird (S. 54). Dass Fähigkeit und Begriff in Russland besser angesehen sind, könnte den Versuch der Ehrenrettung eher behindern. Und doch sei jedem, der Improvisation für Schlamperei hält, zur Lektüre empfohlen, was unser Russland-Korrespondent Stefan Scholl von Kosmonauten erfahren hat (S. 90). Auf sich gestellt, fernab von Mutter Erde, hätten die russischen Weltraumfahrer ohne Improvisation nicht überlebt. Überhaupt scheinen die Menschen außerhalb deutscher Grenzen mit dem Ausbleiben geplanter Folgen deutlich gelassener umzugehen. Die indische Eisenbahn ist dafür sicher ein Extrembeispiel (S. 134), aber auch die argentinischen Landwirte zeigen, wie sich aus unerwarteten Problemen Nutzen ziehen lässt (S. 110). Und wer dem britischen Konservativen Sir Malcolm Rifkind zuhört, der leicht indigniert, aber der Aufklärung verpflichtet, erläutert, warum Großbritannien keine schriftliche Verfassung hat und auch nicht braucht – der wird das Gefühl nicht los, dass ein wenig mehr Freiraum nicht schaden kann (S. 142). Allerdings, und vermutlich ist das eine der Ursachen für den schlechten Ruf, sollte Improvisationskunst nicht mit institutionalisierter Nachlässigkeit verwechselt werden. Improvisieren kann, wer etwas kann – Sportler sind dafür ein gutes Beispiel (S. 98), Polizisten in Extremsituationen (S. 116), Arbeiter am Londoner Flughafen Heathrow (S. 78), aber auch: die Bienen. Die haben nämlich nicht nur eine vorbildliche Organisation, sie sind auch flexibler als so mancher Mensch (S. 148). Die Suche nach deutschen Improvisationskünstlern aber gestaltete sich schwer. So locker der Italiener Massimo Baratto, Chef des Südtiroler Outdoor-Spezialisten Salewa, über Irrungen und Wirrungen des täglichen Geschäfts berichtet (S. 62), so massiv war die Abwehr, selbst im Osten Deutschlands, wo wir echte Künstler vermutet hatten. Einer hat sich dann doch noch bekannt (S. 70). Es dürfen sehr viel mehr werden.
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