Titel: Was hält dich auf?
Schwerpunkt: Freiräume
Zum Inhalt dieses Heftes schreibt Chefredakteurin Gabriele Fischer in ihrem Editorial: Der Raum zwischen den Grenzen
• Es muss gestern gewesen sein. Da bereiteten wir uns beeindruckt, beseelt und wenig besorgt auf den Jahrtausendwechsel vor. Ein neues Jahrtausend! Und wir sind dabei! Dass nicht ganz klar war, ob das auch für unsere Computer gelten würde, erwies sich als eine der vielen angekündigten und dann doch nicht eingetretenen Katastrophen. Nun sind die ersten zehn Jahre des Millenniums vorbei. Ob sie gut waren oder schlecht, ist zuallererst eine höchst persönliche Angelegenheit. Sicher, die Weltfinanzlage war schon mal besser, es gibt weiterhin Kriege und Krisen und Anlass genug, mit den Leistungen derer, die uns regieren, unzufrieden zu sein. Aber es gibt auch eine ins schier Unendliche gesteigerte Zahl an Möglichkeiten. Das glauben Sie nicht? Dann lesen Sie. Zum Beispiel die Geschichte von Fuad Abu Hamed. Aufgewachsen im Autonomiegebiet von Ostjerusalem, Palästinenser, ärmliche Verhältnisse. Was braucht es mehr, um ein Scheitern zu begründen? Doch Fuad Abu Hamed hat es nicht nur mit eigenen Kliniken zu solidem Wohlstand gebracht: Er nutzt ihn, um Grenzen zu überwinden. In den Köpfen, aber auch ganz handfest: rund um seine Heimatstadt (S. 82). Was ihm geholfen hat, ist Bildung. Ein heikles Thema, zumindest hierzulande, wo Bildung zwar als Tor zur Zukunft gilt – das allerdings aufgrund der Qualität seiner Bildungseinrichtungen allzu oft verschlossen ist. Wie viele Bildungsdebatten haben wir im vergangenen Jahrzehnt erlebt? Und dabei übersehen, dass – bei allem Verbesserungsbedarf – durchaus etwas geht, im einstigen Land der Dichter und Denker. So ist es längst möglich, verpasste Bildungschancen nachzuholen (S. 120). Auch an den Hochschulen entsteht mehr als Frustration: Jede Menge guter Ideen finden Investoren und Gründerförderer dort immer wieder. Was fehlt, ist die Risikobereitschaft. Und bisweilen ein kleiner Anstoß, der hilft, nicht nur die Grenzen zu sehen, sondern auch den Raum dazwischen (S. 22, 44, 112). Und das Geld, natürlich. Obwohl: Ist es immer das fehlende Geld, das den Möglichkeitsraum verschließt? Wäre das richtig, gäbe es nicht die zum faszinierenden Buch gewordene Diplomarbeit "Nea Machina", keinen Fielmann trotzenden Optiker in Leer, keine Krabbelschuhe statt Hartz IV, keinen Landarzt im Glück (S. 126, 88, 96, 64). Und keinen Hexal-Konzern, dessen Verkauf Thomas Strüngmann zum Milliardär gemacht hat. Was für ihn nur heißt: Nun kann er noch einige Unternehmer-Träume mehr verwirklichen als zuvor (S. 36). Ob man nun fürchtet, im Bauch eines Konzerns stecken zu bleiben, künftig seine Stromrechnung nicht mehr bezahlen zu können, in einem verschulten Studium unterzugehen oder zum alten Eisen zu gehören – es gibt Alternativen (S. 110, 30, 58, 106). Es gibt Visionen, für die es sich lohnt, nicht im Alltagseinerlei zu verharren (S. 76). Und es gibt Vorbilder, überall. Wang Kequin zum Beispiel, Journalist in China, kämpft gegen die landesübliche Zensur – und ist sich sehr wohl bewusst, dass er dabei – anders als in Russland – nicht sein Leben riskiert, nur seinen Job (S. 142). Und Angela Jansen, Opfer der unfassbaren Krankheit ALS, kann zwar nur noch ihr linkes Auge bewegen, ist aber nicht gewillt, deshalb Freiraum aufzugeben. Ihr Ziel ist es, ihr Pflegeteam selbst zu organisieren (S. 70). Und was haben Sie vor, im nächsten Jahrzehnt?
Gabriele Fischer Chefredakteurin
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