Titel: Harmonie verblödet.
Schwerpunkt: Konflikte
Zum Inhalt dieses Heftes schreibt Chefredakteurin Gabriele Fischer in ihrem Editorial:
Lasset uns streiten
• Die CSU will nun doch die Pendlerpauschale kürzen. Morgen wird die SPD Friedrich Merz um ein, na, sagen wir drei Promille bei der Steuerreform entgegenkommen. Und in ein paar Tagen werden Ulla Schmidt und Horst Seehofer in einer langen gemeinsamen Nacht den nächsten Praxisgebühr-Kompromiss ausgearbeitet haben. Halten Sie das noch aus? Deutschland quält sich durch den härtesten Veränderungsprozess der jüngeren Geschichte, es knirscht und bricht. Und auf allen Kanälen: Scheindebatten, Spiegelgefechte, Rhetorik. Oder könnten Sie spontan und in drei Sätzen sagen, was Angela Merkel und Gerhard Schröder trennt? Außer der Tatsache natürlich, dass es nur einen Kanzlerposten gibt. Andererseits: Streit kommt nicht gut in einem Land, das den Kompromiss weit vor dem Konflikt anpeilt und in dem Geräuschlosigkeit als Führungseigenschaft: gilt. Wer wie Ekkehard Wenger, Professor der Betriebswirtschaftslehre und ungern gesehener Gast auf vielen Hauptversammlungen, die Auseinandersetzung sucht, gilt schnell als Querulant (S. 64). Und auch Ronald Baummeyer, Problemloser in Afrika, wird zwar von Vorständen gern gebucht, wenn der Nord-Süd-Konflikt die eigene Firma erschüttert; vorzeigen will man ihn lieber nicht (S. 60). Mit Friedensliebe hat die Konfliktscheu wenig zu tun. Denn Frieden entsteht nicht, indem man das Trennende einfach ignoriert. Das wissen alle, bei denen es um mehr geht als um Steuerprozente oder Praxisgebühr. Jugendliche in Israel zum Beispiel (S. 96) oder in den Favelas von Rio de Janeiro (S. 88). Wie dort mit Konflikten umgegangen wird, ist ein Lehrstück für jeden Politiker und jeden Chef: Sie werden analysiert, in Einzelteile zerlegt, zum Teil gelöst, zum Teil auch nicht. Denn dort geht es nicht um Konsens um jeden Preis, es geht ums Überleben.Überall, wo sich etwas verändert, bewegt, entwickelt, gehört der Konflikt dazu. Wer ihn nicht will, bringt nichts voran. David Lange war davon schon überzeugt, als er 1984 Premierminister in Neuseeland wurde, just, als dem Schafzüchterparadies das Geld ausging (S. 78). Sein wichtigster Rat an alle Reformer: „Sichern Sie sich ab für die Zeit danach.“ Denn wer echte Veränderung wolle, müsse bereit sein, sich politisch das Genick zu brechen. Und: sich Feinde zu machen, beispielsweise die Anhänger von Attac. Für die Globalisierungsgegner sind Neoliberale wie David Lange das personifizierte Böse, ebenso schlimm wie Konzerne und der Markt. Konfliktscheu kann man der streitbaren Bewegung sicher nicht vorwerfen. Aber ob sie konfliktfähig sind? Lesen Sie selbst (S. 74). Mit Konflikten zu wachsen ist kein leichtes Geschäft, die israelische School for Peace könnte auch hier zu Lande nicht schaden. Aber vielleicht hilft fürs Erste ein neuer Spaß am Streit; Freuen Sie sich über Meinungsverschiedenheiten. Gönnen Sie sich das Recht auf Empörung. Und sagen Sie ruhig laut, was Sie denken. Die Friedhofsruhe kommt früh genug.
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