Titel: „Ist der Abstand so gut?“
Schwerpunkt: Nähe und Distanz
Zum Inhalt dieses Heftes schreibt Chefredakteurin Gabriele Fischer:
Komm schon, Herr MĂĽller
• Ich duze schnell, das war schon immer so. Ich komme aus Baden, und dort verschwimmen die Formen. Sie und Du werden oft gleichzeitig benutzt, ohne dass dadurch ein Abstand -verringert oder Nähe vorgetäuscht wird. Es ist ein bisschen wie das Du in bestimmten Berufsgruppen oder unter Tage: Es signalisiert Zusammengehörigkeit, im Ganzen, nicht von Person zu Person.
Inzwischen scheint Baden überall zu sein. Ob im Coffeeshop oder im Konzern: Wer sich jung und modern geben will, überwindet das Sie – und sagt damit nichts. Mit Nähe jedenfalls hat es nichts zu tun, wenn der Vorstand geduzt werden will oder Marketingbotschaften im Kumpelton überbracht werden. Im Gegenteil: Weil es einseitige Angebote sind, die man schwer ablehnen kann, erhöhen sie die Distanz (S. 48, 56).
Wie aber lässt sich jene Nähe schaffen, die Zusammenarbeit erleichtert und ein Zusammen- leben erst möglich macht? Vertrauen ist auch hier der Anfang von allem. Und die Bereitschaft, den anderen zu achten, nicht zuletzt in seinem Bedürfnis nach Distanz.
Ein Ort, an dem das gelernt und beobachtet werden kann, sind die SOS-Kinderdörfer. Kinder mit traumatischen Erfahrungen, Eltern im Angestelltenverhältnis, die für sechs Kinder verantwortlich sind. Wie das funktionieren kann? „Die Kunst ist, da zu sein, empathisch zu sein, verlässlich im Kontakt zu bleiben, aber Ablehnung möglichst nicht persönlich zu nehmen“, sagt die Psychologin Kristin Teuber (S. 68).
Das ist harte Arbeit, selbst wenn man eine richtige Familie ist. Die Brüder Johannes und Michael Siebers, die gemeinsam die Ferienhausvermittlung Holidu aufgebaut haben, justieren ihre Beziehung immer wieder neu, um den richtigen Abstand zu wahren. Und auch die vier Zünkeler-Geschwister halten zusammen wie Pech und Schwefel – auch weil sie sich bei aller Freundschaft nicht durch zu viel Nähe auf die Nerven gehen (S. 132, 112).
Familie kann zu mehr Nähe verhelfen, aber sie ist kein Garant dafür. Wer wie unser Autor Andreas Molitor zufällig von den Verbrechen des Großvaters erfährt, muss mit den Taten des nahen Verwandten leben lernen. Und entscheiden, ob er durch ihre Veröffentlichung die Familie sprengt (S. 120).
Hilfreicher als aufgezwungene Kumpelei oder klebrige Familienbilder ist das Bemühen, dem Verhältnis von Nähe und Distanz mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Vergrößert die Distanzlosigkeit in sozialen Medien nicht in Wahrheit den Abstand? Sind Geschäfte unter Freunden ein genialer Marketingtrick oder eine Gefahr? Und warum stößt die Sharing Economy an ihre Grenzen, wenn der andere zu nahe ist (S. 96, 90, 64)?
Bei der Suche nach dem richtigen Abstand hilft der Blick über die Grenzen. Oder ein Gespräch mit dem Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani, der die allerorten aufbrechenden Konflikte als gutes Zeichen sieht: „Wir kommen uns näher, und gerade deswegen gibt es Zoff.“ Wer den anderen ernst nimmt, setzt sich mit ihm auseinander. Harmonie ist weder in der Gesellschaft noch in der Firma ein erstrebenswertes Ziel (S. 62, 82, 106, 130, 74).
Badener können übrigens ganz wunderbar streiten, zum Beispiel wenn man sie Badenser nennt.
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