Editorial

Was ist schon groß?

• Eigentlich wollten wir „Mehr Mut zum Größenwahn!“ auf den Titel schreiben. Aber „GROSS DENKEN “ sah besser aus, und Größenwahn könnte leicht missverstanden werden. Schließlich soll es in dieser Ausgabe nicht um Wahnsinnige gehen, sondern um Menschen, die sich etwas trauen, auch wenn es anfangs zu groß erscheint.

Foto: André Hemstedt & Tine Reimer


Die Textilindustrie zu zwingen, in den Produktionsländern ordentliche Arbeitsbedingungen zu garantieren, war zweifellos groß gedacht, zu groß, fürchtet die Aktivistin Ineke Zeldenrust heute. Auch wenn die Clean Clothes Campaign viel erreicht hat, ist sie noch lange nicht am Ziel. Aber deshalb gar nicht erst anfangen? Auch Stephan Wrage hatte sich die Sache einfacher vorgestellt: Mit Drachensegeln wollte er die Schifffahrt revolutionieren, 2016 war er insolvent. Aber deshalb aufgeben? Und Uwe Böhme? Der hat als Einziger an seine Idee geglaubt. Wer traute schon dem Manager einer DDR-Tanzmusik-Formation nach dem Mauerfall die Gründung einer Fluggesellschaft zu? Sein Plan ging auf. Manches kann eben gar nicht ambitioniert oder verrückt genug sein (S. 58, 84, 100).

Das könnte die ermutigen, die sich vorgenommen haben, Desertec wiederzubeleben. Erinnern Sie sich? Jene Mega-Solaranlage in der Wüste, die ganz Deutschland mit Strom versorgen sollte? Das Projekt scheiterte damals krachend, nun wird es unter Zugabe einer ordentlichen Portion Wasserstoff-Optimismus und mit viel Geld von arabischen und nordafrikanischen Investoren neu gestartet. Dabeigeblieben ist der Vater der Idee, Paul van Son, inzwischen 68, der diesmal nicht weniger groß, aber in kleineren Schritten plant (S. 50).

Geduld und Frustrationstoleranz sind zweifellos die wichtigesten Verbündeten großer Ideen. Das wissen die Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens, die seit Jahrzehnten für eine überfällige Reform unseres Sozialsystems kämpfen, das noch immer den Gesetzen der Industriegesellschaft folgt, und denen der liberale Ökonom Thomas Straubhaar nun neue Argumente liefert. Und das weiß auch Frank Bourassa, dem eine der spektakulärsten Geldfälschungen überhaupt gelang. Seine ganz und gar unglaubliche Geschichte hat der in Kanada lebende Ex-Unternehmer unserem Autor Holger Fröhlich in einem nächtlichen Videotelefonat zwischen zwei und sechs Uhr morgens erzählt. Eine große Idee? Zweifellos. Wenn auch sehr nah am Größenwahn (S. 86, 104).

Die Grenzen sind bisweilen fließend, nicht nur bei den Narzissten an der Unternehmensspitze, die spätestens seit Jeff Bezos, Elon Musk oder Steve Jobs wohlgelitten sind. Aber wer traute sich ohne eine kleine Portion Wahnsinn zu, eine Provinz-Universität zu einem global tätigen Unternehmen umzubauen? Oder sein Leben dem Quantencomputer zu widmen (S. 90, 102, 68, 96)?

Wer groß denkt, sollte nicht mit frühem Beifall rechnen, eher mit Abgrenzung oder gar Spott. Aber wer durchhält, hat die Chance, Großes zu schaffen, für uns alle.

Wir brauchen mehr Mut zum Größenwahn. ---