Editorial

Das gewisse Etwas

• Abenteuer sind Vorhaben mit ungewissem Ausgang, und davon haben wir in diesen Zeiten mehr als genug. Einkaufen, das Büro aufsuchen, die Kinder im vollen Bus zur Schule fahren lassen: alles gefährlich. Aber noch kein Abenteuer – dazu gehört der bewusste und freiwillige Entschluss, etwas zu riskieren, um voranzukommen.

Foto: André Hemstedt & Tine Reimer


Denn nein, das vergangene Jahr mit all seinen schmerzlichen Lektionen sollte uns nicht entmutigen: Wir wollen mehr als Home Office und Überlebensstrategien für die S-Bahn – wie wäre es zum Beispiel mit einem Bauernhof? Viele Menschen zieht es derzeit aufs Land, Bärbel Lorenz und Raphael Mühlegger haben schon vor drei Jahren ihre Jobs aufgegeben und sind ins niedersächsische Winnigstedt aufgebrochen. Gelockt hat sie ein Landwirt, der seinen Bauernhof verschenken wollte, gehalten hat sie der Reiz, etwas ganz Neues anzufangen, gelernt haben sie … viel (S. 100).

Lernen, Erfahrung sammeln und dadurch stärker werden – das ist für alle, die sich auf -Abenteuer einlassen, der Lohn des Wagnisses. Doch auch wenn so manche Fiction-Figur die Lust am Risiko propagiert: Vom Hasardeur unterscheidet den Abenteurer, dass er sich nicht blind ins Ungewisse stürzt, sondern zu kalkulieren versucht, was passieren kann. Das gilt für den Wagnisforscher Siegbert Warwitz ebenso wie für den Investor Lukasz Gadowski, der sich neuerdings für kleine Atomkraftwerke interessiert. Überhaupt sind die Abenteuer, von denen
in dieser Ausgabe die Rede ist, eher von der besonnenen Sorte, etwa wenn sich eine junge Anwältin entschließt, in den geschlossenen Männerkreis der Insolvenzverwalter einzudringen oder ein Klinikdirektor sein Krankenhaus digitalisieren will (S. 58, 72, 86, 92).

Der Blick über die Grenzen allerdings zeigt: andere Länder, andere Abenteuer, andere -Gefahren. Im Iran zum Beispiel ist es schon ein Wagnis, Musik zu spielen, die dem Regime missfällt – der Hamburger Matthias Koch fand an den Musikern und ihren Stücken so viel Gefallen, dass er eigens ein Label für Musik aus dem Iran gegründet hat. Und auch in Argentinien, China, Südafrika oder Russland ist riskant, was hierzulande Alltag ist – Geld wechseln zum Beispiel, Wein anbauen oder Auto fahren (S. 64, 56, 70, 78, 90).

Wer sich nicht aufhalten lässt, gerät schnell auf unbekanntes Terrain. So hätte sich Dietrich Stein nicht träumen lassen, dass seine so plausibel erscheinende Idee, den Lieferverkehr in unterirdische Rohrpostsysteme zu verlegen, erst nach 20 Jahren mit neuen Spielern zumindest in die Nähe der Realisierung kommt. Tijen Onaran hatte wohl nicht geahnt, wie stark der -Gegenwind ist, wenn man für die Sichtbarkeit von Frauen kämpft. Und die drei Gastwirte auf unserem Titelbild wollten sicher nicht Kopf und Kragen riskieren, als sie kurz vor Corona -zusätzlich zu ihrem Restaurant eine Bar übernahmen (S. 50, 36, 44).

Abenteuer sind überall. Und die meisten Menschen lieben sie, von Kindheit an. Das erklärt den Erfolg der Buch- und Hörspielreihe „Die drei ???“, die ganz ohne Mord und Sex auskommt und inzwischen eine beliebte Einschlafhilfe für Erwachsene ist. Man weiß eben nie, wohin das Abenteuer führt (S. 116).

Wie könnte man besser in das Jahr nach Corona starten, als mit der Ermutigung, sich gerade deshalb darauf einzulassen? --