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Wie wird Deutschland ein migrationsfreundliches Land?

Eine realistische Utopie.




Zahl der unbesetzten Stellen in Deutschland, Ende 2022, in Millionen 1,98
Geschätzte Zahl der zusätzlichen Fachkräfte, die wegen des demografischen Wandels bis 2035 benötigt werden, in Millionen 7

Wir brauchen Zuwanderung

Die Zahl der unbesetzten Stellen hat in Deutschland einen Rekordwert erreicht, zudem meldet jeder zweite Betrieb freie Ausbildungsplätze. Inzwischen werden in fast allen Branchen Leute gesucht. Die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) kündigte Mitte November an, ihren Busfahrplan drastisch zu reduzieren – es fehlten Hunderte Fahrer.

Die Kultusministerkonferenz teilte kürzlich mit, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler bis 2035 auf zwölf Millionen anwachsen werde – 300.000 Kinder mehr, als im vergangenen Jahr prognostiziert. Eigentlich eine gute Nachricht angesichts der Überalterung der Gesellschaft. Nur wer soll all die Kinder unterrichten? Schon jetzt fehlen mehr als 12.300 Lehrerinnen und Lehrer.

Das Problem wird sich noch verschärfen, wenn bis Mitte des kommenden Jahrzehnts 30 Prozent der Arbeitskräfte in den Ruhestand gehen.

Darum brauchen wir dringend ausländische Fachkräfte. Laut Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rund 18 Millionen bis 2035 – also 1,5 Millionen Migranten pro Jahr. Bringen sie Angehörige mit, werden es noch mehr sein. Warum sagt das niemand so ehrlich?

Manche argumentieren, der Mangel ließe sich mit heimischen Kräften beheben. Langzeitarbeitslose sollten in den Arbeitsmarkt integriert und Frauen weniger in Teilzeit arbeiten. Doch nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes sind bereits 92 Prozent der Männer und 83 Prozent der Frauen zwischen 25 und 59 Jahren erwerbstätig.

Wir brauchen also Zuwanderung, aber es gibt bereits einen internationalen Wettbewerb um Fachkräfte. Neben den klassischen Einwanderungsländern des Globalen Nordens wie den USA, Kanada, Australien und Großbritannien, beteiligen sich daran die sogenannten BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Seit Kurzem gehören auch Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Äthiopien und Argentinien zu der Gruppe, die eine globale Weltmacht werden will. Diese wird ebenfalls mit Europa um migrantische Fachkräfte konkurrieren.

Die meisten Arbeitskräfte aus Südostasien fischen die BRICS-Staaten bereits ab – obwohl diverse Ministerien dort auch gern Pflegekräfte für Deutschland gewinnen würden. Migrantinnen und Migranten werden im kommenden Jahrzehnt zu einer noch umkämpfteren Ressource werden. Und in Deutschland wird ein Wandel der Migrations- und Integrationspolitik nötig sein, wenn das Land auch etwas von diesem „migrantischen Gold“ haben möchte.

Die verkehrte Debatte

Erst einmal ist eine rationale und bedarfsorientierte Debatte nötig. Der in Europa durch rechtspopulistische Parteien befeuerte, fremdenfeindliche Diskurs setzt etablierte Parteien zunehmend unter Druck, diesen Ton zu übernehmen. Der SPD-Kanzler fordert Abschiebungen in nie gekanntem Maße, die CDU überbietet sich in Polemik bis hin zu Gewaltandrohungen gegen Flüchtende an der Grenze. Die Grünen entfernen sich immer weiter von ihren Ursprüngen und wollen mit einem Fünf-Punkte-Plan Ordnung in die Migrationspolitik bringen. Die FDP hatte noch nie eine klare Haltung zur Migrationsfrage und versucht nun, mit Leistungskürzungen für Geflüchtete Punkte zu machen. Damit wird suggeriert, dass die Menschen die Strapazen der Flucht wegen der Aussicht auf Sozialleistungen auf sich nähmen.

Das ist unglaubwürdig. Denn wieso sind die USA dann das mit Abstand beliebteste Einwanderungsland, obwohl es dort kaum soziale Sicherungssysteme gibt?

In diesem feindseligen Diskurs verschwimmt zunehmend die Abgrenzung zwischen Asyl, Flucht und Migration. Grenzschließungen, Abschiebungen, Obergrenzen – das soll sich zwar gegen Geflüchtete und irreguläre Zuwanderung richten. In Wahrheit verprellt diese Rhetorik aber auch die seit Generationen hier lebenden Migranten und ihre Familien, sowie jene, die eigentlich als Fachkräfte einwandern sollen.

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