Gesundheitssysteme

Gesundheitssysteme zu vergleichen, ist gar nicht so einfach. Und das perfekte gibt es wohl nirgends. Aber es gibt viele gute Beispiele, an denen sich die Verantwortlichen hierzulande orientieren könnten. Ein Überblick.





• Machen es die anderen nur anders oder auch besser? Diese Frage treibt den Gesundheitsexperten Michael Müller von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und Professor Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin um. Müller hat jüngst das Gesundheitswesen der 38 OECD-Staaten verglichen. Die drei wichtigsten Parameter: Zugang, Qualität, Mitteleinsatz. Deutschland liegt da meist nur im Mittelfeld und damit deutlich schlechter, als viele meinen – dazu später mehr.

Solche Vergleiche sind nach Meinung von Reinhard Busse die Voraussetzung für informierte Entscheidungen der Politik. Notwendig sei die Bereitschaft für eine offene und kritische Reflexion, das falle den Verantwortlichen in Deutschland besonders schwer. Oder wie Busse sagt: „Viele Politiker tun so, als ob alles in bester Ordnung wäre. Dass wir ein Problem haben, kommt vielen gar nicht in den Sinn.“

Was die Bundesrepublik schlecht abschneiden lässt, ist ein eklatantes Missverhältnis zwischen Input und Output. Für das, was ins Gesundheitswesen hineingesteckt wird, kommt am Ende viel zu wenig heraus.

Wer es besser macht?

Laut Reinhard Busse und Michael Müller gibt es nicht das eine überlegene System, sondern viele gute einzelne Lösungen, die wir uns abschauen könnten. Es gehe darum, die Rosinen in jedem Kuchen zu finden. Voraussetzung dafür sei die besagte kritische Reflexion – die uns beispielsweise Belgien sehr gut vormache. Dort ist es üblich, dass vor jeder Wahl das Gesundheitssystem umfangreich evaluiert wird, damit die nächste Regierung weiß, wo etwas zu tun ist.

1 – Zugang

Hier belegt Deutschland stets vordere Plätze. Rein kommt man leicht. Patientinnen und Patienten bekommen sogar schneller und leichter Termine als in Vorzeigenationen wie Schweden oder den Niederlanden. Aber, auch das zeigt sich, die Wartezeit hat nicht unbedingt etwas mit der Qualität der anschließenden Behandlung zu tun.

2 – Qualität

Hier liegt Deutschland auf einen Platz im unteren Mittelfeld. Busse ermittelt das anhand statistischer Größen wie der medizinisch beeinflussbaren Sterblichkeit, etwa der Zahl der Patienten mit Herzinfarkt, die im Krankenhaus sterben. „Wir fragen außerdem, wie gut sich Patienten von Ärzten verstanden und in Entscheidungen einbezogen fühlen“ – auch hier liegt die Bundesrepublik laut Busse im Mittelfeld.

3 – Mitteleinsatz

Beim Verhältnis von Kosten und Nutzen sieht Michael Müller hierzulande die größten Defizite. Unsere Ausgaben im Gesundheitssystem sind die zweithöchsten der Welt – nur leider erreichen wir damit häufig nur mittelmäßige Ergebnisse.

Auch hier wäre eine nüchterne Kosten-Nutzen-Analyse hilfreich, wenn etwa aus den Bundesländern wieder die Rufe nach mehr Geld für die Krankenhäuser laut werden. Zwei Drittel der hiesigen Kliniken bezeichneten ihre finanzielle Lage im dritten Quartal 2023 als schlecht oder sehr schlecht. Das hiesige System scheint wie ein Fass ohne Boden, oben kommt viel rein, aber irgendwo gibt es wohl ein ziemliches Leck.

Was lernen wir aus dem Vergleich mit anderen Ländern? Laut Busse vor allem dies: „Bei uns werden zu viele Patienten in die Betten gelegt. Das bindet Personal und treibt die Kosten.“ In Skandinavien oder den Niederlanden werden weit weniger Menschen stationär aufgenommen. Warum?

Weil die Krankenhäuser dort, laut Busse, mit dem medizinischen Fortschritt gleichzeitig weiterentwickelt wurden. In Deutschland sind die Spitale vielfach veraltet, wer sie betritt, landet in der Vergangenheit. Einer Zeit, als man bei Schlaganfall oder Herzinfarkten kaum mehr machen konnte als die Patienten ins Bett zu legen und abzuwarten. Noch dazu oftmals in gänzlich ungeeigneten Kliniken, etwa ohne modernes Katheterlabor. In der Onkologie ist es ähnlich: 50 Prozent der Krebspatienten in Deutschland liegen laut Busse in Kliniken ohne Krebszentrum.

Länder wie Schweden oder die Niederlande ticken da anders. Dort erhalten die Patienten spätestens eine Stunde nach dem Herzinfarkt eine Katheteruntersuchung, bei der auch gleich die Engstelle gelöst wird.

Vergleiche wie diese helfen der Politik zu erkennen, was verbessert werden kann. „Einige Bereiche aber können wir nur eingeschränkt abbilden, zum Beispiel regionale Unterschiede in einem Land. Die sind teilweise beträchtlich“, sagt Michael Müller. Zudem spielen bei der Gesundheit viele Faktoren mit, etwa das Rauchen. Bis 2025 soll Neuseeland eine tabakfreie Gesellschaft werden. Der Staat erhofft sich unter anderem auch, dass die Ausgaben für rauchbedingte Krankheiten gesenkt werden.

Auch die Ausstattung der Rettungsdienste spielt eine Rolle. Für den OECD-Indikator „30-Tage-Mortalität nach Herzinfarkt im aufnehmenden Krankenhaus“ werden zum Beispiel Todesfälle, die sich nach einem Herzinfarkt im Rettungswagen ereignen, nicht einbezogen. Ein besonders guter Rettungsdienst kann dazu führen, dass viele schwere Fälle noch das Krankenhaus erreichen, dann aber dort versterben – und damit in der Statistik schlechter abschneiden.

So unterschiedlich die nationalen Gesundheitssysteme im Detail sind, beim Blick auf das große Ganze stellt sich eine grundlegende Frage: Sollen Patienten lieber schnellstmöglich ins Krankenhaus kommen oder dort bestmöglich behandelt werden?

Dänemark
Weniger ist mehr

Diese Frage hat man in Dänemark Anfang der 2000er-Jahre konsequent beantwortet. Bis dahin waren Krankenhäuser dort der Verantwortung der 14 Kreise unterstellt. Das System ähnelte dem deutschen, jeder Kreis besaß mindestens ein Krankenhaus, kurze Wege also – aber zu Lasten der Qualität.

Unser nördlicher Nachbar hat die Krankenhausreform zusammen mit einer Gebietsreform und einem Umbau des Sozialstaatssystems umgesetzt: 2007 wurden die bevölkerungsarmen Kreise in fünf sogenannte Regionen mit einer durchschnittlichen Population von gut einer Million Menschen zusammengefasst. Diese Regionen waren fortan auch für die Krankenhäuser zuständig.

Statt vieler kleiner entstanden wenige große, gut ausgestattete Häuser. Statt 20 Minuten fährt der Notarzt nun vielleicht doppelt so lange, bringt die Patienten aber stets in Kliniken mit modernster Ausstattung. Dank der elektronischen Patientenakte werden bereits auf der Fahrt alle wichtigen Daten übermittelt – ein Beispiel für den internationalen Trend, sich weniger auf den Zugang als auf die Qualität zu konzentrieren. „Finnland und die Niederlande machen das genauso, Dänemark hat sich das abgeschaut und vielleicht den innovativsten Veränderungsprozess umgesetzt“, sagt Busse.

Die Planung der Krankenhäuser stimmen die Regionen mit der Gesundheitsbehörde ab. Dazu kommt die hochspezialisierte Versorgung in ein bis drei überregionalen Kliniken, sogenannte Superkrankenhäuser, von denen bis 2025 neun Häuser grundlegend saniert und sieben weitere neu gebaut werden. Insgesamt soll es 2026 nur noch 53 Krankenhäuser geben – 2007 waren es noch 79.

Die nicht mehr benötigten Krankenhäuser erwiesen dem Land noch einen letzten guten Dienst: Der Verkauf dieser Grundstücke soll mehr als ein Zehntel der Kosten der Reform decken, insgesamt ist eine Investitionssumme von 6,5 Milliarden Euro veranschlagt – das entspricht mehr als 1.000 Euro pro Einwohnerin und Einwohner. Mehr als die Hälfte der Kosten kommt aus nationalen Fördermitteln, knapp ein Drittel aus den Regionalbudgets. Diese erhalten die Regionen nur, wenn sie sich zur Schließung ihrer kleinen Häuser bereiterklären.

Zum Vergleich: Für die derzeit in Deutschland geplante Krankenhausreform werden derzeit Kosten von etwa 50 Milliarden Euro diskutiert – circa 600 Euro pro Einwohner.

Skandinavien
Fortgeschrittene in der Pflege

Alle skandinavischen Gesundheitssysteme funktionieren nach dem Grundsatz Qualität vor Zugang. Das hilft auch bei einer anderen kritischen Größe: dem Personal. Das lässt sich in großen Häusern besser auslasten. Aber es geht noch weiter: Im Gegensatz zur chronisch überlasteten Ärzteschaft in Deutschland, ist den Ärzten und Ärztinnen in Nordeuropa etwas gelungen, womit man sich hierzulande noch immer schwertut: Sie geben Kompetenzen ab. Und schaffen sich so Freiräume – das funktioniert, weil in Skandinavien die Pflegeberufe konsequent aufgewertet werden.

Im sogenannten Advanced Practise Nursing arbeiten Krankenschwestern oder Pfleger mit Hochschulabschluss und besonderer Ausbildung. Sie dürfen auch Tätigkeiten übernehmen, die sonst Ärzten vorbehalten sind. Das reicht vom Verschreiben der Medikamente bis zu einfachen therapeutischen und diagnostischen Arbeiten. Die Berufe werden dadurch inhaltlich wie finanziell attraktiver. Diese hochqualifizierten Kräfte verdienen bis zu doppelt so viel wie gewöhnliche Krankenschwestern und Pfleger. Das System dankts.

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